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KÄMPFE IN CHINA.
KÄMPFE IN CHINA
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KÄMPFE IX CHINA.
KÄMPFE IN CHINA.
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EINE DARSTELLUNG
DER
WIRREN UND DER BETHEILIGUNG VON ÖSTERREICH-
UNGARNS SEEMACHT AN IHRER NIEDER-
WERFUNG
IN DEN
JAHREN 1900—1901
VON
Theodor ritter von Winterhalder
K. UND K. LINIENSCHIFFS -L^UTENANT.
MIT 118 ABBILDUNGEN, 26 CROQUIS UND S KARTEN.
WIEN UND BUDAPEST.
A. HARTLEBEN'S VERLAG.
1902.
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SAMMTLICHE RECHTE,
NAMENTLICH JENES DER ÜBERSETZUNG IN FREMDE SPRACHEN VORBEHALTEN.
DRUCK VON CHRISTOP» RE1SSER»S SÖHNE IN WIEN.
VORWORT.
Die vorliegende Darstellung bezweckt eine Schilderung der
Theilnahme von Oesterreich Ungarns Seemacht an der Bekämpfung
der in der Geschichte einzig dastehenden, den Grundbegriffen
der Gesittung hohnsprechenden Zustände, welche die übel be-
rathenen Machthaber des Reiches der Mitte im Sommer 1900
freventlich heraufbeschworen haben. Aus ihr sollen alle Kreise
der Monarchie zu erfahren Gelegenheit haben, wie sich die Dinge
entwickelt haben und in welcher Weise sich Oesterreich-Ungarn
an der Niederwerfung des Aufstandes gegen die Träger abend-
ländischer Cultur betheiligt hat, wie es, trotz allen Fernhaltens
von einer Eroberungspolitik, als Grossmacht für das schwer ver-
letzte Völkerrecht eingeschritten ist und wie sein starker Arm
auch in so entlegener Weite kräftig mitgeholfen hat zu einem Er-
folge, der jugendlicher und gereifter Thatkraft eine Bahn zu freier,
nützlicher Bethätigung wieder eröffnet hat.
Das Buch zerfällt in zwei, nach Anlage und Durchführung
verschiedene Theile.
Der erste behandelt den Zeitraum vom Ausbruch der Wirren
bis zu jener Phase, wo die Fremden aus der stricten Nothwehr
heraustraten, um Sühnung zu erzwingen; in den zugehörigen Ab-
schnitten, welche von den Geschehnissen in der Periode der inten-
sivsten Spannung bei allen civilisirten Nationen sprechen, sind die
gesammten militärischen Operationen aller betheiligten Mächte
skizzirt und wird auch der chinesischen Politik und der Gegen-
Züge der schwer bedrohten diplomatischen Vertreter in Peking
ausführlicher gedacht. Dieser erste Theil, in dem der Verfasser
auch Anlass nimmt, die Lücken, Irrthümer und Unrichtigkeiten
einiger fremdländischer Berichte hinsichtlich der Oesterreicher-
Ungarn in China zu beseitigen, konnte, weil sich die Ereignisse
auf einem kleineren, leichter zu überblickenden Räume abspielten,
mit so vielen Details ausgestattet werden, dass er vielleicht als
ein bescheidener Beitrag zur grossen Kriegs- und Weltgeschichte
gelten darf; wieso im Besonderen gerade das Capitel über Peking
zu einem auffälligen Umfang angewachsen ist, wird sich der Leser
leicht erklären können. Der Schreiber bittet aber ausdrücklich —
und namentlich seine verdienstvolleren Kameraden — hinter dieser
Breite nicht den miles gloriosus suchen zu wollen.
Der zweite Theil musste sich wegen der Ausdehnung der
Operationen der Verbündeten auf ein grösseres Feld, an denen
die aufgebotenen Kräfte Oesterreich-Ungarns trotz aller Energie
ihres Führers einfach ihrer kleinen Zahl wegen nicht mehr überall
theilnehmen konnten, darauf beschränken, die Thätigkeit der ersten,
unter dem Befehle Contre-Admirals Rudolf Graf Montecuccoli nach
Ostasien entsendeten k. und k. Escadre und der von ihr gelandeten
Matrosen-Detachements näher darzustellen, hingegen die weiteren
militärischen Unternehmungen und die schwierigen, diplomatischen
Verhandlungen nur in ihren wesentlichsten Umrissen zu ent-
werfen.
Als Quellen sind die gesammten officiellen inländischen Be-
richte, Sammlungen diplomatischer Documente mehrerer fremder
Nationen, Tagebücher und Relationen deutscher, englischer, fran-
zösischer, italienischer, japanischer und auch russischer Officiere
und Aufzeichnungen so mancher Kameraden und Freunde aus
jener denkwürdigen Zeit benützt worden ; die persönlichen Erinner-
ungen des Erzählers mögen für einiges Subjective verantwortlich
gemacht werden!
Für die freundlichst gewährte Unterstützung durch Ueber-
lassung von photographischen Original- Aufnahmen spricht er den
Herren: Viceconsul Silvestri, Linienschiffs-Fähnrich Roman Juno-
wicz, Seecadet I. Classe Ernst Petri, Fregattenarzt Dr. Werbenec,
Corvettenarzt Dr. Korenöan, M^decin major Dr. Jean Matignon,
Arzt der franzosischen Legation in Peking, und L6on Bartholin
seinen allerwärmsten Dank aus.
Dieselbe Pflicht erfüllt der Verfasser mit Freude gegenüber
der franzosischen Kriegsverwaltung, die ihm auf Verwendung des
hiesigen Militär- Attaches Marquis La Guiche beim Chef des General-
stabes, General Pendezec, in zuvorkommendster Weise eine vor-
treffliche Karte des Kriegsschauplatzes zur Verfügung stellte.
Das k. und k. militär-geographische Institut hat, durch drin-
gende Arbeiten überhäuft, die Herstellung einer Karte nicht über-
nehmen können, aber die Croquis in der bekannten unübertreff-
lichen Vollendung hergestellt, wofür ihm der verbindlichste Dank
abgestattet sei.
Der rührige, erfahrene Verleger endlich möge den Dank für
seine Mühe und manch glücklichen Wink entgegennehmen!
Niemand ist sich darüber klarer als der Schreiber dieser
Zeilen, dass das Buch nur zu deutlich die Merkmale eines Erstlings-
werkes trägt, das noch dazu in der knappen Zeit von nicht ganz
sechs Monaten entstanden ist, weil es eben noch zur zweiten
Jahreswende des Ausbruches der Wirren zurechtkommen sollte.
Der Mängel ungeachtet möge wenigstens die gute Absicht
des Werkes durchdringen, dass es dazu beitrage, die Aufmerk-
samkeit unserer Landsleute in erhöhtem Masse auf den fernen
Osten zu lenken und zur Betheiligung an dem reichlich lohnenden
Werk der Erschliessung Chinas zu ermuntern!
Und ein guter Antheil an dem wieder sprudelnden Quell von
Wohlstand und Reichthum gebührt auch den gesundkräftigen
Völkern Oesterreich-Ungarns, nun schon gar, seitdem Söhne von
ihnen dort im Kampfe für ideelle Güter gefallen sind!
Wien, 7. Mai 1902.
DER VERFASSER.
INHALT.
Seite
Vor^'ort des Verfassers V
I. THEIL.
I. Capitel.
Die Provinz Petschili. — Die fremdenfeindliche Bewegung in China und deren
Förderer. — Stationirung S. M. Schiffes »Zenta« in Ostasien und seine Ent-
sendung nach Taku. — Ausschiffung des ersten Schutzdetachements zur k. und k.
Gesandtschaft in Peking. — Eindrücke bei der Uebcrschreitung der Peiho-
Mündung, während der "Bahnfahrt und beim Eintreffen in Peking. — Die Bahn-
verbindung abgeschnitten. — Ausschiffung eines Detachements nach Tientsin 1
II. Capitel.
S. M. Schiff «Zenta« mit der internationalen Flotte auf der Taku-l<,hede. — Be-
theiligung an der Einnahme der Taku-Forts. — Entwicklung der Ereignisse. —
Was man auf der Rhedc erfuhr. — Thätigkeit der Admirale und selbstständigen
Schiffscommandanten. — Eintreffen S. M. Schiffes »Kaiserin und Konigin Maria
Theresia« .... 58
III. Capitel.
D.1S österreichisch-ungarische Detachement in Tientsin. — Betheiligung an der
Seymour-Expedition. — Kämpfe in und um Tientsin. — Erstürmung der City. —
Provisorische Regierung in Tientsin. — Vorbereitungen zum Vormarsch auf
Peking. — Gefecht bei Peitsang 107
IV. Capitel.
In Peking. — Schlimme Anzeichen. — Erste Bekanntschaft mit Boxern. —
Ultimatum der Chinesen, Exodus beschlossen . — Ermordung des deutschen Gesandten,
Abschied von der österreichisch -ungarischen Legation, die Fremden bleiben. — Offene
Feindseligkeiten. — Warum die Gesandtschaft geräumt wurde. — Verlauf der
Kämpfe. — Fregatten - Capitän von Thomann gefallen. — Höhepunkt der
Gefahr. — Uebcrraschungen und Aufrichtigkeit der Chinesen. — Fühlung mit
auswärts. — Entsatz. — Flucht des Hofes, letzte Kämpfe in Peking. — Situation
im Peitang. — Einiges über den Vormarsch der Verbündeten. — Demonstrativer
Durchmarsch durch ,die verbotene Stadt. — Ablösung 184
b
V. Capitel.
Begebenheiten auf der Taku-RheJe seit dem Eintreffen S. M. Schiffes »Kaiserin und
Königin Maria Theresia«. — Vorbereitungen für die nachfolgenden k. und k.
Kriegsschiffe. — Theilnahme des Tientsiner Detachements an einem Gefecht gegen
Boxer, — Was richtige Marineleute auch können müssen. — Errichtung von
Etapcn zwischen Tientsin und Peking. — Vorgänge in Peking bis zur Ver-
stärkung des Detachements Wickerhauser . , 444
IL THE IL.
VI. Capitel.
Entsendung S. M. Schiffe »Kaiserin Elisabeth« und »Aspem«, Formirung der
ersten k. und k. Escadre in Ostasien unter Contre-Admiral Rudolf Graf
Montecuccoli. — Situation beim Eintreffen in Nordchina. — Landung eines
weiteren Detachements. — Li-hung-tschang's Ankunft. — Betheiligung an der
Einnahme der Peitang-Forts. — Eintreffen des Armee-Obercommandanten. —
Besetzung von Shanhaikuan. — Veränderung der Lage. — Chinesische Buss-
edicte. — Ankunft des k. und k. Gesandten 4Ö9
VII. Capitel.
Fernere Gestaltung der Lage in Tschili. — Vorbereitungen für die Ucberwinte-
rung. — Einfluss des Armee-Obercommandos. — Expeditionen und Streifzüge. —
Tsau-lin-tsun, Kaigan, Kwansch, Sunho, Kanli-jin. — Zustände in den besetzten
grösseren Orten. — Die Gräber unserer Gefallenen. — Besitzergreifung eines
Territoriums in Tientsin 501
VIII. Capitel.
Die Taku-Rhede im Spätherbst. — Winterstationen und -Kreuzungen der k. und k.
Escadre in Ostasien. — Der »eisfreie« Ankerplatz von Shanhaikuan. — Erste
Reise des Contre-Admirals Grafen Montecuccoli in den Yangtse. — Nochmals
Taku, Frühjahrsboten. — Wechslung der gelandeten Detachements. — Zu-
sammentreffen mit S. M. Schiflen »Leopard« und »Donau«. — Die Escadre im
Yangtse. — Einberufung zweier Schiffe 541
IX. Capitel.
Charakter der Verhandlungen. — December-ProtokoU. — Verzögernde Umstände. —
Sühne. — Sicherungen für die Zukunft. — Successive Zurückziehung der
Truppen. — Unterzeichnung des SchlussprotokoUes. — Auflösung des Armec-
Obercommandos. — Rückkehr des Admirals mit »Kaiserin Elisabeth« und
»Zcnta«. — Schlusswort 555
ANHANG.
Uebersicht der von der k. und k. Escadre bis 10. September 1900 gelandeten
Detachements 578
Verzeichniss der Spenden und Liebesgaben für die Mannschaft der Escadre in
Ostasien 580
Verzeichniss der während der kriegerischen Ereignisse in China Gefallenen und den
Beschwerden Erlegenen 581
Verzeichniss der Kriegsbeute 582
I. THEIL.
b*
I. Capitel.
llie l*tovini reticluli. — Üif fiem de atcmJ liehe Bewegung in China uml deren Förderer.
— Sl^tioiiiruiig S, M. Schiffes i'Zenlai iii Osusicn und seuie Entsendung dbi;!! Taku. —
Antschiffang de« cnlen ScbutidetachcineiilH zur k. und k. Gc^andlsebaft in Peking. — Etri'
•Itücke bei der Ucbenchreitung der I'eilio Mündung, wHlirend der Bahnfahrt und heim ICin-
Ireffcn in l'cking. — Die Hahn Verbindung abgeschnitten, — Ausschiffung eines Delaehe-
ment! nach Tient&in,
D-:
r Schauplatz Jener Ereignisse, von welchen die
' folgenden Blätter berichten, war die Provinz
Petschili, kurzweg Tschili genannt.
Zwischen ungefähr 36 und 41" Nordbreite,
113 und 119" östlicher Länge von Greenwich
gelegen, nimmt diese nordöstlichste der 18 Pro-
vinzen des chinesischen Kaiserreiches einen
Flächenraum von 300.000 Quadratkilometern
ein, wovon die Hälfte innerhalb der grossen
Mauer gelegen ist; die Bevölkerungsziffer wird
sehr verschieden angegeben, dürfte aber nicht viel weniger als
20 Millionen betragen, wohingegen die Zahl von 29'/^ Millionen,
die angeblich bei einer amtlichen Volkszählung durch die chine-
sischen Behörden im Jahre 189(5 ermittelt wurde, entschieden
den Stempel chinesischer Amtlichkeit trägt, d. h, zu hoch ge-
griffen ist.
Im Osten von der See bespült, grenzt Petschili im Nord-
osten an die Mandschurei, im Norden an die Mongolei, im Westen
an die Provinz Schansi, im Südwesten und Süden an die Provinzen
Honan und Schantung; gegen Schansi bildet ein unwirthliches,
schwer zugängliches Gebirge die Grenze, welches sich von
mehreren zumeist fruchtbaren, jedoch wenig breiten Thälern
unterbrochen, im weiten Bogen über Nord und Ost fortsetzt und
bei Schanhaikuan bis knapp an die .See tritt. Innerhalb der
WiatctbalLlci r KlmyU m Cbifiu. 1
Provinz Petschili selbst erhebt sich nur in ihrem nordwestlichen
Theile etwa 35 Kilometer von Peking ziemlich unvermittelt ein
Bergland von der Hohe des Mittelgebirges, dessen Charakteristik
ebenfalls der Mangel an Wald und eine geringe Wegsamkeit
bildet; der grösste Theil ist somit eine von der Küste gegen
Westen sanft ansteigende Ebene. In dieser lassen sich ziemlich
deutlich zwei wesentlich verschiedene Abschnitte erkennen: der
unfruchtbare Küstenstrich, reich an Sümpfen und kleinen Brack-
wasserseen, hingegen fast jeden Baumwuchses bar, welcher sich
von der See in wechselnder Breite bis auf ungefähr 40 Kilometer
landeinwärts erstreckt und in den noch das Gebiet der Stadt
Tientsin gehört — und die sich hieran schliessende fruchtbare,
dicht besiedelte Ebene. Dieses ganze Tiefland ist durch die Ab-
lagerungen der zahlreichen in den westlichen und nördlichen Ge-
birgen entspringenden Flüsse entstanden, welche noch immer in
die See weiterbauen, verdankt ihnen seine theilweise grosse Frucht-
barkeit, der aber die Verheerungen durch häufige Ueberschwem-
mungen trotz mannigfacher Schutzvorkehrungen, wie Damm- und
Canalbauten, als Kehrseite gegenüberstehen.
Das Klima ist ausgesprochen Continental. Auf einen kalten,
trockenen, Ende November einsetzenden Winter folgt ein heisser,
während der Monate Juli und August zumeist sehr regenreicher
Sommer, der Frühling beginnt spät und bringt einerseits vorzeitig
warme Tage, anderseits wieder mit Nordwest- und Nordstürmen
häufige, recht empfindliche Rückfälle in die Winterzeit; dem
Europäer sagt der Herbst am meisten zu, doch ist diese Jahres-
zeit in sanitärer Beziehung wegen des Entstehens von Miasmen
auf den im Sommer überschwemmt gewesenen Strecken gleich-
zeitig die bedenklichste.
Zu allen Jahreszeiten macht sich jedoch der Unterschied
zwischen Tages- und Nachttemperaturen empfindlich fühlbar; so
steigt beispielsweise in Peking im Winter die Temperatur bei Wind-
stille unter dem Einflüsse der Sonnenwärme mittags zumeist über
den Gefrierpunkt, während sie nachts auf — 16® C. sinkt. Sommer-
nächte bringen nach der Abspannung, welche eine Tagestempe-
ratur von + 36® C. verursacht, einige kühle Stunden und im Früh-
jahr und Herbst endlich kommen Nachtfröste viel häufiger vor als
selbst in bedeutend höheren Breiten Europas.
Charakteristisch und äusserst lästig sind die mit Ausnahme des
Sommers und Frühherbstes ziemlich gleich auf die übrigen Jahres-
zeiten vertheilten Staub- und Sandstürme ; ihr Herannahen aus der
Mongolei äussert sich durch eine schmutziggelbe Färbung des
Firmaments, dieser Warnung folgt zu Lande meist schon in sehr
kurzer Zeit der erste heftige Stoss und dann hüllt der mächtig
dahinfegende Wind auf halbe und ganze Tage Alles in Dunkel,
gleich dem dicksten Londoner Nebel die Aussicht auf wenige
Schritte benehmend. Der Aufenthalt im Freien wird oft unmöglich,
Alles mit einer dichten Schicht gelbbraunen Staubes überzogen,
der auch in die anscheinend bestverwahrten Behausungen unwider-
stehlich eindringt. Diese Stürme reichen auch auf beträchtliche
Entfernung auf die freie See hinaus, doch ist dort mitunter die
dem Einflüsse gegen das Land wehender Brisen zuzuschreibende
Erscheinung zu beobachten, dass sich die warnenden gelben Staub-
wolken stunden- und tagelang in ziemlich beträchtlicher Höhe
schwebend erhalten.
Aus der Zusammensetzung des aus Lehm und Sand be-
stehenden Alluvialbodens und dem Einflüsse des Klimas ergibt
sich die Art der Bodencultur; zumeist werden rasch wachsende
Pflanzen gebaut, doch befördert das Zusammenwirken grosser
Feuchtigkeit und Wärme auch bei Gewächsen, die in unseren
Zonen längerer Zeit hiezu bedürfen würden, eine schnellere Ent-
wicklung und Reife. Der Ackerbau wird seit altersher äusserst
intensiv, wenn auch noch immer mit ziemlich primitiven Geräthen
betrieben, wobei Fleiss und ererbte Geschicklichkeit der Bebauer
die Mängel letzterer wettmachen. Hauptsächlich werden gebaut:
Mais, Hirse, Gerste, Weizen, süsse Kartoffeln, Obst aller Arten
einschliesslich Wein, sehr viel Gemüse, darunter vornehmlich
eine weisse Rübengattung, Reis, Hanf und Tabak. Der Reis von
Tschili genügt dem Bedarf der Provinz nicht und steht auch hin-
sichtlich Güte anderen Sorten nach, weshalb viel von diesem Ar-
tikel aus südlicheren Provinzen eingeführt werden muss. Eine be-
sondere Abart von Mais — Kaulian — erreicht die stattliche Höhe
von 3 Metern und verleiht der damit bepflanzten Gegend einige
Zeit hindurch — man lässt ihn bis zu Anfang October stehen —
ein Gepräge von Ueppigkeit. — Zusammenhängende grössere
Wälder fehlen gänzlich ; Baumpflanzungen finden sich zumeist nur
in der Umgebung von Dörfern und als Haine um Begräbnissstätten.
Das gesammte Bauholz muss von weither — aus dem noch wald-
reichen Gebiete des oberen Yangtse, in neuester Zeit auch aus
Nordamerika — herbeigeschafft werden ; als Brennstoff dient nebst
Reisig und Kleinholz hauptsächlich mit Lehm gemischte Kohle,
die in der Provinz selbst an mehreren Orten, so im Nordwesten
von Peking, in sehr bedeutender Menge und für moderne Zwecke
brauchbarer Qualität jedoch in der Gegend von Kaiping, an
letzterem Orte auch durch vollkommen moderne Methoden gi
Wonnen wird.
Die Viehzucht liefert Rinder, Ziegen, namentlich aber Schafe,
ferner Hühner, Tauben, Enten und Gänse in ausreichender Menge.
Die Enten des Pekinger Districtes sind wegen ihrer Grosse und
des schönen, mannigfachen Zwecken dienenden Gefieders äusserst
geschätzt. Tauben werden seit Jahrhunderten auch zur Corre-
spondenz auf längere und kürzere Strecken, so z. B. von Kauf-
leuten zwischen den einzelnen Stadtvierteln Pekings verwende!;
solche Briefboten werden mit ganz leichten Rohrpfeifchen unter
den Schwingen versehen, die beim Fluge laut ertönen, was die
Thiere gegen Raubzeug schützen soll.
Pferde, ein äusserst zäher, anspruchsloser und leistungsfähiger,
wenn auch wegen des verhältnissmassig schweren Kopfes unschöne;
Pony-Schlag. Esel. Maultliiere und schlieaslich Kameele liefert dil
Mongolei in grosser Zahl; die Maulthiere gehören zur Liebhaberei
reicher Chinesen, schöne Exemplar«- stehen durchschnittlich viermal
höher im Preise als gleichclassige Ponies und werden ebensowohl
als Zug- wie auch als Reitthiere benützt. Die Kameele werden
über Sommer wegen ihrer Empfindlichkeit gegen Feuchtigkeil
von den Mongolen wieder in ihre Steppen getrieben.
An jagdbaren Thieren herrscht in Tschiti kein Mangel; Nieder-
1 Wasserwild kommt in den reichcultivirten Flussniederungen
und an den zahlreichen kleinen Seen des Küstenstriches zahlreich
vor. ausserdem versehen die im Winter in die Provinz kommenden
Mongolen karawanen die grossen Märkte mit diesem Artikel äusserst
reichlich und gut.
Der Ergiebigkeit des Bodens entsprechend, sind die zusammen-
hängenden Niederlassungen im Küstenstrich, in der fruchtbaren
Tiefebene und im Berglande auch verschieden dicht gelegen; die
lülkreichste Stadt ist das als Provinzialhauptstadt, Handel sc entr um
und Sitz einer in rascher Entwicklung begriffenen Industrie in
Blüthe gestandene Tientsin mit nahejiu einer Million Einwohner;
ihm folgt die Reichshauptstadt Peking, von der noch gelegentlich
.«.päter eingehender die Rede sein wird, mit 500.01)0— fiOO. 000. dann die
ehemalige Provinzialhauptstadt Paotingfu und Suanhuafu mit je circa
200.000 Einwohnern. Städte, Märkte und Dörfer sind in der offi-
ciellen chinesischen Classificirung wohl strenge unterschieden,
doch geben für diese Einlheilung noch andere Gründe als Grösse
und Einwohnerzahl den Ausschlag, da beispielsweise Taku mit
Mirintm circa 26.000 Köpfen, meist Fischer und Flusschiffer, noch
immer unter die Dörfer zählt. Alle Ansiedlungen haben, so ver-
schieden gross sie aber auch sein mögen, das gemeinsame Merk-
mal einer Umwallung, die zum Theil auf das ehedem und in
gewissem Grade vielleicht auch noch heute gerechtfertigte Be-
dürfniss, sich gegen Ueberfalle zu schützen, zu einem guten Theile
aber zweifellos auf die abergläubische Furcht vor bösen Geistern
zurückzuführen ist. In Peking beschützen gigantische, an 17 Meter
hohe und 15 Meter breite, äusserst kunstfertig angelegte, mit
Wachthürmen und Bastionen versehene Mauern den Sitz des
Herrschers von China.
In anderen Städten verringern sich die Dimensionen der
Schutz wehren je nach der Wichtigkeit des Platzes auf 12 und
8 Meter, um endlich bei kleineren Ortschaften zu einer manns-
hohen Lehmmauer, die selbst bei den wenigen einzelnstehenden
Gehöften nicht fehlen darf, zusammenzuschrumpfen.
Im Gegensatze zum Süden Chinas besitzen die Städte Tschilis
relativ breite Strassen; Schmutz und Verwahrlosung der Wege
sind aber hier wie dort die gleichen, ersteren zu beseitigen über-
lässt man Hunden, Raben und den heilig gehaltenen Elstern,
Strassenausbesserungen bedürfen jeweils eines besonderen Anlasses
und werden auch dann meist nur als eine Gelegenheit, von den
dafür ausgeworfenen Mitteln möglichst viel bei Seite zu schaffen,
betrachtet.
An Brunnen fehlt es nicht, doch liefern nur die wenigsten
in natürlichem Zustande trinkbares Wasser, Abkochen und Fil-
triren sind unerlässliche Vorsichtsmassregeln für den Fremden,
der Chinese selbst geniesst nur selten frisches Wasser als Getränk,
sondern hält sich lieber an seinen Thee.
Die Bauart der Häuser richtet sich nach den Vermögensver-
hältnissen der Besitzer; Bauern und die ärmeren Städter begnügen
sich mit kunstlosen Hütten aus Lehmfachwerk, sehr oft nur mit
Schilf eingedeckt, besser Situirte verwenden Holz und Rohziegel.
Letztere sind auch bei den Behausungen der Reichen das Haupt-
material, doch fallen diese durch die verschwenderische Ausstattung
mit kunstvoll behauenem Stein und Marmor, geschmackvoll ge-
schnitzten Pfeilern und Rahmen aus Holz, endlich durch die Be-
dachung mit glasirten Ziegeln auf.
Die von Chinesen bewohnten Häuser haben gewöhnlich nur
ein Erdgeschoss, ein- oder mehrstöckige Häuser bilden Ausnahmen
oder deuten auf den Einfluss Fremder; der daraus resultirende
Zug ins Breite verleugnet sich auch bei Regierungsgebäuden,
Tempeln und Prunkbauten nicht, bei welch allen ausserdem die
Sorgfalt auffallt, die auf schwere, den Eindruck des Massiven
machende Dächer und starke, reichornamentirte Thore verwendet
wird. Gegen öffentliche Wege zu sind die meisten Häuser —
die grossen Kaufläden abgerechnet — durch eine Vormauer ab-
geschlossen; Höfe und grössere oder kleinere Gärten im Innern
derartiger Complexe sind daher eine Nothwendigkeit; die Stelle
von Glas vertritt bei den Fenstern Papier, das nur gedämpftes
Licht einläast. Innerhalb der Häuser, selbst kleiner und ärmlicher.
stÖSSt man immer wieder auf frpisfhenflf , ifri.-m Finefafitr vor-
gelagerte Mail. TU ...l.T l■.r.■t^.■l■\^:ln.]^, ,Vu- .].':; :,M-,'n ([.-i^l^Tii (li.-n
Weg verlegen sollen — eine Einrichtung, die die Durchsuchung
sehr erschwert.
Die grosse Winterkälte bedingt Heiz Vorrichtungen, die meist
darin bestehen, dass die Lagerstätten (Kang) aufgemauert sind und
eine Feuerstelle für Kohlenfeuerung enthalten ; ausserdem stehen
Kohlenbecken im Gebrauch, doch ist die Bedienung von beiden
Apparaten nicht so einfach und muss sehr sorgfältig aus-
geübt werden, um die Gefahr der Entwicklung von Stickgasen
abzuwenden.
Abgesehen von den Monumentalbauten in und um Peking
tuid von der Fremdenniederlassung in Tientsin. deren Beschreibung
jedoch aus«ierhalb des Rahmens dieser Darstellung fällt, bringt
der Besuch der Städte Tschilis auf den ersten Blick den Eindruck
des Aermlichen hervor, ähnlich wie die ganze Landschaft, vor der
Zeit befruchtenden Regenfalles betrachtet, stellenweise geradezu trost-
los aussieht; ein näherer Einblick lässt aber gewahren, dass das
Land und seine Bewohner viel reicher sind und über viel be-
deutendere Hilfsquellen verfügen, die allerdings bisher wegen der
primitiven Verkehrsmittel nicht in vollem Masse verwerthet werden
konnten.
Der Zugang zu Tschili von auswärts ist der Seeweg an die
Peiho-Mündung und von dort den Fluss aufwärts; im Innern der
Provinz verbinden mehrere schiffbare Flüsse und Canäle, dann
aber auch zahlreiche Strassen die einzelnen Theile, doch muss an
die Bezeichnung Strasse ein niederer Masstab angelegt werden,
meist sind es nur für die landesüblichen, zweiräderigen Karren
und Reitthiere passirbare Naturwege.
Das betriebene Eisenbahnnetz bestand beim Ausbruch der
Wirren nur aus den Linien Peking (Matschapu) — Tientsin —
Tongku und Tongku — Lutai — Shanhaikuan mit der Fortsetzung
nach Kintschou in der Mandschurei, ferner von der Pekinger
Linie in Fengtai abzweigend nach Paotingfu; an der Linie
Paotingfu — Hankau, welche den Anschluss zu Lande an das reiche
Yangtse-Thal bilden sollte, wurde von den Concessionären, einem
franco-belgischen Syndicat, von beiden Endpunkten an fleissig
gebaut.
Die SchiflFahrtsverhältnisse im Golf von Petschili sind nicht
eben die günstigsten ; zwar erreichen die Taifune den Golf nicht,
doch nothigen schwere Stürme aus der Nordhälfte der Rose zur
Winterszeit, Nebel im Frühjahr und Herbst, im Sommer häufige,
mit grosser Heftigkeit auftretende Gewitterböen, dann die starken,
durch Windverhältnisse nicht unwesentlich beeinflussten Gezeiten-
strömungen zur Vorsicht.
Die Punkte, wo eine Landung möglich ist, Taku an der
Peiho-Mündung, ferner Tschinwangtau und Shanhaikuan, bieten
nur offene Rheden. Die erstgenannte bleibt aber während der
Zeit von Anfang December bis zur ersten Hälfte März in Folge
Vereisung des Peiho und der See selbst unzugänglich und auch
an beiden letzteren, die auch sonst den Vortheil grösserer Wasser-
tiefe für sich haben, hängt die Möglichkeit des Verkehres mit
dem Lande zu allen Jahreszeiten von der eben herrschenden Wind-
richtung ab; in strengen Wintern setzt sich auch da das aus
dem nördlichen Theile des Liau-tung-Golfes kommende Eis tage-
und wochenlang fest.
Grossere Schiffe müssen 4 — 5 Seemeilen vor der Peiho-Barre
liegen, sind hinsichtlich des Verkehres mit dem Flusse auf
kleine Schleppdampfer und Lichterboote angewiesen und erleiden
deren Lademanipulationen durch den starken Seegang, ver-
bunden mit der Strömung erhebliche Verzogerungen und Unter-
brechungen ; der schlechte Ankergrund, sehr weicher Schlamm,
macht auch, besonders wenn mehrere Schiffe auf der Rhede
Bahnstrecke Tientstn— Peking
PEKING
Feno^td
liegen, Vorsichtsmassregeln gegen Treiben und dadurch mögliche
Collisionen nothwendig.
Die Peiho-Barre gestattet bei Hochwasser Fahrzeugen von
nicht mehr als 12 englische Fuss Tauchung die Passage, aus-
nahmsweise bei Springfluth auch 13 Fuss, bei Ebbe steht dagegen
nur 1 Fuss Wasser über dem Grunde ; aber auch hier spricht die
Windrichtung oft noch in unangenehmer Weise mit, indem in
Folge von Westwinden die Wassermassen zurückgedrängt werden
und die Fluth nicht die normale Höhe erreicht. Es ist gar kein
10
seltenes Bild, eine kleine Flotille von Dampfern, die unter nor-
malen Verhältnissen die Barre glatt passirt hätten, im Schlamme
festsitzen zu sehen.
Gegenwärtig ist die Versandung des Peiho so weit fort-
geschritten, dass kein Seedampfer mehr über Tongku aufwärts
fährt, während dies noch vor 8 — 10 Jahren bis Tientsin möglich
war. Dampfbarkassen und Dschunken von geringer Tauchung
vermitteln den Verkehr auf dem Flusse.
Bei Tientsin, das bloss 3 Meter über dem Meeresspiegel ge-
legen ist, münden der Kaisercanal, aus dem Süden kommend, der
Hunho, ein im Nordwesten Tschilis entspringender, ca. 100 Kilo-
meter weit schiffbarer Fluss, einige kleinere Wasserläufe und
der Lutai-Canal in den Peiho; es ist daher kein Wunder, wenn
Tientsin, als Knotenpunkt des gesammten Verkehres sich rasch
und kräftig blühend entwickelnd, die schwerer zugängliche Reichs-
hauptstadt beträchtlich überflügelt hat. Der Kaisercanal, auch
Yun-ho genannt, spielt als Binnenweg nach den südlichen Pro-
vinzen und namentlich als Strasse, auf dem der Tributreis nach
Peking gebracht wird, eine bedeutende Rolle. Der Peiho ist bis
Tungtschau, das durch einen ungefähr 20 Kilometer langen Canal
mit Peking in Verbindung steht, schiffbar ; sein Lauf weist viel-
fache Krümmungen auf, ist wegen des geringen Gefälles träge,
der Wasserstand ebenso veränderlich wie die Niederschläge. Je
nach Wasserstand und Windrichtung brauchen flussaufwärts
fahrende Dschunken von Tientsin bis Tungtschau 4 — 6 Tage, zur
Thalfahrt 3, unter besonders günstigen Verhältnissen, d. h. wenn
auch die Nacht über gefahren werden kann, auch nur 2 Tage;
wenn nicht Segel geführt werden können, geschieht die Fort-
bewegung durch Schieben mit Stangen und Schleppen, wobei die
chinesischen Schifferleute eine bewunderungswürdige Ausdauer
und Unempfindlichkeit gegen äussere Einflüsse zeigen. Von
Sonnenaufgang bis zum Einbruch völliger Dunkelheit ziehen
diese Leute fast nackt ununterbrochen und unverdrossen am
Schlepptau, wobei sie alle Augenblicke bis an die Schultern im
Wasser und Schlamm watend Seitenarme übersetzen müssen oder
das auf einer Bank festgefahrene Fahrzeug wieder in tieferes
Wasser abschieben helfen. Um aber die Umständlichkeit von
Transporten zu illustriren, sei auch noch erwähnt, dass beispielsweise
die grossen Reismengen in Tungtschau in kleinere Boote umgeladen
werden müssen, um nach Peking gebracht zu werden; da aber
der dahin führende Canal mehrere Wehre enthält, um die restliche
Niveaudifferenz zwischen Tungtschau und der bloss 37 Meter über
11
der See gelegenen Hauptstadt zu bewältigen, erneuert sich das
Zeit und Mühe verschlingende Umladen bei jedem derselben —
nicht zum Nachtheile der zahlreichen kleinen Beamten, Aufseher
und Arbeiter. Wegen des Umladens wurden die meisten fluss-
aufwärts gekommenen Güter von Tungtschau an nicht mehr auf
dem Canal, sondern mittelst Karren und Wheelbarrows (einräderige
Schiebkarren) nach Peking transportirt.
Die Wichtigkeit der übrigen Verbindungen zwischen der
Küste, respective Tientsin und Peking rechtfertigt es, gleich an
dieser Stelle die beiden Landwege dahin zu besprechen.
Von Tientsin führen auf beiden Peiho-Ufern Wege nach der
Flussmündung; die am meisten benützte Strasse nach Peking ist
am rechten Ufer gelegen, berührt die grösseren Orte Yangtsun,
Hosiwu, Matou und Tungtschau und hat eine Länge von ungefähr
125 Kilometern.
Von Tungtschau aus führen drei Weglinien, den Canal auf
der steingebauten Palikao-Brücke überschreitend, nach Peking;
davon ist die nördlichste eine alte Kunststrasse und unter dem
Namen Mandarinstrasse bekannt. Aus nach unseren Begriffen
ganz unförmlichen, 1'3 Meter langen, 80 — 90 Centimeter breiten
und bis zu 50 Centimeter dicken Quadern hergestellt, bot sie zur
Zeit, wo sie noch neu oder mindestens besser erhalten war,
den unschätzbaren Vortheil, auch zur Regenzeit benutzbar zu
sein; ihr dermaliger Zustand, viele Quadern fehlen nämlich, lässt
aber die beiden anderen ungepflasterten, oft dem Grundlosen nahen
Wege noch immer besser erscheinen, denn letzteres tritt doch
nur während der Regenzeit ein, während auf der Mandarinstrasse
Vehikel und die Beine der Zugthiere unter allen Umständen der
Gefahr zusammenzubrechen ausgesetzt sind. Zu Pferde legte man
die Strecke Tientsin — Peking ohne besondere Anstrengung in
2 Tagen, geübtere Reiter mit Benützung von Relais sogar in nur
20 Stunden zurück.
Die Bahntrace ist von Tongku bis Yangtsun — etwa 33 Kilo-
meter nördlich von Tientsin — auf dem linken Ufer geführt,
übersetzt dann auf einer von steingebauten Pfeilern getragenen
Eisenbrücke den Fluss und biegt in nordwestlicher Richtung von
ihm ab ; den Schienenstrang innerhalb die Stadtmauern Pekings,
sei es auch nur in die Chinesenstadt, zu führen, verboten die
Vorurtheile der herrschenden Classen, die ohnedies dem ganzen
Bahnprojecte seinerzeit hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt
hatten, und so endete die Linie in Matschapu — d. i. etwa 25 Kilo-
meter vom mittleren Südthore der Chinesenstadt. Eine elektrische
12
Trambahn beforderte seit dem Frühjahr 1900 die Reisenden von
Matschapu zum Yungtingmen. In technischer Hinsicht waren beim
Bahnbaue keine grossen Schwierigkeiten zu überwinden; im
Ueberschwemmungsgebiete des Peiho liegen die Geleise auf einem
Damm, der jedoch im Masse der Entfernung der Trace vom
Flusslaufe an Höhe abnimmt und endlich ins Gelände verläuft;
ausser der grossen Brücke bei Yangtsun waren nurUebersetzungen
von geringer Spannweite herzustellen. Die ganze Fahrt Tongku —
Peking beansprucht bei normalem Betriebe — Eilzugsverkehr von
Tientsin an — b\ Stunden.
Es mag hier gleich erwähnt werden, dass sich der unter
europäischer Oberleitung stehende, jedoch von chinesischem Per-
sonal ausgeübte Eisenbahnbetrieb trotz vieler Frictionen mit der
Neuerungen abholden Bevölkerung und der Anfeindungen, welche
ihm die vordem eine Art Monopol ausübenden Transportunternehmer
unablässig bereiteten, im grossen (xanzen schon eingelebt und
seine Vortheile für die Allgemeinheit unwiderlegbar erwiesen hatte.
Vor Ausbruch der Wirren waren Tientsin und Peking mit-
einander durch zwei Telegraphenlinien, wovon eine zur Eisenbahn
gehörte, verbunden; von Peking aus führte eine Landlinie nach
Kiachta, wo- sie sich an das russische Netz schloss; Tientsin stand
über Tsinanfu und Paotingfu mit dem Landnetze des centralen
China und über Lutai auch mit Niutschwang in Verbindung. Der
Mangel eines etwa von Shanghai zur Peiho-Mündung führenden
Kabels machte sich im Verlaufe der Begebenheiten bitter fühlbar.
Die flüchtige Besprechung der Verkehrsmittel Tschilis wäre
jedoch ohne die Erwähnung der uralten chinesischen Courierpost
in einem wesentlichen Punkte lückenhaft, die auch durch die Ein-
führung des telegraphischen Verkehres nicht ganz unentbehrlich
geworden ist. Die Regierung hatte zur Beförderung ihrer eigenen
Post im ganzen Reiche einen Dienst reitender Couriere organisirt,
der ganz hervorragend rasch und durch äusserst strenge Gesetze
geschützt, auch sehr zuverlässig functionirte. Die stete Bereit-
haltung frischer Relaispferde und Couriere in bestimmten Orten
bildete eine der wichtigsten und auch am gewissenhaftesten aus-
geübten Pflichten der Beamten ; andererseits genossen die Couriere
selbst in Ausübung ihres Dienstes grossen Respect bei der Be-
völkerung. Wenn von glaubwürdiger Seite versichert wird, dass
dringende*) Befehle der Pekinger Regierung wiederholt nicht länger
als 10 Tage brauchten, um in die äussersten südwestlichen Provinzen
*) Um cioe Depesche als dringend zu bezeichnen, wurde eine Vogelfeder an dem
Umschlag befestigt.
ytilaiigen, so erscheint eine Tagesleistung von 350 Kilometern,
wie sie auf gewissen Strecken auch während der kriegerischen
Ereignisse des Jahres 1900 nachgewiesen werden kann, noch nicht
«tas Maximum der Leistungsfähigkeit der ganzen Institution zur
Zeil ihrer Blüthe gewesen zu sein.
Die Besprechung der Bevölkerung muss sich auf das Knappste
beschränken, denn auf diesem Gebiete würde die Menge und der
Reiz des Stoffes viel zu weit führen, ohne Aussicht, den Leser
der Lösung des Räthsels näher zu bringen, welches die Wider-
sprüche zwischen den Anschauungen und der Handlungsweise
der Zopfträger mit den dieselben Punkte betreffenden Begriffen
der Westländer bieten, gar nicht zu erwähnen die anscheinenden
Ungereimtheiten im Charakter des chinesischen Volkes selbst. So
viel auch gewissenhafte, vorurtheilsfreie Beobachter durch jahr-
lehntelanges Verweilen im Lande, Verkehr mit seinen Bewohnern
unter den denkbar verschiedensten wechselseitigen Beziehungen
und — was hiefür unerlasslich — mühevolle Forschung in dem un-
geheuren Reiche chinesischer Literatur festgestellt haben, so
geben uns alle diese kostbaren Errungenschaften doch eigentlich
nur Mittel an die Hand, bereits Geschehenes zu erklären und
seinen Zusammenhang zu verstehen, während sie nur zu oft uns
Abendländer im Stiche gelassen haben und noch lassen werden,
wenn wir sie als Schlüssel für bevorstehende Entwicklungen an-
wenden wollen. )Das Unwahrscheinlichste ist das Wahr.scheinlich-
tte« — im Sophismus dieses schon von manchem Chinakenner
gcthanen Ausrufes liegt die ganze Unmöglichkeit, den Chinesen
in seiner Weise zu übertreffen, gleichzeitig weist er aber
darauf hin, dass die Fremden im Verkehr mit den Vertretern
einer so grundverschiedenen Anschauung aller Dinge zweifellos
am besten fahren werden, wenn sie die grossen, von den,West-
vÖlkem als ethisch richtig erkannten Grundzüge mit Festigkeit
beibehalten und auf chinesische Begriffe nur so weit eingehen,
um sich gegen die Fallen zu sichern, die ihnen der klügelnde,
hinterhältige Sinn der Gegenpartei stellen mag,
inTschili ist naturgemäss das Element des Mandschustammes,
dem die gegenwärtige Dynastie angehört, numerisch stärker als
in irgend einer anderen Provinz vertreten; die Mandschu bilden
die nächste Umgebung des Kaisers, besetzen alle Hofamtcr. aus
ihnen ssetzen sich die Bannertruppen zusammen und aus ihrem
Stamme wählt der Herrscher die fallweise mit weitgehenden Voll-
machten ausgerüsteten, vom Volke so gefürchteten Special-Com-
missäre. Der fortschreitende Process der Assimilirung hat die
urspi-ünglichen Unterschiede in moralischer und physischer Bezie-
hung zwischen herrschendem und unterworfenem Volk jedoch fast
verschwinden g-emacht. so dass eine halbwegs genaue Angabe
über die Zahl der Mandschu unmöglich ist ; vor Allem gilt dies vom
kriegerischen Geist der einstigen Eroberer, die durch Jahrhunderte
Sinecuren genossen, dadurch verweichlichten und in ihrer anwach-
senden Nachkommenschaft zum Theile auch wieder verarmten.
Die Mischung mit dem rein chinesischen Element bildete die nächste
Folge; aber auch die Mandschu-Familien, die reich und einflussreirh
blieben oder sich bedeutende Macht zu erringen wussten, haben
von der Methode, nach der sie als Beamte gegen das chinesisclw
Volk vorgehen mussten, so viel vom Wesen des letzteren in
aufgenommen, dass sie für die Fremden eigentlich nur mehr all
aristokratisches, conservativstes Element in der Verwaltung in
Betracht kommen. In der physischen Erscheinung unt(.'rscheidci
sich die Mandschu gegenwärtig fast gar nicht mehr von
Chinesen, die Frauen haben allein ein sicheres Merkmal, das abai
nur beim Vergleich mit den höheren Classen luverlässig ist, aU
verkrüppeln ihre Füsse nicht.
Der Nordchineae ist Jra Allgemeinen weniger kräftig als dei
Südchinese: dies gilt von seiner leiblichen VeraiiUgung vbcnsc
wie von seinen Leidenscliaften. In vieler Richtung- stehen sich
auch im Reiche iter Mitte Nord und Süd nichts wenig^er als
brüderlich gegenüber, so dass, ganz abgesehen von der gänzlichen
Verschiedenheit der Volkssprache, von einem gegenseitigen Ver-
ständniüü oder gar einer Solidarität — zum Heile der Fremden —
iiichl die Rede sein kann: trotzdem sind die charakteristischen
Züge des Volkes überall die gleichen.
Anspruchslos und bienenemsig, so lange dL-r ersehnte Wohlstand
nicht erreicht ist — und mit Absicht träge und ein verschwen-
derischer Schlemmer, sobald er das gesteckte Ziel erreicht hat;
kindisch in seinen Vergnügungen, stets geneigt, sich harmlos zu
belustigen — und raffinirt in seinen Ausschweifungen und seiner
Grausamkeit; nur seiner Familie, vor allem der Mutter lebend und
mit seinen Begriffen von Zusammengehörigkeit auf die Sippe und
das HeimaLsdorf beschränkt und unpatriotisch — dafür der ge-
fährlichste Geheimbündler von Natur aus; für Leib und Habe als
Einzelner sehr besorgt — und doch unter guter Führung blind
nachfolgend in jede Gefahr; durch Naturell und Volkserziehung
heuchlerisch und verlogen — als Kaufmann dagegen streng reell
eingebildet auf seine feinen Lebensformen — und über alle Massen
rob gegenüber leidenden Mitmenschen: durch Aberglauben lächer-
lich ängstlich vor ganz natürlichen Erscheinungen — stoisch gegen
über Torturen und dem unabwendbaren Ende.
Oiese Aufzählung widersprechender Eigenschaften erschöpft
noch lange nicht, was man während eines relativ kurzen Aufent-
haltes unter Chinesen aus den täglichen Vorkommnissen ersieht,
und in den nachfolgenden Seiten finden sich genug Facten. welche
den l-eser zu denselben Schlüssen kommen lassen dürften.
Das Staatsgefüge des grössten Reiches der Welt selbst ist
auf solchen anscheinend incompatiblen Grundsätzen aufgebaut :
despoti.sch central istisch in Altem, was die Djniastie und den retro-
spectiven, die Autorität des Regenten befestigenden Grund-
gedanken betrifft, lässt die Regierung gleichwohl
fden einzelnen VicekÖnigen fast unumschränkte
.Macht als Verwalter, Kriegs- und Gericbtsherren
innerhalb ihrer Provinzen, begnügt sich mit der
Ablieferung der Tribute, günstigen Berichten und
der Vermeidung ernster Verlegenheiten; von einer
unvergleichlichen Nachsicht und Güte gegen ihre
Organe, wenn sie nur die wahrlich nicht geringen
Bedürfnisse des Hofes und seines zahllosen An-
hange.s zu befriedigen und den Schein zu wahren
16
wissen, schreitet sie doch mit barbarischer Strenge gegen solche
ein, die gewisse Winke nicht verstehen wollen oder selbstständige,
vielleicht wirklich von der besten Absicht getragene Vorschläge
nicht so zu unterbreiten wissen, als ob sie vom Throne selbst
ausgehen würden. In solchen Fällen hält man sich unerbittlich an
das Gesetz, dass der Aelteste für die Frevel irgendwelcher, nicht
fahndbarer Mitglieder seiner Sippe haftbar sei — die Pekinger
Regierung beruft den bisher allmächtigen Vicekönig vor ihr Ge-
richt, gleichwie dieser mit den Bezirksvorstehem (Taotai), diese
mit den Stadtältesten und diese letzten endlich mit den Häuptern
der Familien zu verfahren gewohnt waren.
So erfolgreich ein solches Princip im Ganzen sein mag, so
eröffnet es doch gleichzeitig der Geschicklichkeit unverantwort-
licher, scrupelloser Hintermänner zu verlockende Perspectiven,
ja züchtet geradezu die crasseste Corruption und ein schwer be-
kämpfbares Cliquenwesen, wozu das einseitige Bildungssystem
der höheren Classen noch kräftigst mithilft.
Die Corruption ist so weit gediehen, dass die erfolgreiche
Verantwortung gegenüber erhobenen Anklagen eine reine Geld-
frage darstellt. Dies gilt ebenso von der gemeinen Rechtsprechung,
wie für hohe Würdenträger, die oft, als Beschuldigte vorgerufen,
mit hohen Ehren zurückkehren, wenn sie nur genug, nach unseren
Begriffen manchesmal ein Vermögen aufwenden, um durch Ver-
mittlung einflussreicher Personen einer Audienz beim Kaiser
theilhaftig zu werden.
Bei der Ablegung der Literaten-Prüfungen, deren es drei
Grade gibt, wird eine umfassende Kenntniss der Geschichte, der
Classiker und die Fähigkeit gefordert, ein beliebiges Citat oder
eine alte These in möglichst blumenreicher Sprache zu interpre-
tiren, variiren, mit anderen Citaten oder Episoden aus der
Geschichte zu illustriren und zu vergleichen ; nun wäre das Uebel
noch nicht so gross, wenn es dem Candidaten auch freistünde,
vielleicht doch bei den vielen Speculationen, in denen er sich er-
gehen muss, um nur seiner Clausurarbeit den genügenden Umfang
zu geben, auch eine eigene, vielleicht neue Ansicht auszusprechen
und sie zu vertheidigen. Ein solcher Versuch wäre aber gleich-
bedeutend mit einem Sacrilegium an den Classikern und hätte
darum für den Prüfling, der 15 — 20 Jahre seines Lebens oft unter
den härtesten Entbehrungen und nur dank schwerer Opfer seiner
Familie oder Freunde auf seine Vorbereitung verwendet hat, die
bittersten Folgen, vor Allem den Verlust der Hoffnung, je zu einem
ihn und seine Beschützer entschädigenden Amte zu gelangen.
17
Diese Einseitigkeit im Stoffe des Studiums und der absolute
Zwang, nur so zu urtheilen, wie es vielleicht vor einem Jahr-
tausend thatsächlich berechtigt gewesen, sind der principielle
Fehler des ganzen Bildungssystems. Auf ihn ist die Sophistik und
erstaunliche Geschicklichkeit, Unrecht als Recht darzustellen, die
Erstarrung im Geistesleben und die Verzerrung ursprünglich reiner
Lehren, auf die Strenge und Befangenheit der aus derselben
Schule hervorgegangenen Prüfungscommissäre die spätere Härte
und Scrupellosigkeit der privilegirten Literaten zurückzuführen.
Aus solchen Anfängen hervorgegangene Beamte entbehren, wie
nur zu begreiflich, des Blickes für die Erfordernisse des realen
Lebens, sie stehen sich ergebenden neuen Lagen gegenüber ohne
die Stütze eines selbstschaffenden Denkens, missbrauchen dafür
bestenfalls in der Ueberzeugung, es zur Ehre der alten Ueber-
lieferung thun zu müssen, meist aber absichtlich ihres persönlichen
Vortheiles halber die ihnen eingeräumte Macht über das künstlich
in Unwissenheit erhaltene Volk.*)
Das Literatenthum ist das Unglück Chinas und eine der
treibenden Kräfte gewesen, die den Ausbruch der jüngsten
Wirren mitverschuldet haben.
Gährungsstoff lag überreich in China; die Erregung in der
durch die harten Steuern erbitterten und durch elementare Miss-
geschicke hart geprüften Bevölkerung musste somit in eine
Richtung abgelenkt werden, welche die Gefahrdung der Dynastie
und der herrschenden Classen abzuwenden versprach. Dazu be-
durfte es nur einer unmerklichen Ermuthigung des Fremdenhasses,
der bei dem unerfahrenen Volke, das entweder noch gar nicht
mit den »Yankwets« in Berührung gekommen war, als Erbe der
urväterlichen Furcht vor räuberischen Einfallen schlummerte, oder
welches durch die raschen Fortschritte in der Erschliessung Chinas
vor neue, ihm unbequeme Verhältnisse gestellt war.
Der Fremdenhass pur et simple, als Selbstzweck wäre bei
einem so berechnenden und gleichzeitig den* Begriff des grossen
Vaterlandes nicht kennenden Volke, wie es die Chinesen sind, un-
glaubhaft; im Gegentheile liefert die massenhafte Auswanderung
nach Ländern unter fremder Herrschaft, nicht minder aber die
UeberfüUung der den Fremden zur Ansiedlung überlassenen
Territorien in den Vertragshäfen mit Chinesen, welche die Haus-
miethen daselbst fortwährend in die Höhe treiben, und die steigende
Prosperität gerade dieser Chinesen den sprechendsten Bew^eis, dass
♦) Monnier sagt sehr treffend: »Der Chinese steckt nur mit den Füssen in
der Gegenwart, mit dem Kopf in der Vergangenheit.«
WiBterhalder: K&mpfe in China. 2
18
der arbeitsfreudige und friedliebende Chinese, sowohl die
Vortheile fremder Technik, als auch namentlich die Wohlthat der
Gesetze und Ordnung voll würdigend, gar kein Bedenken trägt,
für und mit dem Fremden zu arbeiten.
Die Blüthe der Handelsemporien ostwärts von Pulo Penang
wäre ohne die geschäftliche Accomodation der Chinesen an die
Fremden nie erreicht worden.
Andererseits braucht eben auch ein Chinese Zeit, um sich
anzupassen und — wie bei allen Völkern — der Binnenländer
mehr als der in Folge der Verhältnisse dem Fremden leichter Zu-
gängliche Küstenbewohner; seit dem japanischen Kriege hatte
die Ausdehnung fremder Unternehmung auf das Innere jedoch
ein so rasches Tempo eingeschlagen, dass die davon berührten
Bevölkerungsschichten noch nicht im Stande gewesen waren, den
Vortheil kennen zu lernen, der mittelbar und unmittelbar auch
ihnen aus der Hebung der reichen Mineralschätze und Herstellung
bequemer und billiger Verkehrsstrassen in Form von Eisenbahnen
erwachsen musste.
Diese grösstentheils armen Bauern fügten sich nur wider-
strebend in den Verkauf ihrer ererbten Grundstücke und die Ver-
legung altverehrter Grabstätten, ihnen war die Hast des Fremden,
der als Geber relativ hoch bezahlter Arbeit doch die unbe-
greifliche Forderung stellte, sie schnell gethan zu sehen, ein Gräuel.
Bei diesen Exploitationen wurde vielleicht auch theilweise in
Unterschätzung und Nichtachtung alteingewurzelter Volkssitten
Manches gethan, was die Chinesen mit Recht reizen musste.
Vielfach misst man die Schuld an dem Ueberhandnehmen
der fremdenfeindlichen Gährung auch den zahlreichen christlichen
Missionen bei, unter denen alle Lehrrichtungen vertreten waren.
Ihre Thätigkeit hätte bei dem in religiösen Angelegenheiten
eigentlich toleranten Chinesenvolk, das ja selbst verschiedenen
Bekenntnissen, wie: Confucianismus, Buddhismus, Taoismus und
dem Islam huldigt, 'gewiss keinen schärferen Widerspruch ge-
funden, wenn nicht die Missionäre für ihre Convertiten Vortheile
angestrebt und in zahlreichen Fällen auch erreicht hätten, die
von dem übrigen, der Beamtenwillkür schutzlos preisgegebenen Volke
als directe Schädigung angesehen wurden. Die Missionäre riefen zu
oft die Intervention der Vertreter ihrer Schutzmächte an, wenn
chinesische Mitglieder der Seelengemeinde in Rechtsstreitigkeiten
mit nichtchristlichen Nachbarn verwickelt oder mit der Staats-
gewalt in CoUision gekommen waren, und mögen in ihrem löb-
lichen Eifer vielleicht auch für zweifelhafte Sachen eingetreten sein.
19
Es muss aber der nicht vereinzelt dastehenden Ansicht, dass nur
mindere Elemente aus vorwiegend prsiktischen Gründen sich der
Bekehrung zugänglich zeigten, ganz entschieden entgegengetreten
yrerden; auch unter den reicheren, angesehenen Classen gibt es
Familien, die seit Generationen überzeugte Christen sind — Er-
folge, die im Besonderen von katholischen Missionen durch ihr
kluges, sich chinesischer Lebensführung anschmiegendes Vorgehen
errungen wurden.
Die eingeborene Beamtenschaft fühlte sich naturgemäss am
meisten durch den Einzug neuerer Gesichtspunkte in den Ideen-
kreis des Volkes bedroht ; ihre absolute Macht und Herrlichkeit
musste Stück für Stück schwinden, wenn das Volk täglich Bei-
spiele erlebte, dass der gefürchtete Herr sich einerseits zum Voll-
strecker von Wünschen der fremden Erschliesser des Landes
bequemen musste und andererseits sein richterlicher Machtspruch
nicht mehr unfehlbar blieb. Bei der naiven Unwissenheit des
Volkes war aber nichts leichter, als durch Bestärkung seines Aber-
glaubens in ihm die Ueberzeugung zu befestigen, dass alles Un-
gemach nur von den fremden Eindringlingen herrühre, die es
wagten, dem Willen der alten Götter sich zu widersetzen und an
den von den Ahnen eingesetzten Institutionen zu rütteln; die
lächerlichsten Fabeln,*) in deren Erfindung die mit Schreckbildern
erfüllte Phantasie der gelben Rasse so überaus reich ist, brauchten
nur in einen ganz willkürlichen Zusammenhang mit Aussprüchen
irgend eines alten Schriftstellers gebracht zu werden, um unbe-
dingten Glauben als Wahrheit zu finden. Auf solche Art konnte
die ärgste Verhetzung mühelos betrieben werden.
Den Ausschlag konnte jedoch nur die Haltung des Hofes in
Peking geben und hier lag seit dem missglückten Versuche des
schwächlichen Kaisers Kuangsü im Jahre 1898, sich mit Hilfe
einiger weniger zu Reformen geneigter Würdenträger chinesischer
Abstammung dem Machtgebote der thatsächlich unumschränkt
herrschenden Kaiserin- Witwe Tsi-tsu zu entziehen. Alles zu Un-
gunsten der Fremdensache.
Tsi-tsu soll, niederen Ursprunges, sich durch ihre Schönheit
und eine mit rücksichtsloser Energie gepaarte Klugheit von der
Stelle einer Beischläferin zur rechtmässigen Gemahlin des Kaisers
Hien-Fung aufgeschwungen haben, der auf der Flucht vor den
auf Peking vorrückenden Engländern und Franzosen im Jahre 1860
*) Z. B. die Rohre, durch welche die Fremden sehen, enthalten eine »Medicinc
düc aus den Augen chinesischer Kinder besteht; deshalb trachten die Missionäre, so
vide Kinder aufzunehmen.
2*
20
zu Dschehol in der Mongolei an den Folgen des ausgestandenen
Schreckens starb. Nach anderer Angabe gehörte Tsi-tsu der
herzoglichen Familie Tschao an. Von ihrer ungewöhnlichen Be-
gabung und vor nichts zurückschreckenden Thatkraft hat die
Kaiserin-Witwe in der auf den Tod ihres kaiserlichen Gemahls
folgenden langen Zeit, während welcher sie zuerst 13 Jahre für
ihren minderjährigen Sohn Tung-Tschi und nachdem dieser ge-
storben, während 26 Jahren für ihren Adoptivsohn Kuangsü die
Regentschaft führte, zahlreiche Proben geliefert ; obwohl nach der
Räumung Pekings von den AUiirten zur Regierung zugelassen,
hat sie doch nie die schwere Demüthigung, vor den Fremden
fliehen zu müssen, und den frühen Tod Hien-Fung's vergessen,
den die Eindringlinge verschuldet hatten.
Durch die Niederlagen Chinas in den Kämpfen gegen
Europäer 1860 und 1885, und 1895 gegen das nach europäischem
Muster wehrfähig gemachte Japan von der Nothwendigkeit über-
zeugt, wenigstens in diesem Punkte von den verhasstcn Fremden
etwas anzunehmen, Hess sie die Vicekönige gewähren, ihre Heere
europäisch zu bewaffnen, zum Theile auch durch Fremde mili-
tärisch auszubilden, Arsenale und an den wichtigsten Punkten,
so im Cantonflusse, an der Mündung des Min, am Yangtse und
an der Küste von Petschili moderne Befestigungen anzulegen ; auf
diese Art sollten die Fremden, deren zunehmender Wettbewerb
gerade auf dem lucrativen Gebiete der Waffenlieferung den Ab-
sichten der Kaiserin-Witwe sehr entgegenkam, mit ihren eigenen
Mitteln fernegehalten werden. Unter dem Drucke der Ereignisse
des japanischen Krieges, zu dessen für China noch glimpflichem
Ausgang fremde Mächte mit ihrer Intervention gegen den Preis
wichtiger Concessionen so wirksam geholfen hatten, entstand eine
neue, der Exploitation und dem Kindringen abendländischen
Wissens günstige Aera. Die sich stets (erneuernden Zugeständnisse
an verschiedene Mächte und deren Angehörige, die Abtretungen
von sogenannten Pachtterritorien an Deutschland, England und
Russland verschärften indessen nur die Abneigung der Kaiserin-
Witwe und der streng conservativen Mandschu, derer Apprehensionen
durch die offene Besprechung einer Auftheilung des ganzen
Reiches, in chinesischem Lichte betrachtet, nunmehr wahrhaft be-
gründet erschienen.
Als nun gar Kaiser Kuangsü, dem Einflüsse einer auf-
geklärteren Partei folgend, die sich aus viel herumgekommenen
und mit den Fremden in innigem Contacte stehenden Chinesen
zusammensetzte, den Schritt vorbereitete, aus seiner Schattenrolle
21
herauszutreten und Yuan Schikkai im letzten Augenblicke der
Kaiserin-Witwe den Plan verrieth, brach ihre lang verhaltene
Wuth offen aus, begnügte sich aber diesmal noch mit der strengen
Bestrafung der Berather ihres Adoptivsohnes. Sechs derselben büssten
mit ihrem Leben, Lihungtschang mit der Ungnade und dem Ver-
luste seiner so einträglichen Stellung als Vicekonig von Petschili,
Kang-Yu Wei, der geistige Führer eines werdenden Jung-China,
entfloh noch rechtzeitig. Schon damals, Spätsommer 1898, waren
die Verhältnisse in Peking äusserst gespannt und nöthigten die
Gesandtschaften, zu ihrer Sicherheit eigene Schutzwachen in die
Hauptstadt kommen zu lassen, die den ganzen Winter über blieben
und deren Anwesenheit die Katastrophe hinausschieben half.
Kuangsü war gezwungen worden, die Kaiserin- Witwe in
aller Form sehr demüthig zu bitten, ihn in der Regierung des
Volkes zu berathen, und hatte dadurch endgiltig zugestehen müssen,
dass er in Hinkunft nur mehr seinen Namen für Acte leihen werde,
welche von der Kaiserin- Witwe und ihren reactionären Rath-
j^^ebem ausgingen.
Zu seinem Unglück blieb ihm auch Nachkommenschaft versagt,
welcher Umstand seinem Ansehen auch in den breiten Volks-
schichten schadete.
Einstweilen blieben jedoch gewisse Neuerungen der letzten
Jahre scheinbar unberührt fortbestehen, so namentlich die noch
jungen Lehranstalten in Peking und Tientsin, an welchen fremde
Kräfte hauptsächlich Sprachen, Naturwissenschaften und tech-
nische Fächer lehrten, eine gewiss nicht ohne Einfluss von dort
entstandene Nachbildung der Schulen Japans. Dessen Bestrebungen,
China seine eigenen modernen Errungenschaften aufzupfropfen
und es dadurch zu einer Coalition der zwei Hauptmächte des
äussersten Ostens zu befähigen, wurden viel vermerkt.
Auch in den Aeusserlichkeiten gegen die fremdländischen
Vertreter am Pekinger Hofe trat vorderhand keine rückläufige
Erscheinung zu Tage; der Kaiser empfing am chinesischen Neu-
jahrstage die Gesandten, die Kaiserin-Witwe deren Damen.
So schien sich Alles wieder in dem Geleise einer stetigeren
Entwicklung zu befinden, bis sich zu Beginn des Jahres 1900 zu-
erst Gerüchte von einem nicht natürlichen Ableben Kuangsü's in
die Aussenwelt verbreiteten, denen jedoch der höchst bedeutsame
Act der Namhaftmachung eines Thronfolgers seitens des Kaisers
selbst als Thatsache folgte. In dem betreffenden Decrete bestimmte
der Kaiser unter ausdrücklicher Betonung seines Dankes an die
Kaiserin-Witwe für ihre weisen Rathschläge und mit der Moti-
22
virung, dass ihm das Glück, einen Leibeserben zu besitzen, ver-
sagt sei, den 14jährigen Prinzen Pu Tschun, Sohn des Prinzen
Tuan und Urenkel eines älteren Bruders des Kaisers Hien
Fung zu seinem Nachfolger. An und für sich konnte gegen
diesen, natürlich von der Kaiserin-Witwe ausgegangenen Schritt
kein anderes Bedenken als die Wahl eines noch Minderjährigen
obwalten, dessen Heranbildung in ihrem Sinne die Kaiserin-
Witwe nicht vernachlässigen würde ; bedenklicher gestaltete sich
der Act aber durch den Einfluss, den des Prinzen Vater, ein
bekannter Reactionär, nunmehr in noch erhöhtem Masse gewinnen
musste.
Prinz Tuan war ebenso wie der Mandschu Yung-Lu, der
Generalissimus der chinesischen Armee, und General Tung-Fuhsiang,
der ehemalige Rebell und gegenwärtige Befehlshaber der zumeist
aus Mohammedanern gebildeten Kansu-Brigade, niemals über die
chinesischen Grenzen hinausgekommen, daher über die Aussenwelt
nur in jener nebelhaften, von verachtungsvollem Dünkel erfüllten
Lehre unterrichtet, die alle Fremden als »Barbaren, auf einem
rauhen Fleck Erde ein dürftiges Dasein führend«, bezeichnet.
Yung-Lu huldigte schon wegen seiner Abkunft den rückläufigen
Tendenzen, war im Uebrigen nie besonders hervorgetreten, Tung-
Fuhsiang war seinerzeit erkauft, dann beim Vormarsche der
Japaner zum Schutze der Hauptstadt berufen worden, posirte
daher, trotzdem ein vorzeitiger Friedensabschluss ihn der Gelegen-
heit, Heldenthaten zu vollbringen, beraubt hatte, als Erretter der
Hauptstadt und Dynastie ; seine modern (mit dem österreichischen
8 Millimeter-Repetircarabiner) bewaffneten, ursprünglich 10.000 Mann
starken Truppen standen im Rufe grosser Tapferkeit und waren
auch im Winter 1898—99 in der Nähe Pekings zusammengezogen,
später aber wieder in entferntere Gegenden geschickt worden.
Tung-Fuhsiang war aus dieser letzteren Periode besser bekannt
und galt als sehr energisch, jedenfalls fanatisch in seinem Fremden-
hass und stets bereit zu Gewaltstreichen.
Im Tsungli-Yamen, dessen Präsidium der fremdenfreundliche
Prinz Tsching, gleichzeitig Commandant der auf 7 — 10.000 Mann
geschätzten Pekinger Feldarmee, führte, stand die Zahl der ent-
schieden fremdenfeindlichen Minister jener fremdenfreundlicher
oder wenigstens indifferenter ziemlich gleich gegenüber. Der
Vicekönig von Tschili, Yü-Lü, gehörte zu den blinden Anhängern
der Kaiserin-Witwe, die ihn an Stelle des in Ungnade gefallenen,
später wieder mit der Verwaltung der unruhigen Kwantung-
Provinzen im Süden Chinas betrauten Lihungtschang gesetzt hatte.
23
und zeigte sich deshalb nur insoweit und so lange den Fremden
entgegenkommend, als es ihm die Wahrung äusseren Scheines
gebot; im Uebrigen war er aber der richtige Mann, um zwischen
den Zeilen zu lesen.
Diese Persönlichkeiten spielten in den Ereignissen des
Jahres 1900 die Hauptrollen.
Obwohl wiederholt und kategorisch aufgefordert, den die
Ruhe bedrohenden Umtrieben der im südlichen Schantung auf-
getretenen geheimen Gesellschaften ein Ende zu machen, die sich,
gemeinnützige und humanitäre Zwecke vorschützend, von dort
immer fühlbarer ausbreiteten, verhielt sich die chinesische Re-
gierung doch sehr lau und traf höchstens Scheinmassregeln. Neben
der Vereinigung vom »Grossen Messer« zogen zu Ende der Neun-
zigerjahre die Mitglieder und Verbände des »Ihotuan«, welche
Bezeichnung bald mit »Gesellschaft der Harmonie«, bald mit
»Gesellschaft der geschlossenen Faust« übersetzt wurde, die meiste
Aufmerksamkeit auf sich ; die letztere Uebersetzung im Zusammen-
hang mit der Thatsache, dass sich die Mitglieder dieses Bundes
nebst Zauberkräfte anrufenden religiösen auch Leibesübungen und
dem Fechten mit primitiven Waffen, als selbstgeschmiedeten
schwertartigen Messern und Spiessen, hingaben, brachte ihnen unter
den Fremden den Namen Boxer. An dem ungewöhnlichen Werb-
erfolge, den die Propaganda dieses Geheimbundes hatte, erkannten
die gut unterrichteten Hofkreise bald, dass er in höherem Grade
als irgend einer seiner bisherigen Vorgänger Anziehungskraft auf
das Volk besitze und sich daher voraussichtlich zu einer brauch-
baren Organisation ausgestalten lasse. Thatsächlich gewann der
Bund trotz mancher ihm anfänglich auf Betreiben der fremden
G>nsuln und diplomatischen Vertreter bereiteten Verfolgungen
eine immer raschere Verbreitung; insbesondere wussten seine
Emissäre auf die Jugend begeisternd einzuwirken. Vorgeblich von
den Göttern zur Rettung ihrer bedrängten Brüder aus den Drang-
salen der Fremdenherrschaft und zum Schutze der Dynastie aus-
erwählt, machten die Führer das Volk glauben, dass sie während
des Stadiums der Verzückung, die sie geschickt vorzuspielen
wussten, unmittelbar von den Göttern Weisungen erhielten und
dass ihnen eine übernatürliche Kraft, in die Ferne zu sehen, über
das reine Feuer und zur Ueberwindung aller räumlichen und
zeitlichen Schwierigkeiten zustehe; nach ihrer Angabe waren
alle tauglich befundenen Mitglieder des Bundes vorne un-
verwundbar. Nachdem ihnen noch Missernten gerade in der
Provinz Tschili viele desperate Elemente zugeführt, wurde ihre
24
anfangs auf den Charakter ihrer Wunderbarkeit basirte Agitation
aggressiver; bald überschwemmten sie das Land mit gedruckten
Proclamationen, die jeden mit den schrecklichsten Folgen für
seine und die Personen seiner Verwandtschaft bedrohten, der ein
Exemplar wegwerfen oder gar vernichten sollte, hingegen den-
jenigen, die es verbreiten würden, je nach der Menge der ver-
breiteten Proclamationen, entweder Gefeitsein gegen Unglück in
seiner Familie und an seiner Habe oder grosse Ehren versprachen.
Das Merkwürdigste war aber, dass dieser Bund, welcher
von seinen Mitgliedern die grausamste Verfolgung und Ausrottung
aller Fremden und der zum Christenthum bekehrten Chinesen, die
Zerstörung aller von den ersteren herstammenden Einrichtungen
forderte, nicht allein auf das männliche Geschlecht beschränkt
blieb, sondern auch das weibliche in der Vereinigung der
»Schwestern von der rothen Laterne« umschloss, während sonst
das chinesische Weib von Angelegenheiten der Allgemeinheit
ferngehalten wird. Als Schwestern sollten bloss reine Jungfrauen
aufgenommen werden, denen die Verehrung des Feuergottes und
die Vornahme der Exercitien die (iabe verleihen sollte, ungesehen
weite Strecken und hohe Mauern zu überfliegen, um das rächende
Feuer an irgend einer von einem Führer bezeichneten Stelle zu
legen.
Anfanglich trachteten die chinesischen Behörden die Existenz
des gefährlichen Bundes überhaupt oder doch seine christen-
gefahrlichen Tendenzen zu leugnen ; als dies jedoch unmöglich
geworden, erliessen sie, 11. Jänner 1900, ein sehr zweideutiges
Edict, das die Vereinigung von Leuten zum Zwecke der Unruhe-
stiftung bei strenger Strafe verbot, gleichzeitig aber aussprach,
»dass Leute, die sich nur der Einübung im Gebrauche der Waffen
zum Schutze von Person oder Familie widmen, oder in derselben
Art mehrere Ortschaften zur gegenseitigen Vertheidigung ihrer
Territorien vereinigen, wegen dieses Zweckes der Selbstvertheidi-
gung von strafbaren Uebelthätern wohl zu unterscheiden seien«.
Thatsache ist es, dass über Veranlassung des Prinzen Tuan
die Kaiserin- Witwe eine Abordnung von Boxern im Winterpalcist
empfing, sich ihre Exercitien vorführen liess und sie dann be-
schenkte.
Die ersten von Boxern verübten Mordthaten an englischen
Missionären fielen noch im Jahre 1899 in Schantung vor und ver-
anlassten die Ernennung Yuan-Schikkai*s zum dortigen Gouverneur;
einmal im Besitze eines vielversprechenden Postens, wusste dieser,
dem die Nachbarschaft deutscher Truppen in Kiautschou eine
25
Sinnesänderung angezeigt erscheinen Hess, die unbequemen Boxer-
elemente nach Tschili abzulenken, wo sie von Yülü freundlich
aufgenommen wurden und bald durch den Angriff auf die Jesuiten-
Mission in Ho-kien-fu von sich reden machten.
Im Winter 1900 w^urden die Boxerumtriebe in Tschili immer
fühlbarer und alle Bemühungen der Gesandten in Peking, eine
gründliche Remedur gegen den seine Proclamationen bis in diese Stadt
selbst einführenden Bund zu erlangen, hatten keinen wirklichen
Erfolg, trotz der Warnungen, dass sich die chinesische Regierung
einer Verletzung ihrer vertragsmässigen Pflichten schuldig mache,
wenn sie energische Schritte zur Bekämpfung der fremdenfeind-
lichen Bewegung unterlasse und eventuelle schlimme Folgen sich
selbst zuzuschreiben haben werde.
Schon im März 1900 war von einigen Mitgliedern des diplomati-
schen Corps die Opportunität einer internationalen Flotten-
demonstration und der Heranziehung von Schutzwachen für die
Legationen discutirt worden, jedoch unterblieb einstweilen noch
beides, hauptsächlich wegen der ablehnenden Haltung Englands
und weil einzelne Gesandte in dem Verhalten des Tsungli-Yamen
Anzeichen wahrzunehmen glaubten, dass die chinesischen Behörden
nicht abgeneigt seien, doch energischer einzuschreiten, vor Allem
aber den Schein vermeiden möchten, als ob sie nur einem Drucke
der PVemden nachgeben würden. —
Während Deutschland, England, Frankreich, Russland, Italien
und die Vereinigten Staaten, letztere noch immer wegen der
Pacificirung der Philippinen, ganze Escadren oder wenigstens
Schiffsdivisionen auf der ostasiatischen Station unterhielten, war
die österreichisch-ungarische Kriegsflagge seit Anfang 1900 in
jenen Gewässern nur durch den allerdings leistungsfähigen, ge-
schützten Kreuzer »Zenta«, 2500 Tonnen Deplacement, 21 Knoten
Fahrt, armirt mit 8 Schnelladegeschützen mittleren Calibers,
10 Schnellfeuerkanonen, 2 Gewehrmitrailleusen und 2 Torpedo-
lancir- Apparaten, Besatzung inclusive Commandanten und Stab
rund 300 Mann, vertreten.
Commandirt wurde »Zenta«, die ihre erste überseeische Reise
anfangs November 1899 angetreten hatte, vom k. u. k. Fregatten-
Capitän Eduard Thomann Edler von Montalmar, der sich kurz
vorher während der Wirren auf Kreta bereits ausgezeichnet hatte.
Ende Jänner hatten die schon erwähnten Vorgänge am
Pekinger Hof das Marine-Commando veranlasst, das Schiff in
theilweiser Abänderung seines ursprünglichen Reiseprogrammes
in den chinesischen Gewässern zurückzuhalten ; das stärkere
I Fühlbarwerden der Boxerbewegung in den beiden folgenden
1 Monaten, während welcher ■Zenta- Mittel- und Nordchitia be-
I suchte, wich jedoch bald und schien eine ruhigere Auffassung der
I 5-age gerechtfertigt.
Der Schiffscomniandant war angewiesen, sich stets im Ein-
f vernehmen mit der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft in
1 Peking zu halten und hatte nach dem Abgange des k, u. k. Gl^
I sandten und bevollmächtigten Ministers, Baron Czikann vOtt
I Wahlborn, auf Urlaub, mit -Zenta- zu Hnde April und während
I der ersten Dekade Mai den Yangtsekiaiig bis llankau befahreni
Hier wie im Süden (Elinas bestanden keinerlei beunruhigend«
Umtriebe gegen Fremde.
Mitte Mai schienen auch dem Geachäftiträger in Peking,
dem damaligen LegationssecretUr, seither I^gationsratli Dr. Arthur
von Rosthorn. keine Bedenken gegen eine auf 2Vi Monate ver-
I anschlagtc Kreuzung des Schiffes in den japanischen Gewäasei
27
vorzuliegen und so besuchte »Zenta« in der Zeit vom 14. — 30. Mai
Nagasaki, Kagoshima und Sasebo.
In Sasebo traf am Vormittag des 30. Mai ganz unerwartet
nachfolgende Depesche der k. u. k. Gesandtschaft in Tokio ein:
»Gesandtschaft Peking telegraphirt unterm 28. Folgendes : Ich
bitte Kriegsschiff avisiren, dass ich Ministerium des Aeussern um
sofortige Landung eines Detachements in Taku ersucht habe. Ambro.«
Dieses blitzartig wirkende Telegramm versetzte die ganze
Bemannung in fieberhafte Thätigkeit, um die Kohlen- und Lebens-
mittelvorräthe, die erst in Kobe ergänzt hätten werden sollen und
deshalb augenblicks nur mehr recht schwache waren, in aller
Eile zu completiren, Maschinen und Kessel für die bevorstehende
rasche Fahrt bereitzustellen.
Dank der Zuvorkommenheit der japanischen Behörden
wickelte sich die ganze Verproviantirung glatt ab ; einige hundert
Tonnen Kohle donnerten lustig in die Bunker hinab, Berge von
Kisten verschwanden im Räume und hätte das Schiff noch vor
Mittemacht auslaufen können, doch musste nach dem Wortlaut
der Depesche noch auf einen telegraphischen Befehl des Marine-
Commandos gewartet werden, auch war ein Lotse nicht vor Tages-
anbruch zu haben. Durch die spärlichen Informationen der Japaner,
die ausser der Thatsache von Unruhen in Tschili nichts Concretes
anzugeben wussten, wenig befriedigt, hatte Fregatten -Capitän von
Thomann zwar sowohl nach Peking, als auch nach Tokio telegra-
phische Anfragen gerichtet, bereit, je nach der Natur der Mittheilungen
über die Sachlage auf eigene Verantwortung zu handeln; doch
kam keine Antwort. Nach Mittemacht wurde der erwartete Befehl
des Marine-Commandos an Bord zugestellt, dessen Nachsatz aller-
dings auf eine nicht unbedenkliche Zuspitzung der Verhältnisse
in Tschili hindeutete.
•So schnell als möglich nach der Peiho-Mündung abgehen, im
Einvernehmen mit der Gesandtschaft vorgehen, Schutzdetachement
landen. Bahn nach Peking soll unterbrochen sein.«
Diese Depesche war wohl geeignet, den Verdruss, den
namentlich die jüngeren Elemente darüber empfanden, ein «paar
lumpiger Strassenaufläufe halber, für die die Peitschen chinesischer
Polizei auch noch genug wären«, die schöne Japan-Kreuzung zu
verlieren, in ganz andere Gefühle zu verwandeln ; wenn die Bahn
thatsächlich unterbrochen war, dann stand doch etwas mehr bevor,
als ein paar Monate Stationirung eines Detachements in Peking
wie anno 1898 und das öde Herumliegen auf der trostlosen
Taku-Rhede !
28
Zunächst wurde der Gesandtschaft in Peking der EintrefF-
termin vor Taku, 2. Juni bei Sonnenaufgang, mit dem Ersuchen
bekannt gegeben, durch das Consulat in Tientsin Nachrichten zur
bezeichneten Stunde auf die Rhede senden, Mittel für die Ansiand-
setzung des Detachements in Taku und seine Weiterbeförderung
bereitstellen zu lassen.
Das Detachement für die Gesandtschaft wurde in Analogie
mit dem Präcedenzfalle von 1898 mit 30 Mann bemessen, zu dessen
Commandanten LinienschiflFs-Lieutenant Josef Kollaf bestimmt und
ihm die beiden Seecadetten Richard Freiherr von Boyneburg-
Lengsfeld und Thomas Mayer zugetheilt ; da für seine Ausrüstung
noch die zweitägige Ueberfahrt zur Verfügung stand, erübrigte für
den Rest der Nacht nichts mehr zu thun.*)
Frühmorgens des 31. Mai verliess »Zenta« unter Führung eines
Regierungslotsen die vielfach gewundene, landschaftlich und militär-
maritim gleich interessante Bucht von Sasebo und zog nach
Doublirung der letzten Spitze endlich einmal ihre Siebenmeilen-
stiefel an; das herrlichste Wetter begünstigte die Fahrt und das
Schiff zeigte, dass ihm 17—18 Knoten eben die rechte Fahrt
waren, so leicht durchschnitt es mit seinem scharfen Bug das
Wasser, dass erst weit achter mächtige Wellen sichtbar wurden.
Ein Blick noch nach den reizenden japanischen Inseln und Insel-
chen, die da im Sonnenblink verschwanden, und dann gings an
die Arbeit, alles Nöthige bereitzustellen, damit die vielbeneidete
kleine Schaar wohlversehen in Peking ihren Einzug halten könne.
In Peking? Das schien nicht so einfach, wenn sich die ge-
muthmasste Bahnzerstörung als wahr herausstellte, doch änderte
diese Erwägung vorläufig nichts an den Vorbereitungen ; es handelte
sich nur darum, im günstigeren Falle, dass noch oder wieder
Züge verkehrten, keine halbe Stunde zu versäumen.
Diesmal stand die Sache anders als bei den so oft erlebten
Landungsübungen, wo in wenigen Minuten mehr als doppelt
so viel Streiter für kurze Actionen gerüstet in den Booten bereit-
stehen; da gab's mehr als den Unterschied zwischen blinder
und scharfer Munition zu berücksichtigen, musste man doch
damit rechnen, dass das Schutzdetachement vielleicht monatelang
am Lande werde bleiben müssen. Officiere und Mannschaften für
Peking wurden recht sehr beneidet und die Auswahl letzterer
war schwer, denn plötzlich fanden alle Leute, dass sie eigentlich
an Bord recht gut entbehrt werden könnten.
*) Eine von Dr. von Rosthorn abgesendete Depesche, mittelst welcher er auf
eigene Verantwortung «Zenta« nach Taku berief, erreichte das Schiff nicht mehr.
29
Der Arzt hatte auch eine rechte Mühe, der Wiederkehr
biblischer Heilungswunder vorzubeugen, und dass ihn die Gem-
gesunden nicht gerade als Heiland verehrten, weil er verordnete:
Zurück ins Bett und bleib! — dagegen gab's kein Mittel!
Auf Befehl des Schiffscommandanten wurden ursprünglich
250 Patronen per Gewehr ausgegeben, im letzten Augenblicke
ordnete er aber, einer glücklichen Eingebung folgend, die Ver-
doppelung dieser Dotation und die Mitnahme einer der beiden
Gewehrmitrailleusen mit 4000 Schuss an — beides von grösster
Wichtigkeit, wie sich später herausstellte ! Für die Installirung
der Mitrailleuse sollte Linienschiffs-Lieutenant KoUaf zwar erst in
Peking sorgen, da für sie, die nur zur Abwehr lästiger Torpedo-
boote bestimmt, keine Lafette für Landgebrauch vorhanden war.
Officiere und Mannschaften sollten in Gewärtigung, die Eisenbahn
im Betriebe zu finden, ihre ganzen Effecten, letztere auch ihre
Hängematten mitnehmen und ausserdem einen eisernen Vorrath an
Dauer pro viant für 8 Tage mitführen.
Das Alles, namentlich die Verpackung der Munition und des
Proviantes stand natürlich nicht in der normalen Rolle für »Boote
zur Landung« und brauchte daher mehr Zeit ; wie die Leute jedoch
ausgewählt waren, kamen sie nur mehr zur Nachtzeit aus der
feldmässigen Ausrüstung heraus, nur um sie wieder daran zu
gewöhnen.
Damals flogen viel Scherzworte hin und her, an denen unsere
an Abwechslungen in ihrem vielseitigen Berufe gewöhnten Matrosen
stets einen ausreichenden Vorrath haben; »für jede verschossene
Patrone einen Zopf zurückbringen«, sollte der Detachement-
Commandant versprechen, that's aber nicht, denn er wollte das
schöne Schiff nicht ver — pesten!
Am 1. Juni abends musste die Fahrt reducirt werden, um
die noch von keinem Officier der »Zenta« gekannte Rhede erst
bei Tagesanbruch anzulaufen; als erster Gruss wehte auch schon
ein böiger Südwest daher, einen recht unangenehmen, steilen See-
gang erzeugend, so dass die Aussichten auf eine Landung des
Detachements recht schwankende wurden.
Endlich am 2. Juni, 472 Uhr morgens wurde in der Nähe des
Leuchtschiffes vor der Peiho-Barre geankert; einige englische,
amerikanische, russische, italienische, deutsche und französische
Schiffe,*) fast lauter gute Bekannte von früheren Monaten her.
*) Deutschland: Kreuzer »Kaiserin Augusta« ; England: Schlachtschiff »Cenlurion«,
Flaggcnschiff des Vice-Admirals Sir E. Seymour, Kreuzer »Orlando«, Torpedoboots-
zerstörer »Whiting« und »Fame«; Frankreich: Kreuzer »Descartes« und Kanonenboot
auch ein chinesischer Kreuzer, lagen auf einen jfrossen Raum v
iheilt auf der Rhede und an allen brandete die schmutzig-g-elbe
See recht lebhaft. Ein kleiner, heftig^ schlingernder Schleppdampfer 1
wurde auch gesichtet, aber mit Signalen herbeigerufen, vermochte er 1
kaum sich auf Preidistanz zu halten ; sein Capitän erklärte, keinerlei J
Nachricht für »Zentai zu haben, beantwortete die Frage nach dem J
Zustande der Eisenbahnverbindung unbestimmt dahin, dass er I
glaube, sie sei wiederhergestellt. derTelegraphfunctionire jedoch ge-|
wiss, wusste im Uebrigen keine detaillirten Angaben über diel
Lage in Peking zumachen und drängte schliesslich, dass man ihn!
nach Tongku zurückfahren lasse, bevor das Wasser wieder falle. |
Unter solchen recht ärgerlichen Umständen und angesichts 1
der Unmöglichkeil, das Delachement mit den eigenen Booten 1
dem herrschenden Seegang ans Land zu setzea. entsendel
Fregatten-Capitän von Thomann den Linienschiffs- Lieutenant Kolla
auf diesem Tender mit dem Auftrage nach Tongku, sich
nöthigen Informationen vom Lande einzuholen und alle AnstaltJ
zu treffen, damit das Delachement ehethunlichst, wenn moglid
schon beim Nachmittags-Hochwasser gelandet werden könne,
lange musste man sich einstweilen wohl oder übel gedulden.
■SoiprUct: lulien: Kreuier nElha^ und •CalubrU.i Rusalao.l: Scillae bisi^hill •Sis«
Weliki', Pkggcaaclitft des Conlic-Adniinils nUleliruailt, Kicuict iDimllri Dunske)«,!
PitiuerkaonnpiibotK >GmQJaIctii*. Tocppilobooliiäiter ■VniliiU:' und «Gtidanukkt; V«^
Als später Wind und Seegang' etwas nachliesstn, wurden
von den zur BecompUmentirung erschienenen fremden Officieren
endlich Nachrichten über die Ereignisse in den letzten Tagen
überbracht, die zwar wenig zusammenhängend, doch über den
Hauptpunkt beruhigten : «Zenta- war noch rechtzeitig eingetroffen.
Einer der ersten becomplimentirenden Officiere war jener
vom chinesischen Kreuzer »Hai-Tien«, auf dem Contre-Admiral
Yih Choo Kwee seine Flagge führte; in seinem besten Pidgin-
Englisch erklärte der kleine Marine- Elegant höchst emphatisch,
ilass an allen den schlimmen Gerüchten nichts Wahres sei, nur
•one litti boy« sei aus purem Versehen getödtet worden — beinahe
liätte er noch hinzugefügt, dass es ihm aber schon besser gehe !
Seine später kommenden Collegen wussten freilich nicht so Harm-
luses iu berichten.
Weder in Peking noch in Tientsin waren zwar bisher Ruhe-
störungen vorgefallen, doch seien die europäischen Bahnbe-
diöisteten in Paotingfu und Tschang-schin-tien durch Boxer vertrieben
und in letzterem Orte auch ihre Häuser zerstört worden; die
flüchüinge von Tschang-schin-tien seien durch zu ihrer Unter-
stützung von Peking aufgebrochene bewaffnete Europäer wohl-
behalten dahin geleitet worden, hinsichtlich der Flüchtlinge von
Pantingfu fehlten aber beruhigende Nachrichten.
Die Bahnverbindung Fengtai-Paotingfu sei definitiv unter-
I brochen, auf der Linie Peking — Tientsin hätten Boxer am 28. Mai
32
die Station Fengtai zerstört und sei der Verkehr auf dieser Linie
zwei Tage lang unterbrochen gewesen, seit dem 30. Mai aber
wieder aufgenommen. Die telegraphische Verbindung mit Peking
und Tientsin wäre nie gestört gewesen, wohl aber der Verkehr
mit der Station in Tongku recht schwierig und zeitraubend.
Die fremden Gesandten hätten von der chinesischen Regierung
energische Massregeln zum Schutze der Fremden gefordert,
die Zulassung eigener Schutzdetachements für die Legationen
jedoch nur mit Mühe erreicht. Als erste Schutztruppe wären am
30. Mai morgens 50 Amerikaner von dem Kreuzer »Newark«, am
Abend desselben Tages 75 Franzosen, 40 Italiener und 70 Russen
und am 1. Juni morgens 25 Japaner und 50 Engländer nach
Peking abgegangen.
Auf die unter der Führung des russischen Militär-Bevoll-
mächtigten, Oberst Wogack, ans Land setzenden Lichterboote der
französischen, italienischen und russischen Detachements sei von
den Taku-Forts aus geschossen worden, so dass sie ankern mussten
und die Fahrt erst unter dem Deckmantel der Nacht flussaufwärts fort-
setzen konnten. Der deutsche Kreuzer »Kaiserin Augusta« habe
50 Mann vom Seebataillon aus Tsingtau gebracht, um sie sobald
als möglich auszuschiffen. Innerhalb der Flussmündung lägen zum
Schutze der Bahnstation Tongku die Kanonenboote »Atago«
(Japaner), »Iltis« (Deutscher), »Korejec« (Russe) und der Sloop
»Algerine« (Engländer).
Am 30. Mai habe der englische Gesandte um rasche Ab-
sendung von Schutztruppen, erste Staffel aller Nationen zusammen
mindestens 500 Mann, telegraphirt, da »Leben und Eigenthum der
Europäer in Gefahr«.
Seit der Wiederherstellung der Bahn habe sich jedoch die
allgemeine Auffassung der Lage wesentlich beruhigt und sei man
der Ansicht, dass das prompte Erscheinen der Schutzdetachements
genügenden Eindruck auf die chinesische Regierung und Be-
völkerung gemacht habe, um ernstere Ruhestörungen zu verhindern.
Erstere habe auch durch Entsendung regulären Militärs zum Schutze
der Bahnlinien und Missionsanstalten ihre loyalen Absichten dar-
gethan — allerdings stand dem wieder das Gerücht entgegen, ein
grosser Theil dieser Truppen sei zu den Boxern übergegangen
oder verübe auf eigene Faust Gewaltthätigkeiten.
Inzwischen hatte »Zenta« alle international üblichen Salute ab-
gegeben; nachmittags verschlechterte sich wieder das Wetter, so
dass der Bootsverkehr zwischen den Schiffen schon sehr
schwierig wurde.
^u^
33
Gegen 5 Uhr nachmittags kehrte Linienschiffs - Lieutenant
KoUaf mit einem grossen Tender zurück; ausser der Meldung,
dass am nächsten Morgen um 4 Uhr ein Tender zur Ueberführung
des Detachements nach Tongku eintreffen werde, überbrachte er
Nachrichten, die das schon Bekannte in seinem Wesenthchen be-
stätigten, zwei Schreiben des mit der Vertretung österreichisch-
ungarischer Interessen betrauten königlich englischen Consuls Carels
in Tientsin und eine Depesche des k. und k. Geschäftsträgers in
Peking. Letzterer hatte, da die Gesandtschaft augenblicklich über
kein Personal verfügte, dem englischen Consul in Tientsin die Ein-
leitung des Transportes des von »Zenta« auszuschiffenden Detache-
ments übertragen; diesem war es zwar gelungen, den Eisenbahn-
zug schon am 2. Juni früh bereitzustellen, doch hatte er kein Mittel
mehr gefunden, dem Schiffe beim Eintreffen auf der Rhede
diese Nachricht zukommen zu lassen. Eine Ausschiffung des
Detachements noch am Abende des 2. Juni wäre zwecklos ge-
wesen, da keine Nachtzüge verkehrten.
Dr. von Rosthorn ersuchte in dem Telegramme den SchiflFs-
commandanten um eine mündliche Besprechung und da nach den
vorliegenden Nachrichten die Bahnverbindung mit Peking als ge-
sichert zu betrachten war, zögerte Fregatten- Capit an von Thomann
nicht, diesem Ersuchen nachzukommen und sich zu diesem Behufe
nach Peking zu begeben.*)
Der Commandant der »Zenta« beauftragte den Verfasser dieser
Zeilen, ihn auf dieser dienstlichen, voraussichtlich zwei, höchstens
drei Tage beanspruchenden Mission zu begleiten ; zur Vermeidung
unnöthigen Aufsehens wurde-die Reise in Civilkleidung unternommen.
Wer war froher als ich, der auf diese Art Peking gerade
zu einer so interessanten Zeit, wenn auch noch so flüchtig kennen
zu lernen Gelegenheit fand!
Die Leute hatten bei Kollaf Rückkehr sehr lange Hälse
gemacht und waren die für die Legation Bestimmten nun eitel
Freude, als sie erfuhren, dass am kommenden Morgen wirklich
und wahrhaftig die Reise nach dem sagenhaften Orte gehen
werde ; da wollten sie schon gerne im »Consulat« Wache stehen
*) Englische Berichterstatter, Sir Claude Macdonald selbst, der Times-Corre-
$pondent und der Gewährsmann eines Shanghaier Tagesblattes gefielen sich darin, die
jeder Grundlage entbehrende Notiz zu colportiren, dass P'regatten-Capitän von Thomann
lediglich zu seinem Vergnügen und aus eigenem Antriebe nach Peking gefahren sei;
der letztgenannte Correspondent fügte seinem überdies schon durch die Angabe ge-
nügend gestempelten Artikel, von Thomann habe am 26. Mai sein Schiff verlassen, noch
Anspielungen auf die Folgen bei, welche den Schiffscommandanten wegen dieses »gegen
Befehl« unternommenen Ausfluges erwarten.
Winterhaider: Kampfe in China.
34
und unter das gelbe Lumpenpack dreinfahren, wenn's nicht schön
brav bliebe. Natürlich discutirten Wissensdurstige unter ihnen
lebhaft, ob es in Peking auch »Landgang«, das heisst Erlaubniss
auszugehen, geben würde, denn sich im Palankin tragen lassen,
Rickshaw fahren oder gar einen Vierfüssler unter sich in Galopp
setzen, dass Alles erschreckt zur Seite stiebt, das sind doch die
schönsten Augenblicke im Matrosenleben, schon gar in einem
Land, wo »un goto de vin« (ein Glas Wein, ohne den der Küsten
länder nun einmal nicht leben kann) gleich ein Vermögen kostet!
In den Messen wurden, nachdem eine letzte Besichtigung
ergeben hatte, dass nichts an der Ausstaffirung des Detachements
fehle und Alles in schönster Ordnung bereit liege, die auf längere
Zeit Scheidenden gefeiert; trotz der Ermüdung nach einem langen
Tage voll Mühe und Sorge Hess die Hauptperson, KoUaf, es nicht
an Heiterkeit fehlen und ihm — insgeheim neidisch — nochmals
alle Genüsse des vergleichsweise doch comfortablen SchiflFslebens
anbietend, waren seine Kameraden nicht minder fröhlich und —
erfindungsreich in Politik und Strategie ! — Vorderhand wünschte
Jedermann nur Eines: dass es morgen endlich etwas ruhigere
See machen möge, denn sonst war die Ueberschiffung recht eklig
und auch ansonst war es total ungehörig, vor Anker ganz blöd-
sinnig zu rollen. Mit diesem gegenseitigen Wunsch, den der
Gesammt-Detail-Officier wohl in banger Ahnung um seine schönen
Boote und Fallreepstreppen mit einem zweifelnden Seufzer be-
gleitete, begab sich zur Ruhe, wer durfte.
Am 3. Juni, Pfingstsonntag, stand Alles zur Ueberschiffung
bereit, natürlich viel früher, als der von der Schlepper- und
Lichtergesellschaft in Tientsin versprochene Tender in Sicht kam ;
in der Nacht hatte es eine tüchtige Böe gesetzt und der zweite
Anker geworfen werden müssen. Das Anlegen des Tenders war
unmöglich, denn obschon die südwestliche Brise abflauen zu wollen
schien, schlug noch manche See zu den Erkern hinauf und so
erübrigte nur, den kleinen Dampfer achter zu nehmen, Leute und
Material in die Boote über Deck aus einzuschiffen und die Boote
dann mit Leinen auf- und abzuholen.
Endlich kam der »Peiho« in Sicht, übernahm ein schweres Ende
und nun ging das Vergnügen los; die Boote flogen, von der See
gehoben und geworfen, trotz aller Bemühungen der Bemannungen,
sie freizuhalten, krachend gegen die Bordwand und Mancher, der
den richtigen Augenblick verpasste, um den Sprung von der
baumelnden Jakobsleiter in das auf- und abtanzende Boot ohne
Rücksicht auf schon »eingestiegene Fahrgäste« zu wagen, genoss
35
ein Halbbad. Dann kam der zweite, viel leichtere Act der Er-
steigcung" des Tenders, denn dort erwarteten schon mit diesem
Sport vertraute flinke Chinesen die ersten Ankömmlinge und
halfen ihnen über das niedere Bollwerk. Diese Chinesen!
Vorzügliche Bootsleute, denen Wetter und See nichts anzuhaben
scheinen, sind sie auf der Taku-Rhede geradezu unentbehrlich,
denn europäische Bemannungen wären für den Betrieb der kleinen
Dampfer und Lichterboote unerschwinglich theuer! Es liegt eine
eigene Ironie darin, bei seinem ersten Schritt, um an ein Land zu
gelangen, in dem wir möglicherweise sehr ernsten Dingen entgegen-
gehen, so auf die Mithilfe seiner Bewohner angewiesen zu sein ;
von dem geschickten Auffangen der zugeworfenen Leine, die den
von chinesischen Matrosen und Heizern bedienten Tender mit dem
Schiffe verbindet, bis zum Eintreffen in der Legation in Peking
waren es immer nur dienstfertige, flinke Chinesen, die die Be-
förderungsmittel bedienten und alle die untergeordneten, aber
nothwendigen Handreichungen leisteten!
Die Einschiffung auf den Tender ging trotz des mancherlei
Gepäcks in der allerdings langen Zeit von IV* Stunde ohne Ver-
lust oder Unfall vor sich und um 6V4 Uhr früh wurde das Ende
losgeworfen, »Peiho« setzte langsam in Bewegung, die Schiffs-
bemannung grüsste die Scheidenden mit den üblichen kräftigen
Hurrahs und von einer dwars hereinschlagenden See bespritzt,
beantworteten die »Schutzleute« lachend den Gruss. Wegen des
Seeganges musste vorerst mit halber Kraft gefahren werden, bis
eine Cursänderung innerhalb des betonnten Fahrwassers gestattete,
mit See von achter die ganze Dampfkraft anzuwenden.
Ein amerikanischer Officier — der Flaggen-Lieutenant des
Admirals — der Depeschen aufgeben wollte, hatte sich ange-
schlossen und bestätigte, erst am Vortag von Tientsin zurück-
gekehrt, die bisher uns zugekommenen Nachrichten. Gesprächs-
weise wurde auch des Einflusses gedacht, den das Wetter auf die
Emteaussichten des von einer erschreckenden Dürre heimgesuchten
Landes und damit auch auf das Umsichgreifen des Boxeraufstandes
ausübe ; einige Tage ausgiebigen Regens und die jetzt verzweifeln-
den Bauern würden den Vorspiegelungen der hetzenden Boxer
nicht mehr glauben, dass der Himmel sich weigere, sich mit der
durch die Anwesenheit der Fremden verunreinigten Erde zu ver-
mählen!*)
Sehr begierig blickten wir Alle in der Richtung des Landes,
das erst nach halbstündiger Fahrt als in der Farbe kaum merk-
♦) Dies die gewiss nicht unpoetische Auffkssung der Chinesen vom Regen.
3*
lieh vom Wasser untersclieidbnrer, ganz flacher Streifen aus dem
ebenfalls missfarbigen Morgennebel auftauchte. Näherkommend,
nahm man endlich die regelmässigen Contouren des Südforta
wahr, dann stieg das Nordforl herauf, gelbbraune Lehmwerke, aua
dem erdigen, schmutziggelben Weisser hervorragend, als seien
es nur erstarrte Wellen : die Scenerie belebte sich durch
Schlamme festgefahrene Dschunken beiderseits des Fahrwassers,
die beste Methode, das Ankern zu ersparen, dann aber, als die
Verbindungslinie der Forts überschritten und der Blick auf das
rege Treiben im Flusse fällt und man in nächster Nähe über sich
an allen Seiten nur Casematten und meistentheils ganz moderne
Geschütze auf die Einfahrt gerichtet sieht, kommt man zum Be-
wusstsL-in, was ein richtiger SnhlüssL-Ipunkt ist! Wenn die gelben
Kerle in ihren blauleinenen Blousen und weiten Beinkleidern, di^
da oben Posten stehen oder neugierig gaffend müssig ihre Pfeift
rauchen, nur etwas Herz im Leibe haben und nur einigermasftei
ihr Soldatenhandwerk verstehen, so gibt's hier kein Forciren
keine Landung, dann muss man weit ausholen, um den blauei
Drachen im gelben Feld, der da von den Flaggenmasten weht;
herunterzuholen und durch ein ruhmvolleres Zeichen zu ersetzen
.Selbst die kleinen Schiffe könnten nicht ungestraft heran, wenn Minei
da ausgelegt würden, und wie schön schulmässig würden sich di
(ieschütz und Mine gegenseitig ergänzenl
Der Anblick wirkte, wie gesagt, nicht erfreulich, aber dil
Anwesenheit der vier fremden Kanonenboote, die die gefährliche
Schwelle doch schon überschritten hatten und nun schön verthci^
vor Anker lagen, um die schwächer, wenngleich noch immer gaa
87
respectabel vertheidigten Kehlen der Werke vorderhand nur
•einzusehen«, hatte etwas ungemein Beruhig-endes. Auf die
Kanonenboote und ihre Bemannungen kann man sich verlassen;
dies Gefühl hatten wir sicher Alle.
nun
ging's weiter hin-
auf, links das grosse
Fischerdorf Taku,
schmutz! ggetbe Erde, sol-
cher Sand, schmutziggelbe
Lehmhütten undnochschmutzi
gere gelbe Menschen, zumeist
nackte Kinder, die in diesem
Pfuhl gleichwohl ausgelassen
heiter tollen, und halbnackte
Schiffer, Fischer, Arbeiter und
Verkäufer; kein grüner Halm, geschweige denn Strauch oder
Baum bis zu dem ärmlichen Gärtchen des «Hotel Taku« — einem
Object kühner Speculation auf den Durst einiger Dampfercapitäne,
Stromwächter und der wenigen Europäer in zwei Schiffswerk-
38
Stätten. Vier chinesische Hochsee-Torpedoboote, erst vor Kurzem
aus Deutschland gebracht, liegen, schon sichtlich angekränkelt von
der chinesischen Behandlung, fest im Uferschlamm, ein kleiner
Kreuzer; noch nicht vollendet, sieht noch melancholischer aus.
Aber welch ein Treiben! Je mehr man sich dem am linken
Flussufer gelegenen Tongku nähert, wo der Umschlagplatz von
Eisenbahn auf Dampfer sich schon von Weitem durch den wohl-
bekannten geschäftigen Lärm knarrender Krahne, polternder
Lasten und surrender Dampfspille verräth, desto mehr tritt der
europäische Apparat für Bahn- und Seeverkehr hervor.
Ich kann nicht umhin, hier eine Episode einzustreuen, welche
auf die den Japanern angeborene militärische Spürwuth hindeutet.
Der Stab hatte einen sich als Compradore (Einkäufer) meldenden
Besitzer eines kleinen Hotels in Nagasaki für die Japan-Kreuzung
aufgenommen; Katsutaro erklärte in Sasebo, auf eigene Gefahr
ohne Separatansprüche auch nach China mitzugehen, und war auf
dem »Peiho« mitgekommen, um in Tongku oder Tientsin Lebens-
mittel einzukaufen.
Kaum hatte er die Forts erkannt, so zeichnete er auch schon
ihre Umrisse, zählte die Geschütze, Casematten und Traversen
und war von dieser mit seinem gastlichen Gewerbe so gar nicht
zusammenhängenden Beschäftigung derart erfüllt und begeistert,
dass er für nichts Anderes mehr empfänglich schien. Ob die
japanische Regierung ihm für seinen werthvollen Bericht Dankbar-
keit erwies, ist unbekannt. Katsutaro kehrte in der zweiten Hälfte
Juni zurück, nachdem es keine Commissionsprocente mehr zu ge-
winnen gab.
Gleichzeitig mit dem »Zenta«-Detachement war auch das
50 Mann starke deutsche mit einem anderen grossen Lichter in
Tongku angekommen, wo sich die Einwaggonirung beider Ab-
theilungen rasch vollzog.
Das einzige Auffallige an diesem von Geschäftigkeit wimmeln-
den Platze war, dass der Bahnhof von chinesischem Militär, mit
modernen, allerdings etwas verwahrlost aussehenden Gewehren
ausgerüstet, besetzt war; seine Haltung war die apathischer
Gleichmüthigkeit — nicht einmal das typische Geschwatze hub
an, als die fremden Soldaten an ihnen vorüberzogen, ein Zeichen,
dass sie strengen Befehl hatten, sich vollkommen ruhig und mög-
lichst würdevoll zu benehmen. Die Constabler des deutschen und
englischen Consulats in Tientsin waren hergesendet worden, um
bei der Abwicklung der Geschäfte mit dem chinesischen Stations-
personal zu helfen, die einfacher als erwartet vor sich ging.
Die Commandameii der deutschen Kriegsschiffe »Kaiserin
August»' und •Iltis«, Capitäii zur See Giilich und Corvetten-Capitän
Lans. waren auf den Bahnhof gekommen und namentlich letzterer
sprach sich auf Grund persönlicher Wahrnehmung-en sehr zuver-
sichtlich aus. Mit dem Führer des deutschen Detachements, Ober-
lieutenant Graf Alfred Soden, wurden hier die ersten Beziehungen
angeknüpft, die sich in der Folge zu einer herzlichen Kamerad-
schaft entwickelten.
Mit einiger Verspätung setzte sich der Zug, in dem sich viele
Chijiesen und nur einzelne nach Tientsin reisende Europäer be-
fanden, endlich gegen lO'.'i Uhr Vorm. in Bewegung; die Gegend
bis Tientsin bot nicht viel Abwechslung gegen das unfreundliche
Bild an der Flussmündung. Dürres, gelbes Sandland, von Tümpeln
unterbrochen, dess.-n Anblick ikirch dit- blauen Fensterscheiben
der Waggons wohl weniger schmerzhaft für lÜe Augen, darum
aber noch immer nicht freundlicher wurde: als Abwechslung nur
viele Windmühlen, die das Seewasser in die Salzpfannen pumpen,
und grosse Salzhaufen.
Von Tientsin selbst war ausser dem bemerkenswerthen Um-
fcng der Stadt vom Bahnhofe aus nur wenig zu sehen, ausserdem
wurde die allgemeine Aufmerksamkeit durch den herzlichen
Empfang gefesselt, den die nahezu vollzählig erschienene deutsche
Colonie. darunter viele Damen und Kinder, ihrem durchfahrenden
Detachement bereitete; von den in verschwenderischer Menge
herbeigebrachten Stärkungen boten die liebenswürdigen Wirthe
«uch den nicht angesagten österreichisch- ungarischen Matrosen
gleich herzlich wie massenhaft an. In aller Eile — der Aufenthalt
währte nicht länger als 10 Minuten — wurden Bemerkungen über
dte Aussichten ausgetauscht, auch hier Alles in gehobenerer
Stimmung. Mr. Carels hatte sich durch seinen Secretär ent-
schuldigen lassen, dass er durch den Besuch des i^nfflischen Vice-
Admirals verhindert sei, zur Bah« zu kommen. — Ein plötzlich
niedergehender tüchtiger Regenschauer beendete die lebhafte
Canversation und schon ging's vveiter.
Zwei in Tientsin eingestiegene Passagiere, der erste Secrctir'
der belgischen Gesandtschaft, Chevalier de Melotte, und der
Secretär der deutschen Legation, Herr von Bergen, machten uns
im Laufe der Fahrt mit manchen Details aus den letzten Tagen.
bi'kannt; die Wiederherstellung der Bahn h.iite die Befürchtungen
zerstreut. Momentan war man nur um das Schicksal der Flücht-
linge von Paotingfu besorgt, über die noch immer Nachrichten
fehlten und zu deren Aufsuchung von Tientsin eine (rruppe be-
waffneter Europäer und euiige (von »Gremja-ACiji. aus Port Arthux
gebrachte) Kusaken aufgebrochen waren.
Der Charakter der Landschaft änderte sich erst nach dent
Passiren der grossen Brücke bei Vangtsun. Dort war scheinbar
lange kein erquickender Regen niedergegangen, ivenigstens
deuteten die Staubwolken, die jeder Sichelstrich arbeitend«
Bauern aufwirbelte, darauf hin — was diese armen Leute jedoch
mähen wollten, war selbst auf die kurze Entfernung- von 30 Schritten
nicht auszunehmen, Grössere Dörfer, mit hohen Bäumen um-
päanzt, und bald hier und dort ein Grabhain unterbrachen die
Monotonie. An den Stationen überall Militär, das neug-jerig- den
Zug und seine Passagiere musterte, wohl auch grinsend kleine
Geschenke in Form von Cigaretten und Esswaaren annahm; alle
halten die Verschlüsse der Gewehre sorjerfaltig- mit Lappen um-
wickelt, wohl auch über die Patronengürtel derlei Zeug- gehängt,
um sie vor Staub zu schützen. Sehr iroponirend sahen diese
Krieg-er zwar nicht aus, doch machten sie viel mehr den Eindruck
von Felilsoldalen als die in manchen anderen Gegenden Chinas
Besehenen Garnisonen,
Nur ein Europäer befand sich als Zugsführer unter dem
(faii?.en Zug-spersonale ; er und die chinesischen t'onducteure er-
■•«chtt^n dringlichst, die Leute während der Haltepausen nicht aus
den Waggons steigen zu lassen — wahrscheinlich aus Besorgniss
rur einer plötzlich entstehenden Streitigkeit mit den chinesischen
Soldaten.
In Fengtai, der letzten Station vor Matschapu-Peking. sah
man zum erstenmale Spuren der Boxerthätigkeit : das Heizhaus
mid ein Theil des Stationsgebäudes selbst waren verbrannt, auch
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die Reste eines demselben Schicksal anheimgefallenen Waggons
standen auf einem Stockgeleise.
Nach kurzer Fahrt lief der Zug gegen 3 Uhr nachmittags
auf der Endstation Matschapu ein; in der Ferne waren die hohen
Mauern Pekings sichtbar geworden, doch die bevorstehende Aus-
waggonirung lenkte einstweilen die Aufmerksamkeit ab. In dem
Gewühl von Menschen wurden einige Europäer sichtbar, der kaiser-
lich deutsche Gesandte Baron Ketteier mit den Herren seiner Legation,
die ihr Detachement einholten. Ein junger Mann in Reitkleidern
kam auf uns zu und hiess uns als Landsmann willkommen; es war
Herr Eugen Wihlfahrt, Beamter der russo-chinesischen Bank, dessen
Vielseitigkeit und Energie wir später noch sehr hoch schätzen
lernten, nachdem uns sein Entgegenkommen schon so freudig
berührt hatte. Er überbrachte uns einen Brief von Dr. von Rosthorn,
der als alleinige Amtsperson die Legation zu dieser Tageszeit nicht
auf mehrere Stunden verlassen konnte. Mit Herrn Wihlfahrt's
Beihilfe gelang das schwierige Stück, unter den Hunderten von
sich drängenden Fuhrleuten und Lastträgern Auswahl zu treffen
und die Bagage vollzählig in einen geschlossenen Zug zu vereinigen,
ohne viel Zeitverlust; er und sein Begleiter, M. Fliehe von
der französischen Gesandtschaft, stellten den Officieren auch Pferde
bei, damit sie einen würdigen Einzug halten könnten. Bis zum
Südthore der Chinesenstadt, dem Yungting-men, fuhr die Mannschaft
in der elektrischen Trambahn, so Mancher von ihnen wohl zum
erstenmale in einem derartigen Vehikel; von da an marschirten
das deutsche und das österreichisch-ungarische Detachement, an
der Spitze Freiherr von Ketteier, gemeinsam in das eigentliche
Peking ein. Der Weg durch die Chinesenstadt zwischen dem
Himmels- und dem Ackerbautempel hindurch war noch relativ
frei ; in der Nähe der Tartarenstadt, wo die schönen und reich-
geschmückten Kaufläden eine gerade Zeile bilden, begann der
Zulauf neugieriger Zuschauer grosse Dimensionen anzunehmen
und konnten diese nur durch das rücksichtslose Einschreiten der
Strassenpolizei, die von Stöcken und Peitschen einen recht frei-
gebigen Gebrauch machte, zum Freihalten des Weges gebracht
werden. Doch waren weder unfreundliche Gesichter noch die be-
leidigenden Zurufe, die wir von anderen Gelegenheiten her kannten,
zu bemerken.
Das Imposanteste für den ankommenden Fremden ist der
Anblick der Stadtmauer, welche die Tartarenstadt umgibt, und
speciell des grossen südlichen Mittelthores Tschien-men; die mäch-
tigen Dimensionen und der gute Bauzustand stechen auffallig von
der Umgebung ab. Diese Thoranlage bildet ein grosses Viereck,
dessen nördliche und südliche Mauer von einem mehrstöckigen
Wachgebäude gekrönt ist: das südliche äussere, unter normalen
Verhältnissen verschlossen gehaltene Thor zu passiren, ist ein
geheiligtes Vorrecht des Kaisers und seiner Familie, der gewöhn-
liche Verkehr geht zu beiden Seiten desselben auf mit ge-
waltigen, eisenbeschlagenen Thoren absperrbaren Wegen in den
Hof und von da führt die Strasse wieder durch ein schweres
Thor nordwärts in die Tartaren Stadt.
Unter dem Klange der deutschen Trommeln und Pfeifen —
■//■lU.i. h^U:- |.-iil..T ihr.'u i-iTuiürd Spirlm.-inn niilit ril>g.'hen
können — wurde durch die Thore vorbei an noch viel weniger
reputirlich aussehenden chinesischen Soldaten, als die bisher ge-
sehenen, einmarschirt ; die beiden kleinen Schaaren machten sicht-
lich auf die Menge Eindruck. Aber auch das eben durch schritten e
Thor verfehlte nicht seine Wirkung auf die Einziehenden — wenn
es sich vielleicht hinter uns schliessen sollte, würde es doch ein
hartes Stück Arbeit sein, sich den Rückweg hindurch zu bahnen!
Kurz vor ö Uhr nachmittags traf das Detachement in der
österreichisch-ungarischen Gesandtschaft ein; Legationssecretär
Dr. von Rosthorn und seine Gemahlin empfingen die Ankömm-
linge aufs Herzlichste und ihnen ist es zu danken, dass sie sich
von der ersten Stunde an auf heimatlichem Boden fühlten.
Herr van Rosthorn blickte zur Zeit, als wir ihn kennen Ii;Tntcn, I
bereits auf eine zwanzigjähre Erfahrung in China zurück. Ursprüng-T
lieh in Diensten der kaiserlichen Seezollverwaltung, dieser in ihrerfl
Art einzig bestehenden und dank dem internationalen Charakterl
des Beamten körpers so hervorragend functionirenden Institution,!
hatte er sich auf den verschiedensten Posten im Inneren, wie den I
weltentrückten Tschunking und Itschang. die wegen der gänuia
Isolirung hohe Anforderungen an die Hnergie, Initiative und Ge4
schicklichkeit im Verkehr mit den Landesbehörden stellen, und in d«
Vertragshäfen an der ganzen chinesischen Küste nicht nur eine gründJ
liehe Kenntniss der Wrhältnissc di-s Landes und seiner Bewohnoif
r.«rworben, sondern auch, durch die Geschichte und Lileralur Chinal
mächtig angeregt, einen bedeutenden Namen als Sinologe gemacbcJ
Ausser diesen werlhvollen Errungenschaften verfügte er noch Qbrd
viele Beziehungen zu den officicllen und sonst hervortretenden Poi
eönlichkeiten einheimischer und fremder Abstammung, wt-Iclie an dor
Entwicklung und Erschliessung des himmlischen Reiches eine Rolle
hpiviten, so dass, alsOesterreich-Ungarn eine ständige Gesandtschaft
am Pekinger Hofe schuf, kein berufenerer Mann als er zum ersten
Secretär gewählt werden konnte, Ende 1896 trat Herr von Rosthom
somit in den diplomatischen Dienst seines Vaterlandes über.
In Frau von Rosthom. die vor fünf Jahren dem weitschich-
tigen Vetter als Gemahlin in die an nicht alltäglichen Ereignissen
w reiche Fremde gefolgt war, lernten wir schon in der ersten
Viertelstunde die blühende Incarnation der Vorzüge der Frauen
Wiens hochschätzen: aus jedem Worte sprechende, weltläufige
Klugheit verlieh ihrem so frischen, anmuthigen und bei aller
natürlichen Liebenswürdigkeit doch so energischen Wesen einen
gaoi besonderen Zauber, Sie war es auch, die uns persönlich mit
(Ivr nruen Umgebung bekannt machte.
46
Die Gesandtschaft war die neueste unter allen und das
Ministerhaus als das schönste europäische Gebäude in Peking be-
kannt; ihre Lage an der äussersten Nordostecke des sogenannten
Legationsviertels an der Kreuzung der von der Kaiserstadt
östlich führenden Tschangan-Strasse mit der unter der familiären
Bezeichnung »Bob-Lane«, auch Customs-Strasse bekannten, bot
mancherlei unter den verschiedenen Witterungsverhältnissen
schätzbare Vortheile, hingegen auch den grossen Nachtheil der
Isolirung.
Das nächste von Europäern bewohnte Gebäude, das General-
Inspectorat der kaiserlichen Seezölle mit dem Privathause des
General-Inspectors Sir Robert Hart, lag einige hundert Schritte
weiter südlich und an der Westseite der Strasse ; im Osten grenzte
die Legation an einen verlassenen, sehr ausgedehnten Prinzen-
palast (Fu), als Gegenüber hatte sie einen ummauerten freien Platz,
in dem sich eine ziemlich verwahrloste prinzliche Grabstätte be-
fand, während sich im Süden ein Gewirre von kleinen Chinesen-
häusern anschloss.
Schon beim Einmärsche war die für Pekinger Verhältnisse
vielbedeutende Neuerung der macadamisirten Strasse im Legations-
viertel angenehm aufgefallen ; auch die Customs- und die Tschangan-
Strasse waren eben in moderner, für den Verkehr so wohlthuen-
der Weise umgestaltet worden und um den Eindruck vollzu-
machen, dass der Fortschritt sogar schon innerhalb der Mauern
der lange vor dem Fremden gehüteten Capitale eingezogen,
glänzte das Leitungsnetz einer die Legationen mit Licht ver-
sehenden elektrischen Anlage über den Strassen. Ja, trotz dem
Widerstände der Karrenbesitzer war vor etwa zwei Monaten ein
Rickshaw-Unternehmen durchgedrungen, dessen Vehikel sich an-
scheinend schon grosser Beliebtheit erfreuten.
Freilich ächzten und knarrten daneben die chinesischen
Karren, deren unförmliche, häufig mit schweren, spitzen Nägeln
beschlagene Räder, blaue Vorhänge und Sonnendächer einen ganz
aparten Eindruck machten ; eine längere Fahrt in diesen federlosen,
zweirädrigen Gefährten gehört übrigens zu den ermüdendsten
Geduldproben und wegen der Beschaffenheit der Wege und Störrig-
keit der Maulthiere auch für Arm und Bein bedenklichen Ver-
gnügungen — trotzdem spielt dieses Beförderungsmittel eine
hervorragende und noch bedeutendere Rolle als Sänften und
Reitthiere.
Wer, aus den Vertragshäfen kommend, ähnliche Verhältnisse
wie dort auch in Peking zu finden vermuthete, konnte gleich die
Erfahruni^ machen, dass die Hauptstadt viel weiter von jenen ent-
fernt sein müsse, als die Kilometeranzahl vermuthen lässt. Vor
Allem sind, mit Ausnahme zweier, der chinesischen Regierung von
den Legationen abgerungener, keine weiteren europäischen Kauf-
läden und nur ein europäisches Hotel vorhanden, das den Stadt-
namen führt: die Kenntniss des Pidgin-Englisch ist nur mehr auf
die höheren Classen der Dienerschaft beschränkt, und während
man in Hongkong und Shanghai selbst mit Chinesen verkehrend,
sein Leben verbringen kann, ohne wirklich — von 10^12 Brocken
06lasiatischi_-s Kaurii-rwälsch abgesehen — ?.ur Erlernung des
Chinesischen gezwungen zu sein, wird letzteres in Peking zur ge-
bieterischen Noth wendigkeit. Das Volk sieht schmutziger und
lnnlich*?r aus als im Süden, auch kam uns dessen Hautfarbe
Bankier vor.
Soweit die flüchtigen ersten Eindrücke, die wir wahrend des
Vom schönsten Wetter und auch durch den Umstand begünstigten
Einmarsches empfangen hatten, dass ein vormittags gefallener
Regen die allzu sommerliche Temperatur abgekühlt und den auch
auf der Macadamstrasse dick liegenden Staub gelöscht hatte.
(»leich nach der ersten BegrOssung und nachdem die k. und k.
Krieg&flagge auf dem Thor gehisst und die Wache bezogen war.
48
hielten Fregatten-Capitan von Thomann und Dr. von Rosthorn eine
eingehende Besprechung über die Lage und die sich hieraus für
■Zenta« ergebenden Aufgaben ab. Erstere anbelangend theilte der
Geschäftsträger die allgemeine Auffassung, dass die Situation
augenblicklich ihren acuten Charakter verloren habe, seitdem die
Verbindung mit der Küste wieder hergestellt und die Schutz-
detachements, deren Stärke im Volksmunde natürlich auf das Zehn-
fache der Wirklichkeit anwuchs, angekommen seien. Sehr ernst
sei sie nur während der Tage vom 27. bis 30. Mai angesehen
worden, in welche die bereits bekannten Gewaltacte gegen die
Bahnlinien und die Weigerung der Regierung fielen, die von den
Gesandten geforderte Heranziehung eigener Wachen zuzulassen.
Diese Weigerung war durch den Hinweis auf die thatsächlich
zwischen dem 26. und 29. Mai erlassenen Edicte begründet worden,
mit welchen allerdings strenge Massregeln nicht nur gegen die
aufrührerische Propaganda der Boxer verfügt, sondern auch die
Aussendung von Truppen zum Schutze bedrohter Punkte und
eine wesentliche Verschärfung des Polizeidienstes in Peking an-
geordnet worden waren. Das stärkste Argument für die ehrlichen
Absichten der Regierung dürfte in diesem Falle die Nennung
einer Reihe von Executivorganen — an der Spitze der Militär-
gouverneur und Polizeipräfect der Hauptstadt Tschungli — ge-
wesen sein, welche vor Lauheit in der Ausführung ergangener
Befehle im Allgemeinen und davor gewarnt wurden, sich keine
gegenseitige Ueberwälzung der Verantwortung und dadurch Ver-
zettelung zu Schulden kommen zu lassen.
Immerhin hatten die Gesandten, durch Erfahrungen gewitzigt,
die Einberufung von Detachements der Schiffe beschlossen und
dies in einer Collectivnote am 28. Mai dem Tsungli-Yamen notifi-
cirt, welches daraufhin die Eisenbahnzüge beistellte, jedoch den
Wunsch äusserte, man möge, um eine Beunruhigung der Stadt-
bevölkerung zu vermeiden, ähnlich wie im Präcedenzfalle 1898
sich mit 20 — 30 Mann per Nation begnügen.*)
Nach Dr. von Rosthorn's Ansicht sollte »Zenta« einstweilen
auf der Rhede von Taku die Entwicklung der Dinge während
der nächsten Tage abwarten und, falls diese eine befriedigende
sein würde, die Kreuzung an der koreanischen und westlichen
Küste Japans fortsetzen. Die weitere Gestaltung der Lage hänge
hauptsächlich vom Ergebniss der Ernte ab; eine Missernte würde
♦) Näheres über die chinesischen Edicte enthalten die veröffentlichten Samm-
lungen diplomatischer Documente einzelner Nationen ; am ausführlichsten gibt sie die
englische wieder.
49
der fremdenfeindlichen Bewegung viele sonst gleichgiltige Elemente
zuführen und deshalb sei erst zu Ende des Sommers eine ent-
scheidende Wendung zu erwarten.
Gleichzeitig theilte der Geschäftsträger mit, dass er, die Zu-
lässigkeit vom militärischen Standpunkte vorausgesetzt, dem
königlich belgischen Gesandten M. de Joostens den Schutz der
belgischen Gesandtschaft durch das österreichisch - ungarische
Detachement angetragen und M. de Joostens dieses Anerbieten
dankend angenommen habe. Vorgreifend sei erwähnt, dass vom
4. Juni an eine Abtheilung, bestehend aus einem Seecadetten und
8 Mann, die Bewachung der nur 6 — 7 Gehminuten entfernten bel-
gischen Gesandtschaft übernahm.
Die Nacht verlief ruhig ; letzteres allerdings nur nach Pekinger
Begriffen, denn die lärmenden Ausrufe der zahlreichen Verkäufer
dauern regelmässig bis Mitternacht und dann mischen sich in die
Trommeln der Nachtwächter weithin schallende Gongschläge in den
Tempeln und häufige blinde Schüsse, die Diebe und böse Geister
fernhalten sollen.
Frühmorgens des 4. Juni unternahmen Frau von Rosthom,
Herr Wihlfahrt und ich, von einem chinesischen Reitknecht (mäfu)
begleitet, einen Spazierritt nach dem Norden der Stadt, der sich
jedoch durch ein Erlebniss mit der chinesischen Polizei- und Militär-
g'ewalt etwas ausdehnte und mir nebst einer Fülle interessanter
Bilder aus dem Strassenleben die erste Gelegenheit gab, die Ent-
schlossenheit unserer verehrten Landsmännin zu bewundern. Durch
die grosse Nordstrasse reitend, sollten wir beim östlichen Nordthore
(Anting-men) das Weichbild der Stadt verlassen und ausserhalb
entlang der Stadtmauer unseren Weg nehmend, durch das west-
liche Nordthor (Toscheng-men) zurückkehren. Schon nahe dem
ersteren Thore trafen wir mit einer starken Abtheilung in gleicher
Richtung marschirender Bannertruppen zusammen, deren An-
blick an das ältere China gemahnte ; diese aus Mandschu gebildete
Truppe führt als Bewaffnung die schwerfällige, lange Büchse, die
bei uns nur mehr als Musealstück oder in einigen Gegenden als
Entengewehr bekannt ist und drei Mann zu ihrer Bedienung
braucht. Die munter ihre Fächer schwingenden Soldaten Hessen
uns unter manchem Scherzwort ungehindert ihre Reihen passiren,
so gut und schlecht es eben die zu beiden Seiten mit tiefen
Gräben eingefasste, sehr holperige Strasse ermöglichte; anders
beim Thore. Dort sperrten Soldaten und Polizeileute den Weg
völlig ab und ein paar von Wichtigkeit geschwellte Beamte ver-
suchten sehr aufgeregt die kleine Cavalcade zur Umkehr zu
Winterhaider: Kämpfe in China. 4
zwingen, zur Entschuldigung beifügend, sie hätten strengen Befehl,
keinen Europäer ausserhalb des Thores zu lassen, denn draussen
exercirten Soldaten, die uns vielleicht unangenehm würden.
Herr Wihlfahrt und der Mafu verdolmetschten das; Frau von
Rosthom, über die Zumuthung entrüstet, gab ohne viel Worte
das Beispiel scharf anzureiten, aber schon waren wir eingekeilt
und ein Durchdringen der Menschenmauer unmöglich. Augen-
blicklich brach unsere darob noch empörtere Führerin nach links
Tanslu; , Kinhf.SI.Jaitf
ConfUeiBi-TBiiipd
Matschapu
aus und im Galopp gings längs der Stadtmauer dem Toscheng-men
zu; erst nach ein paar Minuten in Trab setzend, rief uns die Dame
zu, wir müssten dort wenigstens hinaus, nur um den Chinesen
zu zeigen, dass sie ebenso unverschämt als unfähig seien, unser
Vorhaben vereiteln zu wollen.
Wieder in .schnellerer Gangart beim Toscheng-men angelangt,
glückte es uns zwar, die dortige Wache zu überrumpeln und mit
Hinterlassung des Mafu in ihren Händen aus dem Thore ins Freie
zu kommen, doch setzten uns die Häscher schreiend und ge-
6t
sliculircnd nach, bis ihr Athcm erschöpft war. so daas wir die
Nordwest- und Westseite der Stadt unter der Mauer entlang
reiten mussten, um dann erst auf dem Umwcg-e durch die Chinesen-
Stadt beim Tschien-men, wo Alles ruhig- war, in die Tartarenstadt
zurückzukehren.Wirhattcnungefahrzwei Drittel desganzenUmfangf es
letzterer — also reichlich zwölf englische Meilen — zurückgelegt, meist
auf gutem Reitboden, doch häufig gezwungen, träge Wasserläufe
zu überschreiten, und einigemale durch mongolische, auf der Ab-
reise begriffene Kameelkarawanen aufgehalten.
Bald nach der Rückkehr von dem kleinen Abenteuer — auch
öer Mafu war mit einer noch glimpflichen Verwarnung entlassen
worden — trafen jedoch Nachrichten ein, welche die tagsvorher
noch gehegte Zuversicht in eine Besserung der Lage sehr ernst-
lich erschütterten.
In der Xacht hatten die Boxer nicht nur die zwei nächsten
Stationen südlich von Fengtai zerstört, sondern auch die zur
Bergung der Paotingfuer Flüchtlinge aufgebrochene Expedition
angeblich 10 Meilen westlich von Tientsin angriffen; über das
Verlialien des zum Bahnschutze aufgebotenen chinesischen Militärs
tagen einander widersprechende Nachrichten vor: es hätte sich
52
#
gegen die Boxer gewendet, das Verbrennen der Stationsgebäude
aber nicht mehr verhindern können — andere Mittheilungen be-
zichtigten die Soldaten der Connivenz mit den Aufrührern.
Die Eisenbahnverbindung war somit neuerdings unterbrochen
und die Unverlässlichkeit des chinesischen Schutzes unwider-
leglich dargethan.
Angesichts dieser Thatsache einigten sich die Gesandten zu
einem CoUectivschritt bei der chinesischen Regierung und for-
derten sie unter neuerlichem Hinweis auf die unabsehbaren Folgen,
welche aus der Vernachlässigung ihrer internationalen Verpflichtung
erwachsen könnten, auf, Alles aufzubieten, um die Eisenbahnver-
bindung ehestens, längstens bis zum 9. Juni wieder herzustellen
und solche Massregeln zu treffen, welche den Verkehr mit der
Küste wirksam zu sichern und den Fremden wie christlichen
Chinesen Schutz zu garantiren geeignet wären. In Erwägung, dass
die in Peking lebenden Fremden, deren Zahl durch flüchtige
Missionäre aus den im Lande verstreuten Anstalten in den letzten
Tagen noch beträchtlich vermehrt worden, auf thatsächlichen
Schutz nur durch ihre eigenen Truppen rechnen könnten, wenn
die Verbindung mit der Küste längere Zeit unterbrochen bleiben
sollte, erörterten die Gesandten ferners die Eventualität eines ge-
meinsamen Vorgehens der Landungstruppen der vor Taku liegen-
den, durch täglich neuen Zuzug verstärkten internationalen Flotte.
Während die Vertreter der übrigen fremden Mächte erst an
ihre Regierungen um Erlassung einschlägiger Weisungen an die
Admirale telegraphirten, einigten sich Dr. von Rosthorn und
Fregatten- Capitän von Thomann sogleich, von »Zenta« ein mög-
lichst starkes Contingent bereit und zur Verfügung des rangshöchsten
Befehlshabers stellen zu lassen.
Noch am 4. Juni ging der telegraphische Befehl an »Zenta«
ab: jiLinienschiffs-Lieutenant Indrak, 2 Seecadetten, 70 Mann zu
eventuellem Entsatz Pekings bereit machen und rangshöchstem
Befehlshaber zur Verfügung stellen.« Von dieser Massregel wurde
gleichzeitig der Regierung in Wien die Meldung mit der Bitte
um Genehmhaltung der Betheiligung am internationalen Vorgehen
erstattet.
Unwillkürlich drängt sich die Frage auf, welchen Unterschied
in den Folgen es gehabt hätte, wenn die Vertreter aller Mächte,
welche am 4. Juni KriegvSschiffe zu ihrer Verfügung wussten, sich
zu sofortigem gemeinsamen Handeln hätten entschliessen können
und, ohne erst mindestens IV« — 2 kostbare Tage mit der Erwartung
einer Antwort zu verlieren, die Admirale ersucht hätten, unge-
53
säumt die nothwendig-en Vorbereitungen zu treffen! Jedenfalls
hätten die Boxer keine Zeit gehabt, den Bahnkörper so gründlich
zu zerstören.
An Bord der »Zenta« war das eben erwähnte Telegramm am
5. Juni Vormittags zugestellt worden ; der Gesammt-Detail-Officier,
Linienschiffs-Lieutenant Guido Kottowitz Edler von Kortschak,
verlor keinen Augenblick, um dem erhaltenen Befehl nachzukommen,
und konnte so als Erster noch am selben Tage dem rangshöchsten
Befehlshaber, dem königlich englischen Vice-Admiral Sir Edward
Seymour, die Mittheilung machen, dass »Zenta« im Ganzen 75 Com-
battanten zur sofortigen Landung bereit habe. Von ihren Gesandten
über die an die heimatlichen Regierungen gerichtete Anfrage
verständigt, traten die Admirale und selbstständigen Schiffs-
commandanten am 5. Juni zum erstenmale zu einer gemeinsamen
Berathung zusammen, die Sir Edward angeregt hatte.
An diesem Tage sind in Peking nach Angabe im Dienste
Fremder stehender chinesischer Confidenten zahlreiche an ihren
rothen Kopftüchern, Schärpen und Bändern unfehlbar kenntliche
Boxer ganz offen und unbehelligt durch die doch zu ihrer Fern-
haltung aufgebotenen Soldatenwachen eingezogen ; diese Nachricht
gab wohl zu dem alsbald verbreiteten Gerücht Anlass, dass für
die kommende Nacht von Seite der Boxer ein allgemeiner Angriff
auf die Fremden bevorstehe, der aber thatsächlich nicht erfolgte.
Am Nachmittage übersiedelten auf Initiative des französischen
Gesandten M. Pichon, der durch den in Peking residirenden
Bischof für Nordchina, Mgr. Favier, seit jeher am verlässlichsten
und ausführlichsten über die ganze Boxerbewegung unterrichtet
war, die meisten Insassen der im Südwesten der Tartarenstadt
gelegenen katholischen Missionsanstalt, des Nantang, nach dem
Nordwesten der Stadt in das Peitang.
Diese innerhalb der Kaiserstadt selbst gelegene, von der
französischen Legation jedoch ungefähr drei Kilometer entfernte
Missionsanstalt eignete sich vermöge ihrer Ausdehnung und
starken Bauart namentlich unter der Voraussetzung sehr gut als
Zufluchtsort, dass die Boxer die kaiserliche Mauer doch respectiren
würden.
Am 6. Juni wurden trotz der kaum mehr als eine Woche vorher
durch kaiserliches Edict anbefohlenen Zerstörung aller im Dienste
der Boxer thätigen Druckereien und trotz der nicht nur angeord-
neten, sondern vorgeblich auch wirklich eifrigen Thätigkeit der
Polizei in der Legation sstrasse mehrere Placate der Boxer ge-
funden, welche die Ueberschrift : »Mit kaiserlicher Sanction«
trugeil und worin alle gutgesinnten Chinesen zur Vernichtung der
Fremden aufgefordert wurden. Die chinesische Dienerschaft der
Fremden erhielt massenhaft anonyme briefliche Aufforderungen
zum Abfall von ihren Herren, die zu verlassen und zu verrathen
ihnen bei Androhung grausamer Rache nur mehr kurze Zeit ge-
geben wurde. Von auswärts kamen später bestätigte Nachrichten
von der neuerlichen Ermordung zweier englischer Missionäre und
der Miedrrmi'tzelung eingeborennr Christen und solcher friedlicher
De< KohltubUgel ~ Moiitlinn - In i.-r KiiietitiJl.
Landbewohner, die sich weigerten, dem Aufgebot der Boxer zu!
folgen oder deren Forderungen nach Geld und Lebensmitteln nicht
gutwillig befriedigten. Die Flüchtlinge aus Paotingfu sollten untee
grossen Gefahren Tientsin erreicht haben, doch seien zwei Männei
und eine Frau den Boxern in die Hände gefallen und von ihnet
bestiahsch ermordet worden. General N'ieh .sollte zwar mit e
päisch gedrillten Truppen von Tientsin zur Bekämpfung^ dei
räuberischen Rebellen, wie sie in den letzten Edicten genannl
wurden, ausgezogen sein und ihnen sogar in einem förmlichoi
Gefechte empfindliche Verluste beigebracht haben, doch hieas e
noch am selben Tage, ttie Truppen hätten den Gehorsam vei
w*eigert, während noch andere (Quellen berichteten, der Genero
hitte sehr ileutliche Befehlo*) erhalten, eine zuwartende Haltung'
zu b«obachten.
Die Stimmung- in Peking- begann, so sehr man sich auch be-
iniUue, dies zu bekämpfen, gedrückt zu werden, da die Erzählungen
der in die Hauptstadt gekommenen Flüchtlinge von den sich
mehrenden Gewaltacten der Boxer und dem Verhalten der chine-
sischen Behörden durch jenes des immer zahlreicher in der Stadt
-irl,tt>;.r w.T.l.-n.Im Milllär- -hu, r.rerui.'Lniy^fan.lün ; .1!.' rhinesischon
f. ihren Hass gegen
Soldaten legten sich kaum mehr
<üe Fremden zu verbergen.
Tungfuhsiang halte Befehl erhalten, seine Truppen in Nan-
haitse, dem südlich von Peking gelegenen alten kaiserlichen Jagd-
park, zu concentriren.
Dies Alles sah äusserst bedenklich aus und man begann in
Peking sich, so weit es eben möglich war, zu rüsten; die wehr-
*t In Wahrlieil war Nieh, dem rormEllea Befelil rolgend. gegen die Boxer anf-
(atvica UDd ■l:Uiir, >weil er irati guter Ab&iLlilen schwere [mbümer begingi. ie'xaea
lUaget vcrtiulig erklürl. jedoch in leineni CoTnuanda beUisen wonicn. Eine andere
I^tninac U«il «In ia der Pekinger Zcitnng noch vor dem Falk Tientsins «rwhiencoes
Editl «ohl Dicht /u. Nieh war eben nicht |ii>liti»ircniler Soldat.
56
fähigen Elemente der Fremdenbevölkerung sollten sich zu einem
Freiwilligen-Corps vereinigen, ähnlich wie sie in Hongkong und
den Vertragshäfen seit Jahrzehnten bestehen und die sich auch
schon mehrfach — z. B. in Shanghai während der Taiping-Revo-
lution — bewährt hatten. Beim SeezoU-Inspectorat wurde durch
den ehemaligen preussischen Officier Herrn Ernst von Strauch
und auch bei den zwei europäischen Banken durch die Beamten
ein formlicher Wachdienst organisirt. Sonderbar genug war die
Bewaffnung: alte Winchester, Remington, daneben neue Repetir-
gewehre, Schrotflinten und Revolver der verschiedensten Systeme,
die Stelle von Bajonnetten vertraten mit Draht auf die Läufe ge-
bundene grosse Küchenmesser, auf letztere x\rt verwandelten sich
sogar harmlose Spazierstöcke in blitzende Waffen — aber der
Geist war ein guter, das Gefühl der Zusammengehörigiceit hat
sich nie schöner bethätigt als angesichts der gemeinsamen Ge-
fahr! So verrann Tag auf Tag, jeder brachte nur neue Bestäti-
gungen, dass die in ihrer Festigkeit überschätzten Dämme gegen
die rapid schwellende Hochfluth der aufrührerischen Bewegung
zu wanken begannen, und langsam mussten sich die Fremden in
Peking mit der Ueberzeugung abfinden, dass die Gesandtschaften
nicht nur nicht mehr die Macht besassen, für ihre im Landesinnern
zerstreuten Schutzbefohlenen erfolgreich zu wirken, sondern viel-
mehr selbst das Hauptziel des niederträchtigen, mit System aus-
geführten Anschlages bildeten.
Noch stand der Telegraph offen und verkehrten Couriere nach
Tientsin, aber wie lange, getraute sich Niemand zu beantworten.
Am 7. Juni lief die telegraphische Nachricht von der Ankunft
des zweiten Detachements S. M. S. »Zenta« in Tientsin ein; ana-
loge Mittheilungen erhielten auch die übrigen Gesandtschaften,
man wusste somit, dass sich von Seite der Fremden ein Schritt
zur Wiederherstellung der Verbindung mit der Küste vorbereite.
Gleichwie aber der Contact zwischen Gesandten und Befehls-
habern an der Küste immer schwieriger zu erhalten war, bis er
am 10. Juni ganz unterbrochen wurde, so muss auch die Erzählung
sich wieder den Geschehnissen auf der Rhede zuwenden, um das
Bild der materiellen und moralischen Schwierigkeiten zu grun-
diren, deren Ueberwindung von den Patronen des verabscheuungs-
würdigsten Verbrechens gegen das Völkerrecht wohl für unmög-
lich gehalten wurde, die aber gelang, weil das Bewusstsein, sich
für eine geheiligte Sache einzusetzen. Führer und Streiter be-
geisterte.
58
II. Capitel.
S. M. S, »Zcnta« mit der internationalen Flotte auf der Taku-Rhede. — Betheili-
CUnif an der Kinnahme der Taku-Forts. — Entwicklung der Ereignisse. — Was man
«uf der Khcdc erfuhr. — Thätigkeit der Admirale und .selbstständigen SchifFscomman-
danten. — Eintreffen S. M. S. »Kaiserin und Königin Maria Theresia«.
Auf der Taku-Rhede entwickelte sich in den Tagen nach dem
Abuanu'o der beiden letzten Schutzdetachements für die Legationen
in IN^kin^' ein ungewöhnliches Leben; fast täglich liefen neue
SrhitVi* der einzelnen Mächte ein, so dass bald eine stattliche
InttM-nat ionalt» Flotte versammelt war, die im Juli nicht weniger
i\\H M Krit*RssehifFc aller Grössen zählte. Vertreten waren Deutsch-
land. Ivn^'land, Krankreich, Italien, Japan, Oesterreich-Ungarn,
KussliU\d untl die Vereinigten Staaten.
AIn am f). Juni — tagsvorher hatte selbst für diese ungast-
liche K heile abnorm schlechtes Wetter jeden Verkehr mit dem
l.iuulo und unter den Schiffen gänzlich verhindert — die Nach-
\W\\\ von der neuerlichen Zerstörung der Bahn eingelangt war,
)^la\^bt^^ der tM\glische Vice-Admiral Sir Edward Seymour nicht
lauv;^"^' zögern zu sollen und that als rangsältester anwesender
AdiuUal den tasten Schritt zu dem späteren gemeinsamen Vor-
j^clvon, indetu er in einer Conferenz der hiezu eingeladenen
MaKK*'** Otüriert^und selbstständigen Schiffscommandanten folgende
Punkte alH (irund/üge des gemeinsamen Verhaltens zur Erwägung
l. Uio Mission der Befehlshaber sei eine friedliche und habe
den Sehuiz von l.ebtMi und Eigenthum der eigenen Connationalen
/.am /werke.
bV Uiese Missii^n soi gegenwärtig durchaus nicht gegen die
V hiuo^i?«^'!^«^ Regierung gerichtet, mit welcher die einzelnen Staaten
uu r*rit>den stt^hen. richte sich vielmehr gegen eine Horde von
Rebellen. Boxer genannt, welche die chinesische Regierung ein-
luschüchlern und stärker als letztere zu sein scheine.
3, Sollten sich die Rebellen stärker als die Regierung zeigen,
dann sei es zum Schutze von Leben und Eigenthum nothwendig,
die chinesische Regierung, soweit eben möglich, in der Aufrecht-
erhaltung von Frieden. Gesetz und Ordnung zu unterstützen, oder
falls die chinesische Regierung überhaupt unthätig bleiben sollte,
auch ohne deren Mithilfe zu handeln.
4, Alle Schritte sollten in diesem Falle auf Wunsch oder
mit Zustimmung der respectiven Gesandten und, da die Interessen
der Fremden im Allgemeinen bedroht seien, von den Befehls-
habern in gegenseitigem Zusammenwirken erfolgen.
5, Vom Einvernehmen mit den Gesandten wäre nur im Falle
sie in Peking eingeschlossen würden, abzusehen und statt dessen
auf Grund directer Anfragen bei den Heimatsbehörden und nur
in sehr ernsten und dringlichen Fällen auch ohne letztere nach
vorheriger gegenseitiger Aussprache vorzugehen.
In derselben Sitzung wurde nach Annahme der genannten
Punkte festgestellt, dass sich zur Zeit in Peking 428, in Tientain
■Hl Mann befanden und 9(il Mann noch ausgeschifft werden
könnten; ferners wurde vereinbart, alle einlangenden Nachrichten
von Wichtigkeit unverweilt auf das FlaggenschifF Sir Edward's
als allen zugängliche Centrale zu senden.
Auf Antrag des französischen Admirals Courrejolles wurde
ft^mer zum Beschlüsse erhoben, im Falle der Unterbrechung der
Verbindung mit Peking den Doyen des Consularcorps in Tientsin*)
durch eine Collectivnote zu ersuchen;
Die Consuln mögen dafür sorgen, thunlichst regelmässig
^■achrichlen von Peking zu erhalten — ferners den Vicekönig von
Tschili über die Sachlage unterrichten und ihn wissen lassen, dass
"ir Erhaltung von Friede und Ordnung in Tientsin wie auch zur
Wiedereröffnung der Verbindung mit Peking Mannschaften ge-
landet würden und ihn zur Cooperation der chinesischen
Truppen auffordern.
.A.US diesem mit Absicht beinahe vollinhaltlich wieder gegebenen
■litzungsprotokolle ist zu ersehen, dass die Admirale der grossen
politischen Schwierigkeit im weite.sten Masse Rechnung trugen
"nd einstweilen Alles vermieden, was die Lage der diplomatischen
Vertreter hätte verschlimmern können.
Die sich rasch drängenden Ereignisse nöthigten alsbald die
Befehlshaber, selbstständig zu handeln.
*| FranEiistscher (ieueral-Cunsul Comle ilu Chaylard.
Deutsche, Engländer und Franzosen entsendeten noch am
Nachmittage des 5. Juni Mannschaften, die an Bord der im Peiho
liegenden Kanonenbooie bequartien und zum sofortigen Abgang'
nach Tientsin bereitgehalten wurden; am 6. früh gingen weitere
75 englische Seesoldaten, am 7, morgens ein russisches und, wie
schon erwähnt, das zweite 75 Mann starke Detachement voa
■Zenta« unter LinienscliifFs -Lieutenant Johann liidrak nach Tientsin
ab, dem die beiden Seecadelten Edgar Leschanowsky und Erich
Prochaska zugetheilt waren. Der Stellvertreter des Commandanlen
der »Zenta- . Linienschiffs-Lieutenant v. Kottowitz, Hess das Detache-
ment, obgleich hinsichtlich eines Vormarsches nach Peking noch
nichts bestimmt war, nach Tientsin abgehen, weil es von dort jeden
Augenblick aufbrechen konnte. Da
>^|^^k noch kein militärischer Commandanfc
/ ^^Ä der Stadt designirt war, wurde es bis
jff "V^H ■'i'^f Weiteres dem rangsältesten eng-
^gtLj^J lischen Officier, Linien seh ifFs-Capitäa
^^^t^f Jellicoe unterstellt. Die Leute wurden
j^^^^K mit Rücksicht auf ihre Mobilität er-
^^■^ ^^^^^. heischende Bestimmung nur mit dem
^^^^^S^^^^^fi^^ X^othwendigsten versehen, ihre feld-
^^^^^^^^^^^^^^k massige Ausrüstung musste grössten-
^^^^^fHv^^^^^V iheils improvisirt werden, da Schiffe
^^^^H^fc^^^^^ vom Typ «Zenta« normaler Weise nur
für etwas mehr als öO Mann Landungs-
uniemchiHi-L.eüienini Quid" K^oirnwii. ^^ippco dotirt siud. An Munitton erhielt
Edler von Kon.fhak. jeder Mann 160 magazinirte. das ganze!
Detachement aber noch 3600 nicht
magazinirte, ursprünglich für die Gewehrmitrailleuse bestimmte
Patronen, so dass per Gewehr etwas mehr als 200 Schuss verfügbaiT
waren — mehr mitzugeben erlaubte die Rücksichtnahme auf
etwaige Bedürfnisse an Bord selbst nicht. Dauerproviant nahn]
das Detachement auf sieben Tage mit.
Am 6. Juni waren aus Peking und Tientsin beunruhigendere,
wenn auch lückenhafte Nachrichten eingelaufen, ja der englische
Consul in letzterem Orte hatte unter gleichzeitiger Anzeige von'
der Bildung eineh Freiwilligen-Corps dringend um Verstärkungen
der Schutztruppen und die Ermächtigimg, Feindseligkeiten
eröffnen, gebeten, da jedes Zuwarten die Gefahr verschlimmere.
Auf den letzten Punkt konnte natürlich nicht eingegangen werden,
mussten die Fremden ja doch gleich aus völkerrechtlichen
Gründen wie aus Rücksichten auf die thatsächÜchen Machtverhält-
61
nisse jeden Anschein vermeiden, als ob feindselige Acte von ihnen
ausgingen. Auch die Gesandten Englands, Italiens und Japans in
Peking hatten um die Verstärkung ihrer Legationswachen ersucht,
doch konnte diese nicht über Tientsin hinaus.
Die wichtigste Frage blieb, sich in ungestörter Verbindung"
mit Tientsin zu halten und jene mit Peking wieder zu eröffnen.
Ueber den Zustand der Strecke nordwärts von Tientsin waren
trotz aller Bemühungen keine absolut verlässlichen Daten zu er-
langen, die meisten Informationen liefen darauf hinaus, dass der
Bahnkörper intact geblieben sei und sich die Boxer mit dem
Niederbrennen von Stationsgebäuden begnügt hätten. Eine unver-
bürgte Nachricht besagte wohl, dass die grosse Eisenbahnbrücke
bei Yangtsun in Flammen gesehen worden sei.
Die Lage in Tientsin wurde übereinstimmend als sehr ernst
geschildert; man schätzte die dort versammelten, jeden Augenblick
zu Feindseligkeiten bereiten Boxer allein auf 10.000. Trotz der
augenscheinlichen Gefahrdung dieser Stadt drang der von Linien-
schiffs-Lieutenant von Kottowitz gestellte Antrag, einen Officier
dort mit dem Oberbefehl zu betrauen, wofür Contre - Admiral
CourrejoUes den mit Land und Leuten sehr vertrauten russischen
Militär- Agenten Oberst Wogack vorschlug, nicht durch und wurde
die Erledigung dieser Frage bis zum Augenblick, wo eine Ent-
satz-Colonne nach Peking aufbrechen sollte, aufgeschoben.
Die Nothwendigkeit eines solchen Entsatzes stellte sich in
den folgenden Tagen immer dringender heraus, nachdem Nach-
richten über das Verhalten der zum Schutze der Eisenbahn auf-
gebotenen chinesischen Truppen unter General Nieh vorlagen;
diesen zufolge hätte das reguläre Militär die Bahnstrecke nördlich
von Yangtsun verlassen und seien gegen 3000 Mann, theilweise die
Bahn benützend, auf dem Wege nach Lutai. Hieraus ergab sich
die Folgerung, dass seitens der Regierung nichts mehr zur Ver-
hinderung der Bahnfrevel der Boxer, geschweige denn zur Wieder-
herstellung des Betriebes geschehe, und andererseits auch die
Nothwendigkeit, mit einer Concentration chinesischer Streitkräfte
im Küstenstriche zu rechnen, welche gewiss nicht als freundlicher
Act angesehen werden konnte.
Ueber die Aussichten eines Versuches, Peking zu entsetzen,
über die Stärke und Zusammensetzung eines dahin zu entsendenden
Corps und über die einzuschlagende Route war angesichts der
Zwangslage nicht viel zu discutiren : das ganze Unternehmen konnte
nur gelingen, wenn die Fremden im Stande waren, die Chinesen
durch rasches Handeln zu verblüffen.
62
Vor dieser Ueberzeugung mussten die rein militärischen, nur
zu gerechtfertigten Bedenken zurücktreten, die dagegen sprachen,
mit einer Handvoll unzureichend ausgerüsteter Leute, auf so grosse
Entfernung von der einzig sicheren Basis — die Schiffe — in ein
von offenen und noch versteckten Feinden wimmelndes, ressourcen-
armes Land vorzudringen; vielleicht liess sich die chinesische
Regierung durch eine demonstrative Machtentfaltung noch ein-
schüchtern, bevor man sich, die Gesandtschaften in Peking einem
ungewissen Schicksal überlassend und sich auf die Erhaltung der
Peiho-Mündung und von Tientsin beschränkend, auf einen offenen
Krieg vorbereitete.
Die verantwortungsvolle Lage der Befehlshaber von Taku
wurde durch den Mangel präciser Informationen von den Ministern
selbst, mit denen ja noch Depeschen gewechselt werden konnten,
erschwert, da diese in keiner der bisher eingelangten Mittheilungen
den Admiralen die Ermächtigung, nach eigenem Ermessen der
Lage entsprechend zu handeln, ertheilt hatten.
Das Commando »Zenta« erhielt am 9. Juni die vom Marine-
Commando am 7. Juni in Wien aufgegebene Depesche: »Weiter
im Einvernehmen mit Gesandtschaft verhalten ; falls Communication
mit dieser unterbrochen, bei internationalem Vorgehen analog wie
die anderen Mächte vorgehen.« Analoge Weisungen waren seitens
ihrer Regierungen auch an die übrigen Befehlshaber ergangen,
nur die Vereinigten Staaten hatten ihrem Contre-Admiral Kempff
ausdrücklich vorgeschrieben, zum Schutze von Leben und Eigen-
thum amerikanischer Staatsbürger wohl conform, jedoch nicht ge-
meinsam mit den übrigen Befehlshabern vorzugehen.
In einer am 9. Juni vormittags abgehaltenen Sitzung wurde
beschlossen, die Garnison von Tientsin weiter zu verstärken und
je eine deutsche, englische und französische armirte Dampfbarkasse
dorthin zu entsenden, um den Fluss innerhalb des Stadtgebietes
überwachen zu können ; das englische Transportschiff »Humber«
war nach Peitaho abgegangen, um die dort lebenden Fremden zu
beschützen und nöthigenfalls aufzunehmen.
Um IIV2 Uhr nachts erhielt Sir Edward vom englischen
Gesandten in Peking folgende alarmirende, um 5Va Uhr nachmittags
aufgegebene Depesche: »Hiesige Situation äusserst ernst; wenn
nicht Anstalten zu einem sofortigen Vorgehen auf Peking getroffen
werden, ist es zu spät.« Das war deutlich! Der englische Vice-
Admiral liess allsogleich dieses Telegramm mit einer Zuschrift,
in welcher er seine Absicht aussprach, alle verfügbare Mannschaft
ans Land zu setzen und sofort den Entsatz einzuleiten, an die
63
Commandanten aller Nationen versenden und erklärte, selbst die
Oberleitung der Expedition zu übernebnien.
Durch neu hinzugekommene Schiffe verstärkt, konnten am
10, Juni morgens die Deutschen 500, die Engländer 900 und die
Russen 240 Mann ans Land setzen ; »Zentas« Mannschaften standen
in Tientsin schon bereit.
Der erste Schritt ins Kriegerische hinüber war somit gethan
und die internationale Flotte musste, des grössten Theiles ihrer
Combattanten entblösst, sich mit dem Zuwarten begnügen; Vice-
Admiral Seymour telegraphirte jedoch, kaum in Tientsin angekommen
und durch den Augenschein vom kritischen Charakter der Lage noch
besser informirt, dringend um sofortigen Nachschub für Tientsin.
Linienschiffs-Lieutenant von Kottowitz bot die letzten überhaupt
noch verfügbaren 20 Mann an, doch trat erst eine Woche später die
erwünschte Gelegenheit ein. auch diese kleine Schaar zu verwenden,
da inzwischen die Russen aus dem nahen Port Arthur an 2000 Mann
sibirische Schützen und zwei neu angekommene englische Schiffe
ihre Detachements ausgeschifft hatten.
Nach einer am IL eingelaufenen Meldung des Detachements-
Commandanten in Tientsin, Linienschiffs-Lieutenant Indrak, waren
tagsvorher 25 Mann unter Seecadet Erich Prochaska mit der Colonne
Vice-Admirals Seymour gegen Peking abgegangen, die restlichen
50 wurden für die Vertheidigung der Stadt zurückbehalten; am
selben Tage wurde auch bekannt, dass der Telegraph zwischen
Peking und Tientsin nicht mehr functionire. Dies bedeutete zwar
den Eintritt einer längst befürchteten Calamität, gleichzeitig aber
auch hinfort absolute Selbstständigkeit der militärischen Vertreter.
Auf der Rhede selbst hatte man zwar kaum eine Action seitens
der chinesischen, im Golfe von Petschili anwesenden Kriegsschiffe
zu gewärtigen, doch mahnte die Anwesenheit der chinesischen
Torpedoboote im Peiho immerhin zur Vorsicht — für europäische
Torpedoboots-Commandanten wäre die Sache in einer ähnlichen
Situation allerdings sehr verlockend gewesen — und musste daher
ein recht anstrengender, verschärfter Wachdienst gehalten werden.
Seeleute, Musikanten und momentan entbehrliche Maschinenmann-
schaften wurden in aller Eile als Bemannungen der Schnellfeuer-
kanonen eingedrillt und wetteiferten im Bestreben, sich in ihren
neuen Rollen mit Ehren sehen lassen zu können.
»Zenta« wurde, soweit es noch möglich war, gefechtsklar
gemacht und erhalten ; zur Nachtzeit lag Munition zum sofortigen
Gebrauch bei den Geschützen und Schnellfeuerkanonen bereit,
die grossen Scheinwerfer wurden gegen die Flussmündung ge-
64
richtet, um verdächtige Fahrzeuge allsogleich mustern zu können,
und die dienstfreie Hälfte der Bemannung schlief gerüstet neben
ihren Gefechtsposten — nur allzu oft aufgerufen, um schlechten
Wetters halber Arbeiten an der Vertäuung vorzunehmen oder um
ein Boot zu bemannen, das Nachrichten überbringen oder holen
sollte.
In den folgenden Tagen bis zum 15. Juni wuchs die Spannung
mehr und mehr; von der Colonne Seymour trafen nichts weniger
als erfreuliche Nachrichten ein. Die Schwierigkeiten auf dem
Wege nach Peking, als welchen der Führer der Expedition die
Eisenbahnlinie gewählt hatte, wuchsen immer mehr, schon am
zweiten Tage hatte sich die Unmöglichkeit erwiesen, die Repara-
turen am Bahnkörper in dem nothwendigen Tempo auszuführen,
und auf die Scharmützel mit Boxern folgten bald förmliche Ge-
fechte, in welchen reguläre kaiserliche Truppen auf Seite der
Boxer kämpften.
Die Gewaltthätigkeiten der mordenden und brandstiftenden
Boxer in der unmittelbaren Umgebung von Tientsin wurden immer
häufiger und offener.
Diese Thatsachen stiessen auch den letzten Zweifel an der
böswilligen Haltung der chinesischen Regierung um und Hessen
deutlich erkennen, dass alles bisher Vorgefallene nur ein Vorspiel
weit ernsterer Ereignisse gewesen sei.
Auch auf der Strecke Tongku — Tientsin hatte man Wahr-
nehmungen gemacht, die auf Vorbereitungen hinwiesen, den
Fremden den Verkehr darauf abzuschneiden, und aus diesem
Grunde war ein scharfer Patrouillendienst durch einen mit z\vei
Projectoren und zwei Schnellfeuerkanonen armirten Eisenbahnzug
etablirt worden. Hiezu schiffte »Zenta« am 14. Juni einen entbehr-
lichen elektrischen Scheinwerfer sammt Dynamo und zwei Be-
dienungsleuten aus. Der Scheinwerfer wurde auf dem Tender
einer Locomotive installirt und leistete vorzügliche Dienste.
Am 15. Juni brachte der deutsche Vice-Admiral Bendemann
in der nunmehr vom russischen Vice-Admiral Hiltebrandt präsi-
dirten Versammlung der commandirenden Officiere ihm aus sehr
vertrauenswürdigerQuellezugekommeneNachrichten zur allgemeinen
Kenntniss, dass 2000 Mann chinesische Truppen mit 40 Geschützen
von Lutai gegen Taku, zur Verstärkung der Fortsbesatzungen an
letzterem Orte, vielleicht auch um die Station Tschun-lian-tscheng
zu besetzen, im Anmarsch seien, im Peiho Minen gelegt und
Torpedos vorbereitet werden und somit chinesischerseits die Ab-
sicht bestehe, jede weitere Landung mit Gewalt zu verhindern.
Die Bahnverwaltung in Tongku war nämlich ch inesisch erseits be-
auftragt worden. Züge in der für die angegebene Truppenmacht
erforderlichen Zahl bereitzustellen, und die Vorbereitungen, die
submarine Vertheidigung zu activiren, waren der Aufmerksamkeit
der im Flusse stationirten Kanonenboote nicht entgangen.
Um die Abfahrt der für die chinesischen Truppen bestimmten
Züge zu verhindern und auch sonst den Bahnhof Tongku gegen
alle Eventualitäten zu schützen, wurde letzterer in der folgenden
Nacht mit 300 japanischen, 120 deutschen und 20 österreichisch-unga-
rischen Matrosen, letztere unter Linienschiffs- Fähnrich Ernst Stenner
und Seecadet Ernst Petri, besetzt; die Kanonenboote im Flusse
erhielten den Befehl, bei der geringsten Feindseligkeit seitens der
Chinesen unverzüglich einzugreifen und das Bombardement gegen
die Forts zu eröffnen.
Am IB. Juni lagen nicht nur von mehreren Seiten volle Be-
stätigungen der vom Admiral Bendemann tagsvorher mitgetheilten
Angaben, sondern auch über das Schicksal der Entsatz-Expedition
Seymour und die Lage in Tientsin so ernste Nachrichten vor,
dass ein entscheidender Schritt unternommen werden musste, um
»ich des Schlüssels jeder Verbindung mit dem Inneren, derTaku-
Forts, zu bemächtigen und dadurch die bereits gelandeten Truppen
vor gänzlicher Abschneidung zu bewahren.
Die Lage war ohnedies schon eine recht schwierige: in
Peking die Gesandtschaften und ihr Anhang mit etwas mehr als
^00 Mann Schutztruppen ganz von der Aussenwelt abgeschnitten,
iwischen Peking und Tientsin über 2000 Mann durch zahllose
Iloxerhorden und eine wenn auch nach Zahl nicht genau bekannte
Uebermacht chinesischer Truppen festgelegt,
so dass sie voraussichtlich gar nicht mehr
vorwärts und nur unter noch nicht abseh-
baren Schwierigkeiten nach Tientsin
zurück konnten, in dieser Stadt un-
gefähr 2000 Mann zum Schutze der
ausgedehnten Fremdennieder-
lassung und der Bahn gegen-
über ca. öOOO Mann regulärem
Militärund 10. OOO Aufständischen,
und zwi.schen dieser Etape und
der See noch das wohlbefestigte
Taku, dem die Chinesen aus den
Peitang- Forts, Lutai und Shanhai-
kuan, wo zusammen mindestens
1.
66
15.000 — 20.000 Mann lagen, jeden Augenblick beträchtliche Ver-
stärkungen zuschieben konnten!
Diese ganz ungefähre, sicherlich eher günstige numerische Zu-
sammenstellung, bei der noch auf die so sehr ins Gewicht fallenden
Mängel in der Ausrüstung der mit aller Eile ans Land gesetzten
Truppen und auch auf ihren Mangel an Artillerie Bedacht ge-
nommen werden musste, unterstützte den wieder vom deutschen Vice-
Admiral Bendemann ausgehenden Antrag, den Vicekönig von Tschili
und den Commandanten der Taku-Forts zur Uebergabe letzterer
aufzufordern, widrigenfalls am 17. Juni um 2 Uhr morgens der
Angriff auf letztere erfolgen würde, in überzeugendster Weise.
Bei der Abstimmung erklärte sich der als jüngstes Mitglied
der Conferenz zuerst befragte provisorische Commandant S. M. S.
»Zenta« sofort für die Annahme des Antrages, alle anderen
Befehlshaber folgten ihm im gleichen Sinne, nur der amerikanische
Contre-Admiral bedauerte, durch den Wortlaut seiner Instructionen
an der Theilnahme verhindert zu sein.
Da man einer ablehnenden Antwort des Vicekonigs und des
Fortscommandanten sicher war, wurden noch im Laufe des Tages
und vor Ueberreichung der schriftlichen Aufforderung zur Ueber-
gabe die letzten Reserven von den Schiffen, d. s. 250 Engländer,
200 Russen und 25 Italiener, von »Zenta« noch Seecadet Rudolf
Burgstaller und zwei Unterofficiere mit einem Proviantnachschub für
Tientsin, ans Land gesetzt; die Aufforderung zur Uebergabe der
Forts*) sollte an beiden Stellen erst um Mitternacht erfolgen.
*) Dieses interessante Scliriftstück hat folgenden Wortlaut: »Die vereinigten
Mächte haben seit Beginn der Wirren ohne Widerstand Detachements ans Land gesetzt,
um ihre Staatsangehörigen und das diplomatische Corps gegen die unter dem Namen
Boxer bekannten Rebellen zu beschützen.
Ganz zu Anfang haben die Repräsentanten der kaiserlichen Gewalt ihre Pflichten
scheinbar verstanden und sichtliche Anstrengungen gemacht, die Ordnung wieder herzu-
stellen. Gegenwärtig aber zeigen sie deutlich ihre Sympathien für die Feinde der
Fremden, indem sie Truppen gegen die Eisenbahnlinien dirigiren und die Einfahrt in
den Peiho mit Minen versehen. Diese Acte beweisen, dass die Regierung ihre feier-
lichen Verpflichtungen gegenüber den Fremden vergisst, und nachdem die Befehlshaber
der vereinigten Streitkräfte die Verpflichtung haben, in fortwährender V.erbindung mit
den Detachements am Lande zu verbleiben, haben sie beschlossen, die Forts von Taku
vorübergehend — im Guten oder mit Gewalt — zu besetzen. Der letzte Termin bis zu
ihrer Uebergabe an die AUiirten ist bis 2 Uhr Morgens des 17. (Juni).
Vorstehendes wird gleichzeitig dem Vicekönig von Tientsin und dem Comman-
danten der Forts mitgetheilt werden.«
Gezeichnet :
Hiltebrandt (Russland). James Bruce (England). G. Casella (Italien).
Bendemann (Deutschland). M. Nagamine (Japan). Kottowitz (Oesterrcich-
CourrejoUes (Frankreich). Ungarn).
67
Den Angriff auf die Taku-Forts konnten nur die im Peiho
liegenden Kanonenboote und die bereits ausgeschifften Landungs-
truppen unternehmen; den grossen Schiffen verwehrte ihr Tief-
gang, sich der Küste so weit zu nahem, um die Werke deutlich
sehen und direct beschiessen zu können, die Anwendung des
indirecten Schusses, der hinsichtlich der Distanz allein für die
schweren Schiffsgeschütze wohl möglich gewesen wäre, verbot
sich von selbst durch die Rücksicht auf die innerhalb der Fluss-
mündung operirenden Kanonenboote und Truppen.
Die Beschränktheit der Mittel zum Angriff forderte aber
umso gebieterischer, das Wagniss zu unternehmen, noch bevor es
den Chinesen gelingen mochte, die Fortsbesatzungen zu verstärken
und das Fahrwasser zu verlegen ; in diesen vor vierzig Jahren
begangenen Fehler, der damals einen Misserfolg der alliirten
englisch-französischen Flotte herbeigeführt hatte, durfte man unter
keinen Umständen wieder verfallen.
Im Flusse lagen acht Kanonenboote: »Iltis« der deutschen,
»Algerine« der englischen, »Lion« der französischen, »Atago« der japa-
nischen, »Giljak«,»Bobr« und »Korejec« der russischen, Radkanonen-
boot »Monocacy« der amerikanischen Flagge, ferner zwei englische
Torpedobootszerstörer »Fame« und »Whiting« und ein russisches
Torpedoboot. Der rangsälteste Commandant innerhalb dieser
Flottille, der sich wegen Festsetzung des Angriffsplanes mit den
Commandanten der übrigen Nationen verständigen sollte, war der
russische Linienschiffs-Capitän Dobrovolsky, Commandant des
»Bobr« ; als Führer der gelandeten Truppen fungirte der deutsche
Capitän zur See Pohl, dem das kleine österreichisch-ungarische
Detachement unter Linienschiffs-Fähnrich Stenner direct unter-
stellt war.
In einer in Tongku um 6Va Uhr abends abgehaltenen Zu-
sammenkunft der commandirenden Officiere wurden nun folgende
Grundzüge aufgestellt:
Nach Ablauf der für die Uebergabe normirten Frist sollten
die Kanonenboote, von denen »Atago« durch eine Maschinen-
havarie bewegungsunfähig gemacht war und »Monocacy« nach
dem Beschlüsse des amerikanischen Admirals am Bombardement
keinen Antheil nehmen sollte, und die beide daher zur Deckung,
respective Bewachung des Bahnhofes in Tongku vor Anker ver-
blieben, in der aus der Skizze ersichtlichen Ordnung — zuerst
die beiden nördlichen Forts auf dem linken Peiho-Ufer nieder-
kämpfen und sich, nachdem diese von den gelandeten Truppen
besetzt worden, dem auf dem rechten Ufer gelegenen Südfort
Fl*
zuwenden. Capitän zur See Pohl würde beim Beginne der Be-
schiessung vom Bahnhofe in Tongku gegen das nächste, das Nord-
westfort, aufbrechen, den Sturm im Augenblicke unternehmen,
wenn die Widerstandskraft der Geschütze gebrochen, dann sich
des Nordforts bemächtigen und schliesslich, nachdem auch die
[t.l A1t«la«
S lltü
Artillerie des Südforts von den Kanonenbooten niedergerungen
worden, mit bereitgehaltenen Dampfbarkassen und Booten auf
das rechte Ufer übersetzen und das letzte Fort besetzen. Den eng-
lischen Torpedobootszerstörern und dem russischen Torpedoboot
oblag es, sofort nach Beginn der Action die vier chinesischen
Hochseeboo«^ und den kleinen Kreuzer vor Jem Arsenal in Taku
wegzunehmen.
Die Stunde, bis zu welcher die Uebergabe erfolgen sollte,
war mit Rücksicht darauf gewählt worden, dass dann Hochwasser
herrschen und die Bewegungen der Kanonenboote erleichtern
würde. »Bobr- sollte mit dem Schlag von 2 Uhr das Bombarde-
ment eröffnen und auf seinen zweiten Schuss alle übrigen fünf
Schiffe mit ihrem Feuer einfallen; der Coramandant des ■Btis-
war vom Capitän zur See Pohl beauftragt, den Moment, in welchem
von Bord aus entscheidende Erfolge gegen die Geschütze des Nord-
west-, beziehungsweise Südforts erkennbar würden, durch dasHissen
eines schwarzen Ballons zu markiren. Zur Vertheidigung des Bahn-
hofes und als Rückendeckung sollten 130 Japaner dort verbleiben,
Linienschiffs- Capitän Dobrovolaky hatte es übernommen, die
Zustellung des Ultimatums in Tientsin und Taku zu besorgen;
aus bisher unaufgeklärten Gründen geschah dies jedoch noch
lange vor Mitternacht, die Angaben über den Zeitpunkt variiren
zwischen 7 und Ü Uhr abends. Vom Vicekönig in Tientsin kam.
trotzdem das Telephon nach Tongku noch functionirte. keine Ant-
wort, hingegen antwortete der Fortscommandant dahin, dass er
persönlich gegen die Uebergabe der Forts nichts einzuwenden
habe, ohne direclen Befehl seiner Vorgesetzten aber nichts thun
könne. Diese Antwort wurde um 11 Uhr nachts durch den russi-
schen Schiffslieutenant Bakhmetieff überbracht.
Die Schiffe und Fahrzeuge der Allürten lagen von Einbruch
der Nacht an dampfklar und gefechtsbereit und mit Ausnahme
von •litis« und -Lion« auf ihren für die erste Kampfesphase be-
stimmten Posten: gegen 10 Uhr wurden sie kurze Zeit durch die
elektrischen Scheinwerfer der Forts angeleuchtet, wahrscheinlich
wollten sich die Chinesen nochmals ihrer Lage vergewissern.
Die Nacht war ruhig und mondhell, die Ruhe aber nur
wheinbar, denn noch gab's Manches in aller Stille zu ordnen und
vorzubereiten. Wo die Spannung grösser, ob auf der Rhede
draussen. wo man an Bord der Schiffe zu einem ewig dünkenden
unthätigen Warten verurtheilt war. oder auf den Kanonenbooten
und bei den Detachements innerhalb der Flussmündung, ist schwer
ni sagen; aber hier wusste man die Entscheidung nahe und
Führer wie Mannschaften konnten kaum ihre Ungeduld bemeistern,
e&dlicb einmal loszuschlagen und in einem ernsten Ringen gegen
anscheinend übermächtigen Widerstand zu zeigen, was ein Häuf-
lein entschlossener, disciplinirter und von ihrer Sache begeisterter
Streiter zu leisten im Stande sei!
Maschinenmaat Arnold Hoffmaiin. der mit noch einem Mann
zur Bedienung des Scheinwerfers auf einem Patrouillenzuge i
maodirt. eben jedoch dienstfrei war, meldete sich bei Linienschiffs-
Fähnrich Stenner mit der Bitte, sich derSturmcolonne anschliessen z
dürfen; da jedoch der Scheinwerfer bei der Vertheidigung de»
Bahnhofes gerade in einem kritischen Moment höchst nothwendig
werden konnte, musste ihm der Officier die Bitte abschlagen,
beauftragte ihn aber, sobald das Südfort genommen sein werde,
was ja gewiss erst bei vollem Tageslicht zu erhoffen stand, so
schnell als möglich mit dem von den Leuten zurückgelassenen
Gepäck, Proviant und hauptsächlich Trinkbarem nachzurücken.
Bleiern schlichen die Stunden bis Mitternacht; endlich fanden '
auch die Ungeduldigsten ein bischen Schlaf, um sich für das
Kommende — und was sollte da
^^1%^ kommen ! — zu stärken.
flk|fl^ Da plötzlich um 12 Ubr bOMinuten
^^^^^^B sauste vom Nordwestfort her der erste
^^^^^^H .Schuss über den Bahnhof gegen die
A ^^^^^B Kanonenboote — die Chinesen hatten
^^^^^^^^ begonnen
^^^flH^^^^H^h Am besten wird wohl Linienschiffis-
^^^^^^M^^R^^^H Fähnrich Stenner selbst das Folgende
^^^^^^^^KM^^^m daher sei ihm das Wort ge-
^^^^^^^^^^r >Das erste Geschoss pfiff über die
^^^^^^ Köpfe der am Bahnhof lagernden Mann-
LinicMcbiffs tshn.icii ötrnn« schaftpn hinweg, ihm folgte gleich
darauf ein zweites, das 5Ü— 100 Metep
vor der Bahnhofsmauer einschlagend crepirte. worauf die Kanonade!
allgemein wurde,
.Algerine' und die russischen Kanonenboote erwiderten so*
fort das feuer. während .Iltis" und ,Lion' Anker lichteten un^
erst in ihre Position einlaufend, das Feuer aufnahmen.
Die Torpedobootszerstörer setzten sich in Bewegung, bC'-
mächtigten sich der chinesischen Torpedoboote und schleppten'
sie nach Tongku aus dem Feuer. Die Mannschaften der Landung»«
Corps sammelten sich hinter der Mauer des Bahnhofes, die gegen
Geschützfeuer wohl nur einen moralischen Schulz bot, Capida
zur See Pohl sandte zu den in der Nähe bivouakirenden Japanei
und Russen Patrouillen mit der Verständigung, dass er
das Nordwestfort vorrücke. Während des Vorrückens schlosseil
sich zuerst Japaner und Küssen dem dtrutschcn und ö^teri
reichisch-ungarischen Detachement an, etwas später die eben mit
Dampfbarkcissen und Booten gelandeten Engländer und Italiener,
im Ganzen war die vorrückende Colonne 825 Mann stark ge-
worden.
Der Anspruch der Engländer, ihnen, als den am stärksten
vertretenen (250 Mann) die Töte zu überlassen, fand seitens der
übrigen Nationen Widerspruch, so dass sie sich begtiügen mussten,
nur ihre mit Sprengmaterial ausgerüsteten Leute an die Spitze
der Colonne zu senden, während ihr Gros hinter dem deutsch-
österreichischen Detachement anschloss.
Capitän zur See Pohl besprach, während sich die Colonne
ordnete, mit den Ofßcieren
der einzelnen Abtheilungen
noch die letzten Anord-
nungen und nun gings vor-
wärts, auf einer Strasse,
zu beiden Seiten sumpfiges
Terrain ohne jedwede Cul-
turen. Die Mondhelle wurde
durch eine leichte Be-
wölkung beeinträchtigt, so
dass man eben noch die
Conto uren des Nordwest-
forts erkennen konnte, beim
Aufblitzen der Schüsse
waren die Geschützslände
jedoch deutlich sichtbar.
DasBombardementwar
im vollsten Gange, die Kanonenboote unterhielten zu dieser Zeit
noch ein langsames Feuer, das sie offenbar nach dem Aufblitzen
der chinesischen Schüsse regelten; die Chinesen sandten jedoch
nach der jedesmaligen Schussabgabe der Kanonenboote Salven
aus Maschinengewehren herüber. Andererseits war ihnen auch die
Vorrückung der Truppe nicht entgangen und suchten sie dieselbe
durch ein lebhaft genährtes Feuer aufzuhalten ; von den ma.ssenhaft
in nächster Nähe der Truppe einschlagenden Granaten explodirte
aber dank der Beschaffenheit des Bodens und vielleicht auch wegen
mangelhafter Adjustirung der Zünder nur der geringste Theil,
so dass keine Verluste entstanden.
Das eigentliche Vorfeld des Nordwestforts wird durch eine
lehmige, sanft ansteigende Ebene ohne jede andere Deckung
als die des Strassendammes gebildet ; dort auf ungefähr 4000 Meter
72
vom Fort formirte sich die Truppe in drei Treffen und blieb
unter dem Schutze der Dunkelheit in dieser Position, zum An-
griffe bereit, liegen.
Das Nordwestfort ist eigentlich zur Wirkung gegen See und
Fluss bestimmt; seine Kehle ist offen, konnte aber durch drei
moderne, 12 Centimeter Schnellade-Geschütze mit Panzerschutz-
schilden, zwei ältere 15 Centimeter Krupp'sche Geschütze und
mehrere alte Vorderlader vertheidigt werden ; während des Still-
liegens konnte man nun deutlich beobachten, dass die Vorderlader
nicht mehr feuerten — wahrscheinlich waren sie, ganz nach
chinesischer Manier, um Schrecken einzujagen, überhaupt nur ein-
mal abgefeuert worden. Hingegen wurden die Schnellade- und
die Krupp'schen Geschütze in äusserst lebhafter Thätigkeit er-
halten. Die Kanonenboote concentrirten deshalb ihr Feuer auf
diese Geschützgruppe; trotz eines mörderischen Feuers hielten
diesmal die Chinesen bewunderungswürdig aus.
Es begann bereits zu tagen und so wurden die Truppen um
3 Uhr 20 Minuten hinter den Strassendamm zurückgezogen, wo
sie mit Ungeduld das Zeichen zum Vorrücken erwarteten.
Aus der neuen Stellung konnte man die Schiffe und das
Nordwestfort deutlich beobachten.
Der Anblick, den das ganze Bild bot, war ein grossartiger.
Das Bombardement war mit der zunehmenden Tageshelle
stärker geworden, die Kanonenboote entwickelten ihre ganze Ge-
schützkraft und hatten sich zum Theile auch schon, durch das von
dort erhaltene Feuer belästigt, mit den Werken auf dem rechten
Peiho-Ufer engagirt.
Die Luft war von dicken, verschiedenfarbigen Rauchwolken
erfüllt, die, von den schweren Geschützen der Russen und den alt-
artigen der Chinesen herrührend, zeitweilig jede Aussicht be-
nahmen und in dem Zwielicht durch das Aufblitzen der Schüsse
secundenlang Feuerfarbe annahmen.
Es war eine Hollenmusik; fast keine Secunde verging, ohne
dass ein Schuss fiel. Inmitten des ohrenzerreissenden Lärmes, dem
noch das Knallen der explodirenden Geschosse eine besonders
scharfe Note verlieh, unterschied man klar das Dröhnen der
20 und 22*5 Centimeter Geschütze von ,Korejec* und »Bobr*, den
harten, metallenen Ton der Schnellfeuerkanonen, die heller klingen-
den Serien aus den 37 Millimeter Maschinenkanonen des ,Iltis*
und das Geknatter der Gewehrmitrailleusen.
Deutlich konnte man hüben und drüben die Treffer wahr-
nehmen; die Chinesen schössen viel präciser, als man erwartet.
Von den Schnelladern des \ordwestforts blieb endlich nur mehr
einer in Action, aber der wurde wirklich mit Bravour ausgenützt.
Mehrmals waren in seiner nächsten Nähe Granaten einschlagen
und crepiren gesehen worden und hatte das Geschütz bis zu einer
Minute lang geschwiegen, dann aber musste eine frische Bemannung
an Stelle der ausser Gefecht gesetzten getreten sein, denn immer
w-ieder wurde von dorther Schuss auf Schuss abgegeben.
Die Zeit schien unendhch lang und noch immer nicht gab
.Iltis' das verabredete Zeichen. Ua. um 3 Uhr 35 Minuten, er-
folgte eine enorme Explosion, der kurz darauf zwei kleinere
folgten; ein grosses Pulverdepot in den südlichen Forts war auf-
geflogen*) — momentan stellten alle Kanonenboote und selbst das
Nordwestfort das Feuer ein und horte man von den Schiffen
hundertstimmiges Hurrah. Fast im selben Augenblicke wurde die
Truppe in der ganz ungedeckten rechten Flanke von einem un-
sichtbaren Gegner mit kleinen Granaten, glücklicherweise ohne
Erfolg, beschossen: vielleicht kamen diese Grüsse von einem
armirten chinesischen Minenleger, der sich zwischen den zahlreichen
am Ufer vertäuten Dschunken verborgen hatte.
Endlich um 3 Uhr öü Minuten war der so tapfer bediente
12 Centimeter im Nordwestfort zum Schweigen gebracht und
hisste .Iltis' das verabredete Signal zum Vorgehen. Die Truppe
rückte sogleich theilweise in breiten Schwarmlinien über das offene
Feld, theilweise in compacterer Formation unter der Deckung
des Strassen dämm es vor und wurde von lebhaftem Gewehrfeuer
»US dem Fort empfangen. Das Österreichisch-ungarische Detachement
ßhrte einen Theil der Vorrückung in letzterer Deckung aus ;
da jedoch der Winkel zwischen Strassenzug und Schusslinie so
spitz war, dass man ohne Gefährdung der Vordermänner nicht
ifhiessen konnte, wurde die Deckung aufgegeben und in der Zeit
bis 4Uhr 40 Minuten in langen Sprüngen, während der Haltepausen
feuernd, bis auf 800 Schritt vom Fort herangerückt; dort bog
die Strasse nach rechts ab, neuerdings eine vortreffliche Deckung
bielend, aus der ein wirksames Feuer gegen die aus Schiess Charten
feuernden chinesischen .Schützen abgegeben wurde. Die kleine '
Abtheilung war sehr rasch mit grosser Ruhe vorgegangen und zeigte
eine gute Feuerdiscrplin.
Die Chinesen schössen meistens aus älteren Hinterladern,
doch liess das eigenthümliche Pfeifen von Stahlmantelge-
Khossen erkennen, dass sie auch moderne, kleincalibrige Gewehre
*} Der die Explosion herbtifÜhrpiidc Treffet wiirde von otchrcrcD Schiffen bean-
ipradit : d«> Vndieasi danin isi poch hDate atritlig.
in Action gebracht hatten. An dieser Stelle fielen ein japanischer
Officier und ein englischer Matrose, tödtltch getroffen, als erste
Opfer der Sturmcolonne.
Die Deckung des Strassendammes ausnützend, konnte man
wieder sprungweise bis auf 400 Schritt herankommen ; auf diese
Distanz wurde durch ein lebhaftes Feuer der letzte kräftige Wider-
stand der Chinesen gebrochen.
Bei der raschen Vorrückung waren, wie nicht zu vermeiden,
Angehörige aller Nationen an die Spitze gekommen und nun, als
das Wanken des Feindes bemerkbar geworden, begann unter
brausendem Hurrah der Sturm auf die Wälle.
Auf der dem Flusse zugewendeten Seite war eine Brücke über
den breiten Wassergraben intact geblieben und über diese stürzten
sich die Stürmenden auf das verrammelte Thor; letzteres wurde
gesprengt, gleichzeitig aber hieben sich die Leute Stufen in die
steilen Wälle und um 4 Uhr 50 Minuten waren letztere erstiegen,
die wenigen nicht geflohenen Chinesen trotz hartnäckiger Gegen-
wehr niedergemacht. Die österreichisch -ungarische Flagge ging —
da kein anderer Flaggenmast mehr frei war — neben einer eng-
lischen hoch!
Nord- Fort Im Nordwestfort
wurde sehr viel Muni-
tion und namentlich bei
den Geschützen eine
Menge Gefallener ge-
funden. Dort lagen sie
zumeist in Gruppen, wie
sie von crepirenden
Granaten niedergemäht
worden, die verzerrten
Gesichter von Staub und
Pulverdampf aschgrau
gefärbt — ein entsetz-
licher Anblick. Die
tapfere Bemannung des
zuletzt in Action ge-
standenen 12 Centi-
meter Geschützes fand man dort beisammen, ebenso eine Gruppe,
die beim Herbeitragen der Munition von ihrem Schicksal ereilt
worden.
Da der Angriff einseitig erfolgt war, dürfte der grösste
Theil der verschont gebliebenen Besatzung beim Sturme, wahr-
Kcheiolich unter Mitnahme von Verwundeion und einig-en Todten,
südwärts geflüchtet sein. Deshalb und weil zu einer Bejfehung'
des ganzen ausgedehnten Werkes die Zeit fehlte, kann der Ver-
■.n GmchUIuctau» a1
lust der Chinesen an diesem Punkte kaum annäherungsweise an-
gejfeben werden — sicherlieh betrug er aber weit mehr als die
tm Fnrt angetroffenen, auf hundert geschätzten Todten.
Von der Mannschaft der ,Zenta". die, nachdem sie eine so
schöne Feuertaufe erhalten, zum Gebet angetreten, fehlte Niemand,
auch war keiner verwundet; Seecadet Petri hatte die Leute sehr
gut zusammengehalten.
Nach einem kurzen PatrouiUengange durch das Fort vereinigte
sich die kleine Abtheilung wieder mit dem deutschen Detachement,
nm g^en das nächste, das Nordfort vorzumarschiren.
Die Kanonenboote hatten inzwischen Anker gelichtet und
stMierten weiter öussabwärts. ankerten dann und nahmen, nach-
ilcm das Nordfort das Feuer bereits eingestellt hatte, das Südfort
unter Feuer.
Vom Nordwest- zum Nordfort führt ein gedeckter Weg ; auf
iliesem wurde, während das Südfort gegen denselben und die
Kanonenboote seine Geschosse schleuderte, behutsam vorgeschritten.
Aus dem Nordfort fielen nur Gewehrsclküsse, einige Geschütze,
di« den Verbindungsweg hätten wirksam bestreichen können,
scliitmen verlassen zu sein, die Granaten des Südforts erzielten
^cgcn die vorgehende Colonne keinen Erfolg.
76
Indessen erdröhnte wieder eine ungeheuere, die erste an
Stärke weit übertreffende Explosion, nach mehrfacher Beobachtung
eine doppelte, ein SchiesswoU- und ein Pulvermagazin auf dem
rechten Ufer waren zerstört. Die Alles erzittern machende Detonation
warf einen Staub- und Feuerkegel von vielleicht 400 Meter Höhe
auf; wieder brachen Schiffsbemannungen und gelandete Streiter in
frenetischen Jubel aus, gleich darauf bedeckte sie aber ein die
Luft minutenlang verfinsternder Staubregen.
Rasch ging's nun auf das Nordfort zu ; dessen Besatzung floh
nach wenigen Schüssen, offenbar durch die Einnahme des Nach-
barforts und die Explosion auf dem gegenüberliegenden Ufer ganz
demoralisirt — hätte sie die erwähnten Geschütze und einige der
zahlreichen, später im Südfort gefundenen Feldgeschütze herbei-
gebracht und spielen lassen, wäre die Vorrückung den Angreifem
theuer zu stehen gekommen.
Das Nordfort wurde somit leichten Kaufes besetzt und
leistete nur mehr das Südfort aus mehreren modernen Schnellade-
Geschützen grösseren Calibers Widerstand gegen die Beschiessung
der Kanonenboote. Deshalb Hess ich das erste beste Geschütz,
das gegen das Südfort feuern konnte, von einigen Matrosen-
kanonieren meines Detachements und des deutschen bemannen und
gab, selbst*) zielend und abfeuernd, einen Schuss auf eines der
gegen die Schiffe feuernden Geschütze ab. Zwar traf ich das
Geschütz selbst nicht, wohl aber das unmittelbar darunter befindliche
Munitionsdepot, das mit einer weithin vernehmbaren Explosion
aufflog.
Nach diesem ersten Schusse gaben dann die österreichisch-
ungarischen und deutschen Kanoniere noch mehrere mit gutem
Erfolge aus demselben Geschütze ab, doch feuerte nur mehr
ein Geschütz des Südforts noch einigemale, bis auch dieses bei-
läufig um 6 Uhr morgens schwieg. Gerade zur rechten Zeit, denn
einige der Kanonenboote hatten ihren Mu nitions vor rath fast ganz
erschöpft !
Um G Uhr 25 Minuten Hess Capitän zur See Pohl mit dem
Uebersetzen auf das rechte Ufer beginnen, was vorläufig nur eine
deutsche Dampf barkasse mit Booten in Schlepp besorgte, so dass
*) Linienschiffs-Fähnrich Stenner halte das Geschütz halb geladen — das Geschoss
bereits eingeführt — vorgefunden ; eine eingehende Untersuchung des Geschützes war
natürlich ausgeschlossen, so liess dieser schneidige Officier nur fertig laden und richten,
schickte die Leute vor der Schussabgabe weg, um, falls das Rohr in P'olge einer von
aussen nicht erkennbaren Havarie springen sollte, wenigstens seine Leute nicht zu ge-
fährden. Distanz und auch Elevation, es war nämlich nur eine Gradeintheilung aber
keine Schiesstafel beim Geschütz, schätzte er ebenfalls selbst.
das .Zenta'-Detachement erst mit der zweiten Uebcrfuhr an die
Reihe kam.
Als wir das andere Ufer erreichten, sahen wir die früher
überschifften Detachemenls ohne Widerstand in das Südfort ein-
marschiren und die Chinesen auf einer gegen das Dorf Taku
führenden Strasse abziehen. Sogar eine Sänfte wurde unter ihnen
ausgenommen; in der verliess wohl der Militär- Mandarin das
Fort. Um ihnen den Weg abzuschneiden, war es zu weit und die
Mannschaft wohl auch schon zu stark ermüdet: das , Zenta'-Detache-
ment begnügte sich daher, den Abzug durch einige wohlgezielte
Gewehrsalven zu beschleunigen, was auch vollkommen gelang.
Einige Kanonenboote fielen hiebei mit ihren Mitrailleusen ein.
Durch das Glas konnte man beobachten, wie die Kulis die Sänfte
rtwas unsanft niederstellten und der Herr Mandarin sich zu Fuss
fortbewegte, ja unter dem Ansporn des unheimlichen Kugel-
pfeifens sogar in einen für seine Würde bedenklichen Laufschritt
**t«e! Der Mann hatte sein Gesicht verloren!*)
Der nordwestliche Theil des ausgedehnten Südforts wurde
von den Engländern, der südliche von den Deutschen und unserer
kleinen Abtheilung besetzt. Um 0 Uhr 45 Minuten waren somit
*lle Werke bis auf die Strand batlerie, das sogenannte neue Fort
•) In China Ijndl.iufiger Aoadmck dafür,
1b «abren kaon ; •Gexicht verlierci» un
ch) einmal mehr
iiliul^gct Motiv
78
und ein kleines, vier Kilometer entferntes Landwerk, die jedoch
nicht mehr kämpften, genommen ; während die genannten Ab- .
theilungen — Russen, Japaner und Italiener blieben in den ge-
nommenen Werken auf dem linken Peiho-Ufer — noch das Süd-
fort besetzten, flogen aus einem brennenden Magazin massenhaft
die Gjeschosse explodirender Patronen wie Raketen senkrecht in
die Höhe, Alles umher unsicher machend. Derartige kleine Ex-
plosionen dauerten noch mehrere Tage hindurch fort, denn man
konnte die Brände, die sich aus dem Glimmen des unter den
Lehm gemischten Gehäcksels entwickelten, nur mit schwerer Mühe
dämpfen.
Die k. und k. Flagge wurde vom Nordwestfort herüber-
geholt und mit der deutschen zusammen auf einem Flaggenmaste
gehisst.«
Soweit die Relation von LinienschifFs-Fähnrich Stenner, in
der er das brave Verhalten des Seecadetten Petri und seiner
kleinen Schaar, von der wunderbarer Weise keiner verwundet
worden, besonders hervorhebt, der auszeichnenden Behandlung,
die der deutsche Capitän zur See Pohl, der umsichtige und ent-
schlossene Führer der ganzen Operation zu Lande, ihm und seinen
Leuten bewies, und der freudigen gegenseitigen Unterstützung
des deutschen und des »Zenta«-Detachements dankbar gedenkt.
Als ergänzende Episode sei noch erzählt, dass Maschinen-
maat HofFmann, als er sah, dass der Bahnhof nicht angegriffen
wurde, auf eigene Verantwortung mit dem ihm zugetheilten Mann
sich an der Wegnahme der chinesischen Torpedoboote betheiligte,
dort eine chinesische Flagge erbeutete und nach der Einnahme
der Werke als erste, von den nach Labung lechzenden Streitern
mit Enthusiasmus begrüsste »Proviant-Colonne« im Südfort ein-
rückte — das hiezu nöthige Fahrzeug hatte er requirirt.
Um 7 Uhr 55 Minuten dampfte der arg zerschossene »Iltis«
gegen die Barre und signalisirte der internationalen Flotte: »Die
Festung ist genommen.«
Damit waren die fernen Zuschauer, welche das Bombarde-
ment und seine Begleiterscheinungen, die furchtbaren Explosionen,
in der denkbar grössten Spannung verfolgt hatten, von einem
schweren Alp erlöst und in die überschwellende Begeisterung
über den Erfolg dieses denkwürdigen Sonntagsmorgens mischte
sich die Zuversicht, dass, was auch noch kommen würde, der
frische Wagemuth doch zum endlichen Triumphe führen müsse.
Die Einnahme der Taku-Forts ist eine so glänzende Waffen-
that, dass Einzelnheiten darüber anzuführen wohl angebracht
80
erscheint. Das Hauptverdienst an dem Gelingen des kühnen,
gegen die nach Angabe deutscher Officiere angelegten, stark ar-
mirten und von der Mehrzahl nach europäisch gedrillten Truppen
vertheidigten Erdwerke gebührt den Kanonenbooten, von denen
nur »Korejec« und »Bobr« schwere, jedoch nicht mit Schnellade-
Vorrichtung ausgestattete Geschütze führten und Panzerschutz
besassen ; ohne die vorherige Erschütterung der Widerstandskraft
der Werke durch das ausgezeichnet geleitete Feuer dieser an
sich so verwundbaren Schiffe hätte das kleine Landungs-Corps
beim Ansturm zerschellen müssen.
Fast das ganze Bombardement hatten die Kanonenboote vor
Anker durchgemacht und demzufolge auch stark durch Treffer
gelitten; die Chinesen kannten Distanzen und die verwundbarsten
Stellen der Schiffe sehr gut und hatten, wie die ersten Schüsse
erwiesen, ihre Geschütze noch vor Anbruch der Nacht gerichtet.
Späterhin, als Positionsänderungen eingetreten waren, schössen
sie sich gut ein; die ersten, meist Takelagen, Schlote und Auf-
bauten erreichenden Treffer wurden durch tiefer fallende Schüsse
gefolgt — Alles Zeichen, dass die Lehren der europäischen In-
structoren fruchtbaren Boden gefunden hatten. Hingegen war
es ein Glück für die Angreifer, dass die Zünder der Granaten
grösstentheils — sei es in Folge fehlerhafter Adjustirung, sei es
wegen eingetretener Deteriorirung des Materials — nicht functio-
nirten ; dadurch wurden die Schiffe vor umfangreicheren Zerstörungen
und noch zahlreicheren Verlusten an Menschenleben bewahrt.
Immerhin waren beide noch ernst genug.
»Iltis« erhielt 16 Granattreffer, wovon einer den Bug durch-
schlug, die übrigen Schlote, Deckaufbauten, sowie die Commando-
brücke zerstörten, die zwei Gewehrmitrailleusen und fünf 37 Milli-
meter Maschinenkanonen ausser Gefecht setzten. Bald nach dem
Beginne fiel ein Officier; der Commandant, Corvetten-Capitän
Lans, wurde durch einen Schuss in den linken Unterschenkel sehr
schwer verletzt, führte aber, sich mit den Händen anklammernd,
mit heroischem Aufgebot aller Kräfte das Commando weiter, bis
er hinweggetragen werden musste. Während des Transportes von
der Brücke herab wurde die Stiege noch zerschmettert und Cor-
vetten-Capitän Lans mit Splittern übersäet. Im Ganzen betrugen
die Verluste des »Iltis« je einen todten und schwerverwundeten
Officier, 7*) Mann todt und 14 Verwundete.
*) Diese Ziffer ist deutschen Darstellungen entnommen ; in der ersten, als officiell
geltenden Relation, die russische Officiere zusammenstellten, waren irrig nur vier Todte
angegeben.
81
»Algerine« erhielt mehrere Schüsse durch die Bordwände,
Boote und Aufbauten, verlor zwei schwerverwundete Officiere und
sieben Mann Verwundete.
»Whiting« (englischer Torpedobootszerstorer) erhielt eine
funfzollige Granate in den Kesselraum, so dass ein Kessel ausser
Betrieb gesetzt werden musste.
»Lion« wurde durch eine 15 Centimeter Granate ge-
troffen, die die Bordwand unterhalb der Commandobrücke durch-
schlug und knapp über dem Kessel passirend im Segeldepot
crepirte. Der daraus entstandene Brand wurde rasch gelöscht.
Sonstige Treffer erreichten die Takelage, so dass das Schiff mit
dem Verlust von einem Schwer- und drei Leichtverwundeten
davonkam.
»Giljak« hatte am meisten zu leiden. Gleich zu Beginn traf
eine Granate das Hauptdampfrohr, wodurch eine Menge Leute
verbrüht wurden ; bald darauf durchschlug ein zweites Geschoss
den Schiffskörper 1 V« Fuss unter Wasser und schlug in das Depot
der 75 Millimeter Patronen ein, von denen 100 Stück successive
explodirten. Merkwürdigerweise war der hieraus entstandene
Schaden relativ gering, hingegen zog das Schiff durch das Schuss-
loch unter der Tauchungslinie so viel Wasser, dass sein Comman-
dant, weil in Folge der schweren Havarie am Dampfrohre die
Pumpen nicht bethätigt werden konnten, es leicht auf den Strand
setzte. Trotzdem setzte »Giljak« das Feuer fort und wurde das
Rohr, noch während der Kampf im vollen Gange war, reparirt.
Eine heroische Leistung, die durch einen Gesammtverlust von
8 Todten und 47 Verwundeten, darunter je ein Officier, noch
besser illustrirt wird.
Auf »Bobr« wurde das neunzöUige (22*5 Centimeter) Ge-
schütz nach seinem vierten Schusse durch eine Granate ausser
Gefecht gesetzt, auf »Korejec«, der sechsmal getroffen worden,
entstanden zwei Brände, die jedoch alsbald gelöscht wurden;
beide Schiffe zusammen hatten einen Verlust von 9 Todten
und 22 Verwundeten zu beklagen, so dass die Verluste auf
den russischen Schiffen 17 Todte und (59 Verwundete aus-
machten.
»Monocacy« wurde einmal getroffen, doch verursachte das
Geschoss keinen nennenswerthen Schaden und wurde auch Nie-
mand verwundet, was ein umso glücklicherer Zufall ist, als sich
viele Flüchtlinge aus Tientsin, meist Frauen und Kinder, an Bord
befanden.
»Atago« blieb unverletzt.
Winterbalder : Kampfe in China. 6
Bestückung de
Die Uebersicht der Bestückung der Forts zeigt die Zahl und
das Caliber der Geschütze in folgender Art:
a) Gesammtzahl der Kanonen;
6) Kanonen mit der Schussrichtung gegen die See ;
c) Kanonen mit der Schussrichtung gegen den Fluss;
Nordwestfort
Nordfort
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In Summa haben folgende Geschütze auf die Kanonenboot
geschossen :
*] Dürfte 3 beinen.
I - Forts.
i) Kanonen, welche bei Beginn des Kampfes auf die Kanonen-
boote schiessen konnten ;
e) Kanonen, welche thatsächlich auf die Kanonenboote
schössen, wie man sich den nächsten Tag durch Prüfung
der Aufsätze und Lafetten überzeugte.
Südfort
Neues Fort
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4 Schnelladekanonen grossen Calibers,
15 » mittleren »
1 Kanone mittleren Calibers )
11 Kanonen kleinen ■ |
2 gezogene Vorderlader,
~33~
nicht Schnellader,
Bestückung der Kanonenboote.
i Bombardement der Forts theilgenommcn haben.
(DcDUchlaDd) •Ulis«:
88 mm SchnelUde . . .
37 ■ Maschincakanonen
Gcwehrmilraillcusen . . .
(England) lAlgerine' :
100 mm Schnflkcic . .
47 . . ...
37 . Maxim
(Franlircich) -Lion- :
Revolveikaoünen
Dichl Seh Del lader
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•I SchnelircaerkanoDci
37 • Hatchkiss-RevolverkaDiiDen
lRu55!iind) «Korejec« :
SO rm Dicht ScImeUadcr
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(Ru^sbnU) •Giljak<:
^chueilfcuerkanoDea .
2'fi 2.riütT SchncUreucikan
37 mm
Mitfailleusen
1190
3174
Mit folgenden Kanonen konnte gleichzeitig gegen die Forts
gefeuert werden:
SchDellfeutrkanunen (miltltreä Caliber) | Ö .1
Iklein« Cilibcr) ,27
Nicht .Schnellffucrk.iuoncn (grosses Caliber) ,| S |
imillUrea Caliber) . . . . j 4
(kleiac<> Caliber) ' - ' ' ^
Mitral lleuseu fi
Totale . .
48
85
Von den Landungstruppen erlitten nur die Engländer, I Mann
todt, 6 verwundet, die Japaner, 1 Officier und 2 Mann todt, 2 Mann
sehr schwer und 2 leichter verwundet, und die Russen, 1 Mann
todtlich, 2 schwerer verwundet, Verluste. Im Ganzen hatte somit
die Unternehmung den Alliirten 9 Officiere und 132 Mann ge-
kostet, während die Chinesen, weil sie ihre Verwundeten und
wahrscheinlich auch Todten noch während des Gefechtes weg-
geschafft hatten, kann man ihre Verluste nur annähernd schätzen,
öOO — 800 Todte gehabt haben dürften. 35 Gefangene ergaben sich
mit Freude in ihr Schicksal, sogleich als Lastkulis verwendet zu
werden. Die vorstehenden Tabellen ermöglichen einen genauen
Vergleich der Bestückung der chinesischen Forts mit jener der
angreifenden Kanonenboote und geben auch den Munitionsverbrauch
letzterer an — insgesammt 25.889 Schuss der verschiedensten
Caliber.
Von 63 chinesischen Geschützen, welche den Fluss be-
streichen konnten, haben aber thatsächlich nur 33 in den Kampf
eingegriffen, denen seitens der Schiffe 48 allerdings meist klein-
kalibrige Schnellfeuerkanonen gleichzeitig entgegengesetzt werden
konnten. Dies zeigt, dass die Forts noch nicht genügend bemannt
gewesen sind ; von den 33 Geschützen wurden zehn ausser Gefecht
gesetzt. Durch dsis Bombardement wurden im Ganzen drei grosse
und acht kleine Explosionen von Pulvermagazinen verursacht, die
im Verein mit den Geschosstreffern der Alliirten im Inneren der
Forts arge Verwüstungen anrichteten.
Gleich nach der Besetzung des Südforts wurde es abpatrouil-
Hrt, dabei noch der eine und der andere versprengte Chinese aus
seinem Versteck hervorgeholt und zum Gefangenen gemacht; nach-
mittags Hess Capitän zur See Pohl das scheinbar verlassene Süd-
ostfort und die Strandbatterie ohne nennenswerthen Widerstand
vorübergehend besetzen. Sicherheitshalber waren vorerst darauf
einige Schüsse aus einem Geschütz des Südforts abgegeben und
sodann eine Geschützbemannung zum eventuellen sofortigen Ein-
greifen zurückgelassen worden.
Bei dieser Gelegenheit erbeutete Seecadet Petri eine Gatling-
Kanone sammt Protze und eine 47 Millimeter Schnellfeuerkanone
System Maxim-Nordenfeldt. Wegen der grossen Ausdehnung der
beiden Werke und der geringen Anzahl verfügbarer Mannschaft
konnte an eine dauernde Besetzung nicht gedacht werden; man
machte daher die Geschütze durch Wegnahme oder Zerstörung
der Verschlüsse unbrauchbar, einige der im Südostfort vor-
gefundenen Feldgeschütze wurden sammt Munition in das besetzt
86
zu haltende Südfort geschafft und dort so placirt, dass sie die
Zugänge vom Dorfe Taku her unter Feuer nehmen konnten.
Noch vor Abend wechselten Russen und Engländer ihre
bisherige Position ; erstere zogen, 200 Mann stark, ins Süd-, letztere
ins Nordwestfort.
Wegen der Brandgefahr, die bei dem Vorhandensein sehr
bedeutender, alle Vermuthungen weit übertreffender Munitions-
vorräthe für die Besatzung leicht verhängnissvolle Folgen hätte
bereiten können, musste sobald als möglich mit der Vernichtung
des nicht Verwendbaren begonnen werden, eine ebenfalls heikle
Arbeit, die einige Wochen in Anspruch nahm und einigen un-
vorsichtig gewordenen Leuten das Leben kostete.
Im Südfort wurde ferner eine modern eingerichtete Zünd-
station für unterseeische Minen, sowie eine complete elektrische
Scheinwerfer- Anlage gefunden ; erstere wurde desarmirt, letztere
dagegen in Stand gesetzt, um sie zur Signalisirung mit den
Schiffen verwenden zu können.
Am Abend empfing die Besatzung die Nachricht vom An-
rücken einer grösseren Menge Boxer und hielt deshalb strenge
Bereitschaft ; doch verging die Nacht ohne Zwischenfall.
»Zenta« benöthigte die Mannschaft dringend an Bord; des-
halb wurde das Detachement Stenner am 18. Juni einberufen.
Bei dessen Abgehen hielt Capitän zur wSee Pohl eine An-
sprache, in der er dem schneidigen, so erfolgreichen Vorgehen
der kleinen Truppe hohes Lob zollte; die deutschen Matrosen
gaben ihren scheidenden österreichisch - ungarischen Waffen-
gefahrten Sträusschen aus rothen und weissen Blumen mit, die
das Gärtchen des Mandarinenhauses hatte liefern müssen, um die
Farben der kaiserlichen und königlichen Kriegsflagge zu ver-
körpern. Davon hatte dem blumenliebhaberischen Besitzer gewiss
nichts geschwant!
Dem Detachement Stenner war es beschieden, unsere Flagge
zum erstenmale so weit von der Heimat als siegreicher Eroberer
auf einer fremden Festung wehen zu lassen.
Auf der Rhede war inzwischen der an Stelle »Hai-Tiens« ge-
tretene chinesische Kreuzer »Hai-Yung« sammt seinem Admiral
zum Gefangenen der internationalen Flotte gemacht worden. Das
ging friedlich und recht eigenartig zu. »Hai-Yung« war während
des ganzen Bombardements scheinbar dampfklar, die Geschütze je-
doch ostentativ mit ihren Persenningen bedeckt, unmittelbar neben
der »Zenta* gelegen — allerdings dicht neben ihm ein japanischer
Torpedobootszerstörer, bereit, um beim ersten Anzeichen einer
Ftindselig'keit svine Torpedos gegen das Schiff zu lancirdi. Xach-
dem »Iltis« die Einnahme der Taku- Forts gemeldet hatte, wurde der
chinesische Contre-Admiral eingeladen, in der Conferenz zu er-
»cheinen. Dort klärte ihn Vice-Admiral Bendemann über die Vor-
gänge am Morgen auf, wobei er betonte, dass die Chinesen es
gewesen, die das Feuer eröffneten und dadurch die Kanonenboote
iu energischem Vorgehen zwangen; hierauf wurde er gefragt,
welche Instructionen die Regierung in Peking ihrem Admiral ge-
geben habe. Yeh-
■f
Tschu-Kwee antwor-
tete, er sei ange-
wiesen auf derRhede
m bleiben und eine
zuwartende Haltung
tu beobachten. Auf-
ini.'rksam gemacht.
dass es unter den
obwaltenden Verhält-
nisseti am vortheil-
liaftcsten für ihn sei.
«ch den Anordnun-
gen des Rathes der fremden Befehlshaber unbedingt zu fügen,
«klärte er sich bereit, auf der Rhede unter Bewachung der
fremden Schiffe zu bleiben und keinen Fluchtversuch zu unter-
nehmen. Aus eigenem Antriebe fügte Yeh-Tschu-Kwee bei, er
bedaui're das unbegreifliche Vorgehen seiner Regierung, das er
absolut verurtheilen müsse, ferner dass am 1(5, Juni Befehl ge-
kommen sei. keine Fremden mehr landen zu lassen; seines Wissens
habe der Vicekönig Vü-Lü am selben Abend einen reitenden Boten
(Bit der Bitte nach Peking gesendet, gegen die Boxer endlich
Stellung zu nehmen und sie zu unterdrücken.
•Hai-Yung« wurde noch am 17. nachmittags zwischen einem
deutschen und einem russischen .Schlachtschiff vertäut und unter aller
scfauldigen Höflichkeit um die Abgabe der Geschütz verschlusse
Und einiger kleiner, aber unentbehrlicher MaschinenbestandtheÜe
«^ucht. Höflichkeit gegen Höflichkeit und die erbetenen Nippes
«anderlfn auf das deutsche Schiff!
Die Leichen der bei Taku Gefallenen und später ihren Wunden
Erlegt-nen musslen, um ihre Gräber nicht der Gefahr ruchloser
Schändung preiszugeben, in offener See versenkt werden — so
Kurde noch so mancher zu Lande gefallener Seemann dem ihm
müttMrlichen Element zurückgegeben!
88
Von Tientsin war noch am 17. früh morgens an den russi-
schen Vice- Admiral Hiltebrandt eine Nachricht des Oberst Wogack
gelangt, worin er die Hoffnung* aussprach, dass es der Besatzung
gelingen werde, die Stadt zu halten — also mussten schon Feind-
seligkeiten ausgebrochen sein oder mindestens unmittelbar bevor-
stehen; in der Nacht zum 18. verbreitete sich das Gerücht, dass
die Chinesen nachmittags die Stadt zu beschiessen begonnen
hätten. Von Tongku ausgeschickte Patrouillenzüge konnten nicht
weit über die von den Russen besetzte Station Tschun-lian-tscheng
vordringen, da eine kleinere Brücke zerstört worden war.
Bis zum 20. Juni blieb man thatsächlich über die Vorgänge
in Tientsin im Unklaren ; an diesem Tage erst überbrachte der
Engländer Wats, der sich, von nur drei Kosaken begleitet, durch-
geschlagen hatte, der internationalen Flotte verlässliche Auskünfte
über die seit 17. Juni dauernden Kämpfe und die Bitte um
schleunigste Hilfe. Weitere Ergänzungen über die Kämpfe in
Tientsin brachte am 21. abends ein französischer Officier, der in
einem kleinen Boote bis Tschun-lian-tscheng gekommen, den Rest
des Weges nach Tongku auf der Bahn zurückgelegt hatte.
Glücklicherweise waren schon am 18. Juni die erste Staffel
amerikanischer Truppen von den Philippinen, 1000 Mann russische
Truppen unter General Stessel und ungefähr 600 Mann deutsche
Matrosen, die Ablösung für ausgediente Mannschaft des Kreuzer-
geschwaders, eingetroffen, deren Ausschiffung sich allerdings durch
schlechtes Wetter verzögert hatte; diese Truppen, zu denen noch
am 22. Juni ein von Vice-Admiral Bendemann erbetenes Halb-
bataillon Seesoldaten aus Tsingtan und 90ü mit »Terrible« ange-
kommene Engländer stiesscn, mussten sich von Tongku aus ihren
Weg nach Tientsin gegen einen übermächtigen Feind erkämpfen.
Am 21. Juni schon war es östlich von Tongku zu einem ernsten
Zusammenstoss mit der Vorhut auf 10.000 Mann geschätzter chinesi-
scher Truppen gekommen, dievonLutai her anmarschirten; das Gefecht
endete mit dem Rückzug der Chinesen, die aber noch Zeit fanden,
die grosse, aus 22 in Holz gebauten Jochen bestehende Eisenbahn-
brücke zu verbrennen. Vorderhand war dies eher ein Vortheil für
die Alliirten, die dadurch auch gegen chinesische Unternehmungen
von dieser Seite her so ziemlich gesichert wurden. Eine aus Eng-
ländern und Amerikanern bestehende Colonne war schon vor dem
deutsch-russischen Verstärkungs-Corps aufgebrochen, durch die
Chinesen jedoch einige Zeit aufgehalten worden, so dass sie erst
mit letzterem am 23. Juni mittags ihren Bestimmungsort Tientsin
erreichte.
89
Seit 17. Juni war jede telegraphische Verbindung mit der
Welt via Taku — Tongku abgeschnitten; die SchifiFe waren daher
bezüglich ihres Verkehres mit der Heimat auf die beiden nächst-
gelegenen Häfen Port Arthur und Tschifu und das weiter ab-
liegende Tschemulpo angewiesen. Der nähere russische Hafen bot
aber den Nachtheil, dass chiffrirte Depeschen, um die es sich vor-
wiegend handelte, entweder gar nicht, oder nur mit grosser Ver-
spätung zur Beförderung gelangten, so dass schliesslich alle
Nationen bis auf die Russen ihre Telegramme über Tschifu leiteten.
Zwischen den englischen Schiffen auf der Rhede und dem
Lande wurde bald nach der Einnahme der Taku-Forts eine Ver-
bindung durch Marconi^sche (drahtlose) Telegraphie eingerichtet,
die sich vorzüglich bewährte; Ende August errichteten auch, wie
vorgreifend bemerkt sei, die Deutschen eine solche Station im
Südfort. Ansonst war man im Verkehr mit dem Lande auf
Dampfboote oder bei Nacht auch auf Signalisirung mit Schein-
werfern beschränkt.
Zufolge Vereinbarung innerhalb der internationalen Flotte —
auch die amerikanische Regierung schien inzwischen die ihren
Admiral etwas isolirenden Instructionen den thatsächlichen Be-
dürfnissen entsprechend verändert zu haben — ging täglich eines
der vor Taku liegenden Schiffe im Post- und Depeschendienste
nach Tschifu ab, das nun als nächste Ressourcenstation überhaupt
eine äusserst wichtige Rolle zu spielen begann.
Dies traf besonders für »Zenta« zu, welches Schiff sich als
alleiniger Vertreter der österreichisch-ungarischen Flagge schon
aus diesem Grunde unmöglich längere Zeit von Taku entfernen
durfte.
In Tschifu hatte sich bisher die Bevölkerung dank der Be-
sonnenheit und Energie des gewiss auch von Deutschland zum
Vortheile der AUiirten beeinflussten Gouverneurs von Schantung,
Yuanschikkai, ziemlich ruhig verhalten, so dass eine militärische
Besetzung dieses Platzes durch die Fremden schon aus rein poli-
tischen Gründen nicht in Betracht kam; dennoch war die hoch-
gehende Aufregung im inneren Schantung und in Tschili insoferne
nicht ohne empfindliche Folgen geblieben, als sich der handel-
treibenden und arbeitenden Chinesenbevölkerung Angst vor dem
Ausbruche schwerer Unruhen, vielleicht auch vor Repressalien der
Fremden bemächtigte, die gerade in diesem Augenblicke, wo die
HUfsmittel dieses Handelsplatzes so sehr beansprucht wurden, eine
wesentliche Behinderung in der glatten Abwickelung der Liefe-
rungen herbeiführte.
90
Militärpatrouillen durchstreiften zwar die Stadt und hielten
die Emissäre der Boxer, die zweifellos auch hier sich einzu-
schleichen gewusst hatten, von ihrer haranguirenden Thätigkeit
ab, doch waren die ansässigen Europäer durchaus nicht ganz
sicher, dass sich diese Beschützer nicht einmal in Angreifer ver-
wandeln würden, und hatten deshalb unter sich ein eigenes, vom
deutschen Consul Lenz geführtes Freiwilligen - Corps gegründet,
das zur Nachtzeit den Sicherheitsdienst versah.
Am 22. Juni abends traf »Zenta« zum erstenmale die Reihe nach
Tschifu abzugehen; bei der Ankunft daselbst herrschte unter der
Fremdencolonie einige Beunruhigung, da man nach umlaufenden
Gerüchten einen Angriff der Boxer und vielleicht auch übergelaufener
Soldaten befürchten zu müssen glaubte. Jedenfalls wäre die Fremden-
colonie, im Falle sich die Besatzungen der beiden im Südosten und
Westen in dominirender Lage befindlichen Forts auf die Seite der Auf-
rührer geschlagen hätten, verloren gewesen ; die tägliche Anwesenheit
von ein bis zwei fremden Kriegsschiffen wirkte zwar beruhigend,
doch hätten auch diese allein kaum die momentanen Folgen eines
verrätherischen Gewaltstreiches abwenden können. Während des
zweitägigen Aufenthaltes in Tschifu — »Zenta« musste bei dieser
Gelegenheit alle Vorräthe ergänzen — fiel nichts direct Be-
unruhigendes vor. Der provisorische Schiffs-Commandant trat mit
dem ansässigen österreichischen Unterthan Baron Max Babo in
Verbindung. Dieser stellte sich in wahrhaft patriotischer Weise zur
Besorgung alles Nöthigen, namentlich auch hinsichtlich der Ueber-
mittlung vertrauenswürdiger Nachrichten vollkommen zur Ver-
fügung und hat, wie vorgreifend hervorzuheben, nicht nur »Zenta«,
sondern allen nachfolgenden österreichisch-ungarischen Kriegs-
schiffen in jeder Beziehung aufopferungsvoll die dankenswerthesten
Dienste geleistet,*) woran den königlich englischen, mit der Ver-
tretung betrauten Consul wohl die Ueberlastung mit Agenden
seiner eigenen Nation verhinderte.
Am 24. Juni abends brachte »Humber« aus Peitaho eine An-
zahl flüchtiger Fremder, meist Angestellte der Kohlenwerke bei
Kaiping ; einer derselben, der Oesterreicher Peter Stampfel, wurde
auf sein Ersuchen sogleich auf «Zenta« aufgenommen. Die Flucht
nach Peitaho war, seiner Darstellung nach, mit knapper Noth am
18. Juni geglückt.
Auf Ersuchen des Consular-Corps liess Linienschiffs- Lieutenant
von Kottowitz bei der um 8 Uhr abends erfolgenden Abfahrt
*) Baron Max Babö wurde in Anerkennung seiner hervorragenden Leistungen »cit-
her zum österreichisch-ungarischen Honorar- Viceconsul ernannt.
am 24. Juni 15 Mann unter Seecadet Ernst Petri als Wache
zurück, die sich aber vor der Nothwendigkeit activen Eingreifens
am Lande verborgen halten sollte, um eine Beunruhigung der
Chinesen zu vermeiden; die befürchteten Ruhestörungen blieben
aus und die Wache konnte einige Tage später auf dem deutschen
Kreuzer »Gefion« nach Taku einrücken.
•Zenta« selbst hatte am 25. Juni in Taku die Nachrichten vom
Rückzuge der Colonne Seymour in das Arsenal von Hsiku vorgefunden
und von dem ersten Gerüchte Kenntniss erhalten, dass die
Fremden unter chinesischer Escorte Peking verlassen hätten; am
26. Juni langte bei der internationalen Flotte die bestimmte
Meldung ein, dass es der verstärkten Tientsiner Besatzung ge-
lungen sei, das Seymour'sche Expeditions-Corps in Hsiku zu be-
freien und letzteres, allerdings durch schwere Verluste geschwächt,
Tientsin wieder erreicht habe. Der kühne Versuch, den Ge-
sandtschaften in Peking Hilfe zu bringen, war somit endgiltig
gescheitert und blieb man noch mehrere Tage über die Schicksale
jener aut Vermuthungen und die widersprechendsten Gerüchte
beschränkt.
Während der letzten Tage war die Aufmerksamkeit der ver-
bündeten Flotte vollauf und ausschliesslich durch die Vorgänge
an der Peiho-Mündung und im nächsten Räume auf der Linie
gegen Peking gebunden gewesen und seit der Wegnahme der
Flusssperre war man sich bewusst, sich im vollen Kriegszustande
zu befinden ; nun warf sich aber die Frage, auf welches Gebiet sich
letzterer ausdehnen würde, unabweisbar auf. Den Befehlshabern war,
wie gesagt, keine Antwort des Vicekönigs von Tschili auf die
Forderung, die Taku-Forts zu übergeben, geschweige denn eine
Enunciation der Central-Regierung in Peking zugegangen, welche
den Eintritt des Kriegszustandes in aller Form angezeigt hätte;
auch verblieben die Gesandten Chinas an den Höfen, wo sie
accreditirt waren. Freilich kannte man einstweilen die an die
Vicekönige ergangenen Befehle der Gewalthaber in Peking nicht,
doch stand, wie die Beispiele aus den Kriegen mit China während
der letzten 40 Jahre lehrten, noch immer zu hoffen, dass der in
Tschili de facto eingetretene Kriegszustand sich auf diese Provinz
beschränken lassen werde, selbst wenn Peking die gewaltsame
Vertreibung der Fremden angeordnet haben würde.
Von dieser Absicht geleitet, hatte die Admirals-Conferenz
schon am 20. Juni den Antrag des englischen Contre-Admirals
James Bruce einstimmig angenommen, eine Proclamation an das
chinesische Volk zu erlassen, worin die Erklärung abgegeben
94
nächsten Interessen über die ofiFenkundigen Absichten seiner Re-
gierung stellt, zeigt wohl die Thatsache, dass schon 8 — 10 Tage
nach dem Bombardement von Taku dort ansässige kleine Handels-
leute auf die Rhede kamen, um Fische, Hühner, Eier und Gemüse
anzubieten. Durch Flaggen der fremden Nationen und Pässe ge-
schützt, betrieben sie einen für beide Theile vortheilhaften, immer
schwunghafteren Kleinhandel !
Nachdem es am 23. Juni geglückt war, Tientsin zu verstärken
und einige Tage später auch die zerstörte Eisenbahnbrücke durch
russische Truppen wieder hergestellt worden war, bestand trotz
der fortdauernden hartnäckigen, durch eine Concentration chinesi-
scher Truppen unter den Generalen Sung, Nieh und Mah sich sehr
ernst gestaltenden Kämpfe um den Besitz der Stadt, doch seit dem
26. Juni wieder eine halbwegs gesicherte Verbindung mit der See,
so dass »Zenta« bereits am 28. ihrem Detachement in Tientsin
Proviant und hauptsächlich Munition zuschieben konnte.
Damit war freilich der gesammte Vorrath nn Gewehrpatronen
an Bord erschöpft und musste, um für Nothfalle gedeckt zu sein,
die Gefälligkeit des russischen Vice - Admirals in Anspruch ge-
nommen werden, da es sich gezeigt hatte, dass glücklicherweise
die russischen Patronen in die Mannlicher-Gewehre pzussten.
Durch einen Brief von Linienschiffs-Lieutenant Indrak waren
an Bord der »Zenta« Details über den Verlauf der Seymour-Ex-
pedition bekannt geworden; von den mitgezogenen 25 Mann
war einer gefallen, einer nicht sehr schwer verwundet, einer
schwer erkrankt, Alles zusammengenommen noch ein unverhofft
glimpflicher Ausgang.
Am 28. Juni traf in Taku ein am 19. Juni in Peking von
Sir Robert Hart geschriebener und durch einen chinesischen
Emissär nach Tientsin beförderter Brief ein — seit nahezu drei
Wochen die erste Kunde von den bedrängten Fremden ! Sie ent-
hielt, dass die Gesandten am 19. vom Tsungli-Yamen unter der
Motivirung, die Wegnahme der Taku-Forts bilde einen casus belli,
aufgefordert worden waren, binnen 24 Stunden unter chinesischer
Escorte Peking zu verlavssen, sie aber dieser letzteren Zusicherung miss-
trauen ; ferners befinde sich die Fremdencolonie, durch chinesische
Truppen und Boxer vollständig eingeschlossen, in einer äusserst
bedrängten Lage und habe der grösste Theil in der englischen
Gesandtschaft Zuflucht gesucht.*)
*) Diese Nachricht mag wohl, durch die englische und die ihr afHlliirte Presse
einseitig wiedergegeben, den Anstoss zur Verbreitung der lange geglaubten Mythe ge-
geben haben, dass sich Alles auf die englische Gesandtschaft zurückgezogen habe.
Diesem Briefe narh wurde im Zusammenhalte damit, dass
über das Schicksal der Pekinger Fremden nichts weiter bekannt
geworden war, angenoromen, dass sie die Stadt nicht verlassen
hätten; zwei Tage später verlautete, dass es mit ihren Vorräthen
an Proviant schlecht stehe. Nach ferneren zwei Tagen, am 2. Juli
ergänzte ein neuerlicher Brief Sir Robert's vom 25. Juni das noch
immer unklare, aber recht düstere Bild von der Lage in der
Hauptstadt durch die Mittheilung von der Ermordung des deutschen
Gesandten. Baron Ketteier, am 20. Juni und von der Zerstörung
der österreichisch- ungarischen, belgischen, italienischen und hollän-
dischen Gesandlschaftsgebäude und der engen Cernirung der
übrigen. Selbstredend schloss auch dieses Schreiben mit einer
Aufforderung um schleunigste Hilfe.
Das waren traurige Tage an Bord der Schiffe — selbst das
Bewu&staein, das Aeusserste gethan zu haben, konnte nicht über
ilie Unmöglichkeil hinweghelfen. Anderes zu thun, als auf das Ein-
treffen von ausgiebiger Verstärkung zu warten — warten und
noch einmal warten, in einer Situation, wo sich in der nächsten
Stunde eine fürchterliche Katastrophe ereignen konnte I
Trotzdem zu dieser Zeit jeder, der nur irgendwie konnte,
Tient-sin verliess, trat doch am 30. Juni der bemerkenswerthe
Fall ein, dass einer unserer Landsleute, der auf einer Reise um
die Welt begriffene Graf Alexander Hoyos, den provisorischen
Commandanten der »Zenta* ersuchte, ihm behilflich zu sein, nach
Tieniain zu gelangen. Auf die damit verbundenen Fährlichkeiten auf-
merksam gemacht, erklärte Graf Hoyos doch, sie gerne auf sich
*ii nehmen, um selbst an die Stelle zu gelangen, wo auch seine
tind.ileute kämpften, und ging, von dem zur mündlichen Bericht-
srsiattung gesendeten Scecadetten Leschanowsky begleitet, mit
«nem Empfehlungsschreiben an den Detachements-Commandanten
in Tientsin ab. Dort blieb er bis zum ü. Juli, hatte somit vollauf
liBlegenheit, Zeuge der Kämpfe zu sein, während welcher er dem
«Herreichisch- ungarischen Detachement sich mehrfach nützlich zu
machen wusste. Diese Episode mit ihren vielseitigen Eindrücken
i"eranla.sfite den noch im ersten Mannesalter stehenden Reisenden,
sogleich nach seiner Rückkehr vom Kriegsschauplatze um seine
Einreihung in den diplomatischen Dienst in China zu bitten, den er
drei Monate später bei der Rückkehr des k. und k. Gesandten
BarOn Czikann als dessen Attache antrat.
Am I. Juli kam der Consulalsbeamte Vincenz Gottwald von
■fientMn an Bord; seine Schicksale waren sehr bewegte gewesen.
Vom Generalconsulate zu Shanghai als Aushilfe zur Gesandtschaft
96
nach Peking bestimmt, hatte er gehofift, mit der Seymour'schen
Expedition seinen neuen Dienstesposten noch zu erreichen und
sich deshalb dem kleinen österreichisch-ungarischen Detachement
unter Seecadet Prochaska angeschlossen. Auf dem Rückzuge ver-
lor er seine ganze bewegliche Habe und wartete nun eine weitere
Verfügung ab, bis er in der ersten Hälfte Juli von Consul Pisko
in sein früheres Amt berufen wurde.
Die auf »Zenta« Zurückgebliebenen erfuhren am 3. Juli, dass
S. M. S. »Kaiserin und Königin Maria Theresia« den Suezcanal
mit der Bestimmung nach China passirt habe — ein kleiner Licht-
schimmer in der dunklen Stimmung aufgezwungener Unthätigkeit.
Zwei Tage später kamen von Tientsin wieder schlechtere
Nachrichten; 10.000 Mann reguläre chinesische Truppen unter
General Mah waren von Norden gegen die Stadt gekommen, so
dass die Fremdenbesatzung sich gegen 20.000 Mann, die Boxer-
banden gar nicht gerechnet, halten musste und Vice-Admiral
Seymour neuerlich um Verstärkungen, namentlich an Artillerie bat.
Die Schiffe konnten solche aber nicht mehr entsenden, umso-
weniger als gleichzeitig Gerüchte von einer Concentration chine-
sischer Streitkräfte an der Küste bei Shanhaikuan auftauchten;
auch der russische Admiral erklärte, dass bedeutendere Nachschübe
weder aus Port Arthur, noch Wladiwostok mehr beigestellt werden
könnten; die wenigen entbehrlichen anglo-chinesischen Truppen
aus Weihaiwei befanden sich bereits in Tientsin und die Deutschen
vermochten aus bereits angedeuteten Gründen ebenfalls nicht,
Tsingtau seiner Garnison zu entblössen. Mit einem Worte, die Re-
serven der nächsten Umgebung waren erschöpft.
In dieser Zwangslage ersuchte die Conferenz der Befehls-
haber den japanischen Contre- Admiral Deva, bei seiner Regierung
die sofortige Absendung aller verfügbaren Truppen — eine
13.000 Mann starke Division wusste man in Hiroschima bereit — an-
zusprechen und zur Klarlegung des Sachverhaltes ein fliegendes
Geschwader zur Beobachtung der Küste zwischen Taku und
Shanhaikuan zu detachiren. Der japanische Admiral sagte bereit-
willigst zu und erklärte die betreffende Depesche in doppelter
Ausfertigung über Tschemulpo und Tschifu absenden zu wollen,
damit sie mit Sicherheit rasch ankomme. Die Gründe, warum die
japanische Regierung bisher nur relativ kleine Truppenmengen
entsendet hatte, sind jedenfalls auf dem Felde der Diplomatie zu
suchen, denn die Mobilisirung und der Transport einer Truppen-
division hätte ihr vom militärischen Standpunkte aus gar keine
Schwierigkeiten bereitet. Das fliegende Geschwader sollte aus je
iMtfUM*.-
98
einem SchifiFe der vertretenen Nationen bestehen, alle angetroffenen
chinesischen Schiffe aufbringen und etwaige fremde auf Kriegs-
contrebande untersuchen; von der anfanglich beabsichtigten Be-
schiessung Shanhaikuan's wurde in Erwägung, dass man den Erfolg
eines Bombardements mangels Landungstruppen nicht ausnützen
können würde, abgesehen.
Vorgreifend sei erwähnt, dass die unter dem Befehl des
deutschen Capitäns zur See Pohl aus je einem deutschen, eng-
lischen, franzosischen, japanischen und russischen Schiffe bestehende
Expedition am 7. Juli abging, jedoch gar nichts Beunruhigendes
vorfand und daher drei Tage später nach Taku zurückkehrte.
Für den 6. Juli wurden seitens Frankreich 1400, seitens
Russland 1800 Mann je mit einer Gebirgsbatterie erwartet.
Am 5. Juli rückte Maschinenmaat Hoffmann mit dem nun am
Lande nicht mehr benöthigten Scheinwerfer und dem Bedienungs-
mann ein; am selben Tage kamen viele Flüchtlinge aus Tientsin
auf die Rhede, um sich nach Japan einzuschiffen. Die Stadt hatte
durch das Bombardement der Chinesen derart gelitten, dass die
noch zurückgebliebenen Frauen und Kinder entfernt werden
mussten. Eine Dame mit ihren Kindern, Frau Detring, geborene
Oesterreicherin, fand an Bord der »Zenta« Aufnahme, bis sich nach
einigen Tagen eine PaSvSage nach Japan ergab; Herr Stampfel,
der von seiner langjährigen Thätigkeit als Bohrmeister in China
her äusserst interessante Aufschlüsse über die Grubenverhältnisse
zu geben gewusst hatte, verliess schon am 5. Juli Taku.
In der Conferenz am H. Juli legte der amerikanische Contre-
Admiral Kempff im Auftrage seiner Regierung den versammelten
Officieren eine bedeutungsvolle, den Umschwung in der Ansicht
der leitenden Staatsmänner charakterisirende Frage vor : wie viel
Truppen nach Ansicht der Admirale noch, nebst den bereits aus-
geschifften, nothwendig sein würden, um Peking einnehmen zu
können. Man einigte sich auf die Zahl von 60.000; nach einer
russischen Zusammenstellung befanden sich damals, die Schutz-
detachements in Peking eingerechnet, bereits 530 Officiere und
17.040 Mann mit 70 Geschützen und 32 Maschinengewehren am
Lande,*) die sammt den eben eingetroffenen kleinen Verstärkungen
— zusammen 20.000 Mann — für die Besetzung des Raumes
Taku — Tientsin als nothwendig erachtet wurden.
Am 9. Juli Morgens liefen bereits japanische Truppentrans-
porte ein, so dass dem neuerlichen Ansuchen des Vice-Admirals
*) In numerischer Reihenfolge: Russen 8300, Japaner 4000, Engländer 2600,
Franrosen 1200, Deutsche 1100, Amerikaner 300, Oesterreich-Ungam 123, Italiener 100.
i^Bl.
99
Seymour um Verstärkungen für Tientsin diesmal entsprochen
werden konnte.
Dort war inzwischen eine Verschiebung der Lage eingetreten,
welche zur Ergreifung entschiedener Offensive drängte, wollte
man sich nicht jeder Aussicht auf baldige Aufhebung der Belage-
rung seitens der Chinesen begeben.
Der Gouverneur von Russisch-Ostsibirien, Vice-Admiral
AlexeieflF, war mit dem letzten Transporte nach Taku gekommen,
begab sich am 8. Juli nach Tientsin und übernahm — wie es
heisst, nach einer vorausgegangenen heftigen Controverse — von
dem nach Taku zurückkehrenden englischen Vice-Admiral den
Oberbefehl.
Die nächsten Tage brachten anfanglich russischerseits demen-
tirte, bald jedoch durch Thatsachen bekräftigte Nachrichten, dass
auch in der Mandschurei ernste Unruhen ausgebrochen seien; in
Tientsin waren seit dem Abgange Sir Edwards einige Vorstösse
mit wechselndem Erfolge gemacht worden. Fortwährend trafen
neue Verstärkungen ein und am 13. lagen Mittheilungen der
Regierungen Englands, Frankreichs und Japans vor, wonach im
Ganzen 20.000 Mann unterwegs waren.
Die Befehlshaber der Flotte beschlossen ihrerseits, das circa
12 Seemeilen stromauf von Tongku am rechten Peiho-Ufer ge-
legene chinesische Fort Sitscheng besetzen zu lassen, dessen Be-
mannung sich zwar bisher ruhig verhalten hatte, das aber, wenn
sich das Gerücht vom Anrücken von 8000 Mann chinesischer
Truppen auf dem Kaisercanal bewahrheitete, einen zu guten
Stützpunkt für die neuerliche Bedrohung der Communication der
Alliirten abgegeben hätte. Die Besetzung erfolgte am 16. Juli
durch russische Truppen ohne Widerstand.
Der mit dem Commando über alle Taku-Forts und die im
Flusse liegenden Kanonenboote betraute russische Contre-Admiral
Wesselago hatte eine Operation gegen die östlich von Taku ge-
legenen Peitang-Forts beantragt, doch unterblieb eine solche, weil
man Tongku gut vertheidigt wissend im gegenwärtigen Augen-
blicke die Kräfte nicht durch Unternehmungen von secundärer
Bedeutung, wie gegen diese passiven Besatzungstruppen, verzetteln
wollte und durfte.
Am 14. Juli endlich, also vier Wochen nach der Einnahme
der Taku-Forts, meldeten die dort errichteten Feldtelegraphen,
dass die Chinesenstadt von Tientsin nach einem harten, vierund-
zwanzigstündigen Kampfe am selben Morgen von den Fremden
eingenommen und dadurch ganz Tientsin wieder in ihren Besitz
100
gefallen sei. Fast gleichzeitig mit dieser lang ersehnten Freuden-
botschaft langte jedoch eine vom 29. Juni datirte Nachricht aus
Peking ein, welche die dortige Situation als verzweifelt schilderte.
Diese und das seit einigen Tagen colportirte Gerücht von einem
Massacre der Fremden in der Hauptstadt rief neuerdings tief-
gehende Aufregung hervor.
Unter solchen Umständen begegnete die am 16. Juli via
Shanghai verbreitete Kunde eines vorgeblichen Augenzeugen,
dass die Fremden in Peking thatsächlich niedergemetzelt worden
seien, nicht mehr einer absolut ablehnenden Aufnahme ; ja, sie
schien glaubwürdig, da Scheng Taotai, einer der reichsten, mit
den Fremden in reger geschäftlicher Verbindung stehenden Chi-
nesen, persönlich den Consuln die betreffende Mittheilung über-
bracht hatte.
<, 24 Stunden später erfolgte aber durch Scheng selbst der
Widerruf; in solcher Art wechselten über die in Peking Ein-
geschlossenen die widersprechendsten Informationen, so dass
schliesslich in der zweiten Hälfte Juli die mehrfach durch
Yuanschikkai übermittelten Nachrichten vom Wohlbefinden der
Gesandten auch keinen festen Glauben mehr zu erwecken ver-
mochten. Besonders verdächtig machte solche Mittheilungen wohl der
nie fehlende Zusatz, dass die Regierung die Gesandten beschütze.
»Zenta« erhielt am 15. Juli eine Depesche des Marine-Com-
mandos, dass die Entsendung von österreichisch-ungarischen Land-
truppen nicht beabsichtigt sei.
Nachdem von nun an fast täglich Transporte eintrafen und
Truppen landeten, konnten die Kriegsschiffe der betreffenden
Nationen langsam ihre gelandeten Contingente reduciren, was
sich umso noth wendiger erwies, als die Ausschiffung und Ansland-
setzung der Truppen und die Nachschübe an Kriegsmaterial und
Proviant ohne das Eingreifen der Schiffsbemannungen nicht recht-
zeitig hätten bewerkstelligt werden können.
Das Tientsiner Detachement von »Zenta« blieb, da es an
Bord nicht absolut benöthigt wurde, am Lande und sollte am
Vormarsche gegen Peking theilnehmen; beim Angriffe auf die
City hatte es fünf Verwundete, darunter einen Schwerverwun-
deten*) gehabt, ausserdem war unter den Leuten von der Seymour-
Expedition Dysenterie stark aufgetreten. Für diese Abgänge
leistete das Schiff Ersatz und sandte, von dem durch Vice- Admiral
Togo übermittelten grossherzigen Anerbieten des japanischen
*) Sanitätsmatrose Toso, Schuss durch beide Arme und den Rumpf, die Leber
durchbohrend; erstaunlicherweise aufgekommen, doch invalid.
101
Rothen Kreuzes, beziehungsweise der Regierung Gebrauch
machend, den Schwerverwundeten und einige bedenklich Erkrankte
mit dem HospitalschifiFe »Hakuai Maru« nach Japan; dort fanden
sie theils durch Vermittlung des österreichisch-ungarischen Con-
sulates in Yokohama in dem deutschen, von dem hochverdienten
Ober-Stabsarzt Dr. Koch vortrefiFlich geleiteten Hospital, theils
durch Vermittlung des französischen Contre-Admirals Courrejolles
In Hiroschima, wo unter Leitung des Linienschiffs-Fähnrichs Martini
eine französische Reconvalescenten-Anstalt eingerichtet worden
war, die aufmerksamste Pflege.
Ein glücklicher Umstand war es, dass in den Tientsiner
Arsenalen nach der Einnahme grosse Quantitäten Mannlicher-
Gewehre*) und zugehörige Munition gefunden wurden, so dass das
Detachement Indrak sich nicht nur selbst reichlich mit Munition
versehen, sondern auch an das Schiff einige 20.000 Patronen ab-
geben konnte.
Die Befehlshaber der internationalen Flotte waren nunmehr
in die Lage versetzt, dem am 13. Juli von den Consuln in Shanghai
erneuerten Ansuchen um einige Schiffe stattzugeben und zur Be-
obachtung auch einige in den Yangtse zu entsenden, was nach
dem 20. Juli geschah. Consul Pisko, der seit der Cernirung Pekings
auch die diplomatischen Agenden Oesterreich-Ungarns in China
führte und mit dem der provisorische Schiffscommandant in regster
Verbindung stand, hatte ebenfalls eine Schutzwache für das General-
Consulat in Shanghai gewünscht, aber beim besten Willen konnte
letzterer keine Leute mehr abgeben.
Vice-Admiral Seymour begab sich am 23. Juli nach Wusung.
Zwar hatten sich gleichzeitig mit dem durch die rege Bauthätig-
keit der Chinesen an den Wusung-Forts motivirten Ansuchen der
Shanghaier Consuln um militärischen Schutz auch Gerüchte ver-
breitet, dass von Nanking 8000 Mann und aus Schantung 7000
Mann Yuanschikkai's auf dem Wege gegen Tschili seien, doch
stellte es sich bald heraus, dass diese vagen Informationen jeden
thatsächlichen Hintergrundes entbehrten.
Die Bahnverbindung mit Tientsin war seit 8. Juli bis auf
etwa zehn Kilometer südlich der Stadt selbst — bis zum sogenannten
Railway-head, seit 17. Juli aber bis in die Stadt selbst im Betrieb;
letzterer verblieb zufolge Majoritätsbeschlusses der Admirals-Con-
ferenz den Russen, die ja auch die Wiederherstellung besorgt hatten.
Am 23. Juli begann die Northern Cable Company im Auf-
trage der internationalen Befehlshaber die Legung eines Kabels
*) Zum Theile Steyrer, zum Theile Tientsiner, chinesisches Fabrikat.
102
von Tschifu nach Taku, die LinienschifiFs-Lieutenant von Kottowitz
schon im Juni in Anregung gebracht hatte ; das Kabel sollte im
Südfort ans Land geführt und die Legungskosten gemeinsam von
den alliirten Mächten getragen werden, am 8. August functionirte
es zum erstenmale.
Fast gleichzeitig mit dem Falle Tientsins war Lihungtschang
zum Vicekonig von Tschili ernannt worden; allgemein sah man
dies als ein Zeichen an, dass die massgebenden Kreise Chinas
anfingen, an dem erhofften Erfolg des ganzen gewaltsamen An-
schlages gegen die Fremden zu zweifeln und deshalb die Schlau-
heit des schon zweimal als Retter in der Noth bewährten Li
ins TreflFen schicken wollten. Am 16. Juli erfuhr man seine Abreise
von Canton gegen Norden; die Befehlshaber beschlossen eine
Woche später in vertraulicher Sitzung, ihn einstweilen keinesfalls
landen zu lassen. Dafür sprachen gewichtige Gründe. Offenbar
sollte Li den Unterhändler spielen ; an Negociationen war jedoch,
so lange die Gesandten in Peking nicht befreit waren, gar nicht
zu denken, ganz abgesehen von der Doppelträgerei des neu-
ernannten Vicekönigs, der, mit seinen Sympathien und Interessen
ganz auf Russlands Seite stehend, nicht versäumt hätte, die Einig-
keit der operirenden Mächte durch sein bekannt geschicktes
Ränkespiel zu erschüttern.
Um endlich über die Gesandten Positives zu erfahren, ent-
schieden sich die Befehlshaber auf Antrag des provisorischen
Commandanten der »Zenta«, den Gouverneur von Schantung auf-
zufordern, er möge zum Beweise seiner oft betheuerten Loyalität
gegen die Fremden die Zusendung von directen Nachrichten der
Gesandten an die commandirenden Officiere erwirken. Als Be-
dingung wurde gestellt, dass die Nachrichten die eigenhändige
Unterschrift der betreffenden Gesandten tragen müssten, gleich-
zeitig aber auch zugestanden, dass die fraglichen Mittheilungen in
einer den chinesischen Beamten verständlichen Sprache*) abgefasst
sein dürften.
Dieses Verlangen stellte allerdings die Geschicklichkeit
Yuanschikkai's auf eine harte, auf den ersten Blick fast wie un-
bestehbar aussehende Probe ; in China spinnen sich aber noch viel
zahlreichere unsichtbare Fäden zwischen einflussreichen Persönlich-
keiten als anderswo und ausserdem konnten die Admirale diesen
Schritt ganz gut unternehmen, ohne ihrer Würde etwas zu ver-
geben, da sie ihre Stellung, nicht als Feinde Chinas, sondern bloss
*) Unter den Beamten des Tsungli-Yamen gab es stets Interpreten für die
deutsche, englische, franrösische, italienische, japanische und russische Sprache.
108
als Beschützer ihrer bedrohten Connationalen zu handeln, in allen
bisherigen Noten an chinesische Functionäre und in der Procla-
mation an das chinesische Volk sehr geschickt definirt hatten.
Yuanschikkai bestand die Probe, die ihm nach seiner Aussage
durch die Feindseligkeiten der Boxer in Tschili gegen seine
Couriere noch schwerer gemacht wurde ; allerdings liefen die Be-
weise davon erst zu einer Zeit ein, wo schon sicherere Nachrichten
über die Gesandten zur Kenntniss der internationalen Flotte ge-
drungen waren.
Der Vormarsch von Tientsin auf Peking wurde mit allem
Eifer vorbereitet; die zahllosen Schwierigkeiten, Truppen und
Material mit den unzureichenden Mitteln einer einzigen, eben erst
wieder nothdürftig in Stand gesetzten Bahn und requirirten Fluss-
fahrzeugen vorzuschieben, verzögerten einerseits das Tempo in
den materiellen Vorbereitungen bis an die Grenze der Geduld,
andererseits konnten sich die Generale der verschiedenen Nationen,
durch die ganz unzuverlässigen, meist nur gerüchtartigen Nach-
richten über die Bewegungen und Absichten des Gegners irre-
geführt, erst nach einiger Zeit ein halbwegs klares Bild der Situa-
tion machen. Einestheils schienen ihnen die verfügbaren Truppen
und namentlich die Transportmittel der Zahl nach ungenügend,
andemtheils wünschten sie, dass man abwarte, bis die Zeit des
bisher glücklicherweise ohnedies sehr massig gefallenen Sommer-
regens verstrichen sei, kurzum, eine Anfrage der Admirals-Con-
ferenz w^urde damit beantwortet, dass man nicht vor dem 15. August
von Tientsin aufbrechen können werde.
Als daher am 2ö. Juli an Bord der »Zenta« eine vom 23.
datirte Depesche des Commandanten der »Maria Theresia« aus
Singapore mit dem Auftrage, Informationen nach Hongkong ent-
gegenzuschicken, eintraf, konnte nur der 15. August als voraus-
sichtlicher Termin für den Beginn des Vormarsches angegeben
werden. LinienschifiFs-Lieutenant von Kottowitz fügte seinem Tele-
gramm noch bei, dass »Maria Theresia«, um noch rechtzeitig ihr
Detachement ans Land zu setzen, längstens am 11. August vor
Taku eintreflFen und schon in Hongkong für eine entsprechende
Anzahl Tragthiere Vorsorge treffen müsste, deren Beschaffung in
Tschili gar nicht mehr thunlich und in Tschifu nur sehr proble-
matisch war. Ueber die Situation in Peking war in Taku augen-
blicklich ausser ganz und gar rückhaltslosen, mitunter recht phanta-
sievollen Gerüchten — z. B. der Kaiser sei durch Gift gestorben,
die Kaiserin- Witwe durch Gift irrsinnig geworden und Prinz
Tuan habe sich zum Kaiser ausrufen lassen — nichts Anderes
104
bekannt, als dass man jeden Tag des Schlimmsten gewärtig* sein
müsse.
Am 27. Juli erhielt »Zenta« die telegraphische Verständigung,
dass Contre-Admiral Rudolf Graf Montecuccoli-Polinago mit den
Kreuzern »Kaiserin Elisabeth« und »Aspern« nach Ostasien abge-
gangen sei.
Vom Tientsiner Detachement sollten, vorausgesetzt, dass es
gelinge, die nothwendigen Tragthiere zu beschaffen, 60 Mann am
Vormarsche theilnehmen und sich einer deutschen Matrosencolonne
von 200 Mann unter Capitän zur See Pohl anschliessen, falls
»Maria Theresia« nicht früher einträfe und der Commandant
letzteren Schiffes, Linienschififs-Capitän Victor Ritter Bless von
Sambuchi, keine anderen Befehle zu ertheilen fände.
Am 30. Juli endlich wurden auf der Rhede authentische
Nachrichten aus Peking vom 21. Juli, und zwar von einem japani-
schen Officier, dem deutschen Geschäftsträger und dem englischen
Gesandten herrührend, bekannt; diese brachten sehr wichtige
Details über die noch behauptete Position in der Stadt, dass die
Munition zur Neige gehe und der Proviant nur mehr für 14 Tage
reichen werde,*) ferners, dass seit 17. Juli eine Art Waffenstill-
stand herrsche, chinesischerseits vom Prinzen Tsching »imd An-
deren« gefertigte Briefe an die Gesandten eingelaufen seien, worin
die Minister aufgefordert wurden, zuerst ihre Legationen zu ver-
lassen und sich ins Tsungli-Yamen zu begeben, dann aber aus Peking
unter chinesischer Escorte abzuziehen, was aber abgelehnt worden.
Dem Briefe des Japaners entnahm man die Anzahl der Todten
und Verwundeten auf Seite der Fremden, 62 und 112, die Stärke
der cemirenden chinesischen Truppen 3000 — 4000 Mann nächst den
Legationen, die Besatzung der Thore mit circa 2000 Mann und
dass in Nanhaitse circa 10.000, bei Tschang-tscha-wan 3500 bia
4000 Mann Chinesen stünden, endlich, dass der Kaiser und die
Kaiserin- Witwe sich in Peking befanden. Der englische Minister
schloss seinen Brief mit der Aufforderung, den Entsatz derart zu
beschleunigen, dass die zurückweichenden chinesischen Truppen
verhindert würden, sich auf die Legationen zu stürzen.
So wenig beruhigeiid diese Informationen namentlich hin-
sichtlich Munition und Proviant lauteten, so boten sie doch vor
Allem die (lewissheit, dass die Fremden in Peking allen sie todt-
sagenden Gerüchten /um Trotz sich noch hielten, denn es war
nicht anzunehmen, liass die l^hinesen in der Zwischenzeit seit Ab-
•) IVr jai^uischc i>lVuicr j;iU> an, nur mehr 3?»*» l\itrv>nen y>ei Gewehr tii haben
und dass Proviant bloss für >cch> lap? erul^i^jt?»
105
gang des Briefes, d. i. in neun Tagen das erreicht haben sollten,
was ihnen vor der Aufnahme von Verhandlungen, binnen vier
Wochen, nicht gelungen war. Jedenfalls war aber, wenn man auch
im Stillen hoffte, es stehe um Lebensmittel und Munition doch
besser als angegeben, die höchste Eile geboten.
Am 1. August wurde an Bord der »Zenta« der Auszug aus
einem Briefe des in Peking eingeschlossenen Times -Corre-
spondenten Dr. Morrison an den Zolldirector in Tientsin zuge-
stellt; dieser besagte ohne nähere Angaben, dass das österreichisch-
ungarische Detachement in Peking vier Todte, darunter den
Fregatten-Capitän von Thomann, habe. Die Kunde war zu traurig,
um ohne anderweitige Bestätigung geglaubt zu werden; eine Um-
frage bei den anderen Nationen ergab ein negatives Resultat, weil
keine derselben Einzelnheiten über die Verluste des »Zenta«-
Detachements besass — man musste sich, so schwer es auch fiel,
mit dem Gedanken vertraut machen, dass der verehrte Commandant
nie wieder an Bord zurückkehren werde!
Am darauffolgenden Tage lag die vollinhaltliche Verlustliste
<ier Fremden in Peking, wie sie Dr. Morrison mitgetheilt hatte, vor ;
ein Irrthum war leider nicht mehr anzunehmen.
Am 4. August kündigte ein von »Maria Theresia« in Hongkong
drei Tage vorher aufgegebenes Telegramm die Ankunft letzteren
Schiffes für den 6. August abends und die vom englischen Com-
modore Powell zugesagte Absendung von 30 von »Maria Theresia«
angekauften Maulthieren mit einem englischen Transportdampfer
^n;nach einer Mittheilung des Baron Babö, welcher über ergangenes
Ersuchen in Tschifu nach Tragthieren Umschau gehalten hatte, waren
^on für den 8. August 12 Stück verschiflFungsbereit — sonach war
Alles wohl vorbereitet, um das von »Maria Theresia« auszuschiffende
und das Tientsiner Detachement von »Zenta« an dem für den
15. August angesetzten Vormarsch theilnehmen zu lassen.
Inzwischen hatten sich die Generale über Andrängen des Com-
mandirenden der japanischen Expeditions- Armee, General-Lieutenant
Yamagutschi, aber entschlossen, die Chinesen aus ihrer Stellung
bei Peitsang zu vertreiben und waren, von dem Beispiel der Japaner
mitgerissen, mit ihren Truppen zur Verfolgung der zurück-
weichenden Chinesen und damit zum Entsätze Pekings aufgebrochen.
Dadurch kamen die österreichisch-ungarischen Marine-Mann-
schaften um die so heisserhoffte Gelegenheit, beim Angriffe auf
die chinesische Hauptstadt mitzukämpfen !
Am 7. August morgens lief »Kaiserin und Königin Maria
Theresia« auf der Taku-Rhede ein, von der Bemannung »Zentas«
106
mit stürmischen Hurrahs begrüsst, die durch mehr als zwei
Monate allein die Flagge unter den schwierigsten Umständen mit
Ehren vertreten hatte.
»Maria Theresia« hatte am 23. Juni morgens Pola verlassen
und mit ganzer Kraft dampfend die reichlich 9000 Seemeilen
messende Strecke nach der Peiho-Mündung inclusive der unum-
gänglich nothwendigen Aufenthalte zur Ergänzung der Kohle und
Instandsetzung der Kessel und Maschinen in Port Said, Aden,
Singapore und Hongkong in 44 '/^ Tagen zurückgelegt. Aerger als
die Beschwerden, welche die Passage des Rothen Meeres und die
Durchquerung des Indischen Oceans zu dieser Jahreszeit mit sich
brachten, wo der den schwersten Seegang erzeugende Südwest-
Monsun in seiner vollen Stärke weht und denen auch ein Heizer
erlag, war der anfangliche Mangel zuverlässiger Nachrichten über
die Schicksale der in Tientsin und Peking bedrängten Kameraden
und späterhin die Sorge empfunden worden, ob es trotz aller Eile
noch gelingen werde, zur Theilnahme am Entsätze Pekings zurecht
zu kommen.
In Taku eingetroffen, übernahm Linienschiffs-Capitän Victor
Ritter Bless von Sambuchi den Befehl über beide .Schiffe und
die fernere Vertretung Oesterreich- Ungarns im internationalen
Admiralsrathe.
III. Capitel.
Ihii öslerrcichisch-UDgaTiEchc Delachemetil ia TienlsJn. — Belhciligung an der Scymour-
EippditiiiQ. — Kämpfe in und um Tientsin. — Erslürmuog der Cily. — Provisorische
Rfgierung in TiintMn. — Vorbereitungen zum Vormarsch auf Peking. — Gefecht
Das aus dem Linienschiffs -Lieutenant Johann Indrak als
Commandanten, den Seecadetten Edgar Leschanowslcy, Erich
Prochaska und 73 Mann bestehende, ursprünplich zur Verstärkung
der PekinjTpr Le^^ationswache bi'stimmtf lletacht-ment traf nach
einer durch schweren Seegang stark verzögerten Ueberfahrt auf
"Ittn Schleppdampfer -Peiho" am 7. Juni gegen 9 Uhr vormittags
'"Tongku und kurz nach Mittag mit der Eisenbahn in Tientsin an.
Nirgends war Auffälliges bemerkt worden, erst auf dem
ßalmhofe in Tientsin, in dessen Nähe Truppen des Generals Nieh
108
ein ausgedehntes Zeltlager bezogen hatten, erregte ein schier
endloser Zug Kulis einige Aufmerksamkeit, die, aus der City
kommend, ganz neue Repetirgewehre in die Chinesenstadt am
linken Ufer schleppten. In der Station selbst harrten 75 Mann
englische Marine-Infanterie des Abganges eines Zuges, mit dem sie
gegen Peking befordert werden sollten — vergebliches Warten,
denn der Vicekönig Yü-Lü Hess in letzter Stunde sagen, der Zug
dürfe nicht abgehen. Das Detachement Indrak erhielt in dem der
Firma Mackenzie & Co. gehörigen Hause im englischen Settle-
ment Quartiere zugewiesen, die der liebenswürdige Tientsiner Chef
des Hauses, Herr Osborne, nach besten Kräften wohnlich ein-
zurichten bestrebt war.
LinienschifFs-Lieutenant Indrak meldete sich seinen Instruc-
tionen gemäss allsogleich beim ältesten englischen Officier und
stattete dem englischen Consul Carels einen Besuch ab. Ersterer
machte ihn mit den bisher getroffenen Alarm- und Vertheidigungs-
Dispositionen bekannt, wonach dem Detachement der »Zenta«, da
an einen Abgang nach Peking vorderhand nicht zu denken sei,
die Ueberwachung eines Theiles des englischen Settlements bis
an den Erdwall und auf letzterem die Besetzung eines nahezu einen
Kilometer langen Stückes westlich vom Race-course-Thore zufiel.
Noch war in der Stadt selbst Alles ruhig, wenngleich die
Boxer sich schon in der nächsten Umgebung recht ungenirt be-
merkbar machten. Am 9. Juni um 9Vs Uhr abends rief der
Doyen des Consular-Corps, der französische Generalconsul Comte du
Chaylard, alle seine CoUegen und sämmtliche Detachements-
Commandanten zu einer dringenden Besprechung zusammen. Der
britische Consul las der Versammlung eine eben eingelangte
Depesche seiner Gesandtschaft in Peking vor, in welcher diese mit-
theilte, dass die Situation der Fremden eine sehr kritische und
schleunige militärische Hilfe unumgänglich noth wendig sei; Mr.
Carels schloss seine Mittheilung mit dem Vorschlag, am nächsten
Morgen so früh als möglich Truppen mit der Bahn nach Peking
zu entsenden, und stützte sich hiebei auf die allerneuesten Infor-
mationen über den Zustand der Bahn.
Eine Recognoscirung mittelst Locomotive bis Yangtsun hatte
nämlich ergeben, dass der Bahnkörper und insbesondere das
wichtigste Object, die grosse Brücke bei der genannten Stadt nur
in geringem Masse beschädigt und noch vollkommen befahrbar
sei; die Recognoscirenden, Mr. Campbell und Lieutenant Wright,
hatten in Yangtsun mit General Nieh gesprochen und den Eindruck
gewonnen, dass dieser sich gefreut habe. Fremde zu sehen«
109
Resultat bestärkte Mr. Carels in der HoflFnung, dass auf der rest-
lichen Strecke — allerdings zwei Drittel der ganzen Linie Tientsin —
Polcing — auch nicht ärgere Schäden zu beheben sein würden.
Letzteres bezweifelte allerdings der Einberufer der Versamm-
lung und Oberst Wogack wie der deutsche Consul Zimmermann
stiiiimten ihm bei; auch wurde der Ansicht Ausdruck gegeben,
dass Sir Claude Macdonald die Lage der Gesandtschaften in Peking
vielleicht doch zu schwarz geschildert habe, denn sonst hätte ja
doch zumindest noch einer seiner Collegen eine ähnliche Mittheilung
ab>^esendet.
Nach einiger Discussion wurde beschlossen, dass Amerikaner,
Engländer, Italiener, Japaner und Oesterreicher-Ungarn doch am
kommenden Morgen Verstärkungen für die Legationswachen nach
Peking senden sollten, und Comte du Chaylard erwirkte noch in
derselben Nacht auf telephonischem Wege beim Vicekönig Yü-Lü
dio Beistellung eines Zuges für 5 Uhr früh des 10. Juni.
Yü-Lü mag sich dabei wohl ins Fäustchen gelacht haben,
denn er wusste gewiss Zutreffenderes über den Zustand der Bahn
uixci vorderhand passte es noch vollkommen in sein Spiel, sich den
Fromden anscheinend zuvorkommend zeigen zu können.
Die Commandanten der Detachements der aufgezählten
Nationen beriethen hierauf noch das Nähere über die Stärke der
in Marsch zu setzenden Abtheilungen ; da es ausgeschlossen war,
sich noch rechtzeitig mit den Befehlshabern vor Taku über diesen
Punkt verständigen zu können, so sollten, um in Tientsin selbst
eine genügende Garnison zurückzulassen, nur kleinere Theile der
an Ort und Stelle verfügbaren Truppen nach Peking abgehen,
vom österreichisch-ungarischen Detachement 25 Mann unter See-
cadet Erich Prochaska. Dieser Abtheilung schloss sich der eben
aus Shanghai angekommene Consulatssecretär, Herr Vincenz Gott-
wald, an, welcher hoffte, auf diese Weise auf seinen neuen
Dienstesposten bei der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft zu
gelangen.
Zur vereinbarten Stunde standen am 10. Juni die für Peking
bestimmten Detachements am Bahnhofe bereit. Dort war inzwischen
ein Zug mit englischen Truppen aus Tongku angekommen, in den
^e Leute der »Zenta« einwaggonirt wurden ; ein weiterer Zug war
in Tientsin selbst zusammengestellt worden.
Mittlerweile war Vice- Admiral Seymour selbst auch von Tongku
eingetroffen und hatte dem Consular-Corps und den Officieren er-
klart, selbst die Führung der Colonne zu übernehmen. Gegen
9*/t Uhr morgens ging der erste, von Amerikanern, Engländern,
110
Italienern und dem Detachement Prochaska besetzte Zug, bald
darauf der zweite mit Engländern, Franzosen und Japanern ab;
die telegraphische Mittheilung davon nach Peking war die letzte
auf dieser Linie beforderte.
Die Verspätung im Abgange war dadurch verursacht worden,
dass Bahnarbeiter, fast durchwegs Südchinesen, Werkzeuge und
Material, namentlich Schw^ellen und Schienen, erst hatten ge-
sammelt werden müssen.
Der als erster abgegangene Zug setzte sich in folgender
Weise zusammen: Vor der Locomotive war ein Lowry mit einem
englischen Feldgeschütz und zwei Maschinengewehren angekuppelt,
auf der Locomotive standen neben dem chinesischen Bedienungs-
personal Posten, hinter ihr folgten zehn offene Wagen mit Arbeitern,
Kohle und Baumaterial, dann endlich eine Anzahl von Wagen
aller Art für die Truppen selbst, von denen einige Leute auch
auf die Materialwagen vertheilt waren.
Die AusrüvStung der Truppen war sehr ungleichmässig, wie
sie eben in der Eile hatte mitgegeben werden können ; an Munition
führten sie angeblich zwischen 80 — 300*) Patronen per Gewehr mit
sich, die Proviantvorräthe waren ursprünglich nur für eine ganz
kurze Fahrt — zwei Tage — bemessen worden, konnten jedoch
glücklicherweise noch in den zwei folgenden Tagen durch Nach-
schub aus Tientsin für sieben Tage erhöht werden. Das kleine
Detachement »Zenta's« hatte zwar aus seinem Cantonnement auch
nicht mehr Lebensmittel als für zwei Tage mitgenommen, doch
war ein Nachschub von 21 Kisten mit dem Zug aus Tongku mit-
gekommen, so dass es durch eine spätere, auf drei Tage berechnete
Sendung im Stande war, in der Folge gerade in einer kritischen
Lage Abtheilungen anderer Nationen, die schon auf halbe
Rationen beschränkt waren, auszuhelfen.
Am Nachmittage des 10. Juni sollte ein deutsches Landungs-
Corps, 400 Mann unter Capitän zur See von Usedom, verstärkt
durch einen Theil der Garnison von Tientsin, folgen; der Vice-
könig machte wegen des erforderlichen Zuges Schwierigkeiten,
so dass der Abgang erst erfolgte, nachdem Gewalt angedroht
worden und sicherheitshalber Maschinen - Unterofficiere die Be-
dienung der Locomotiven übernommen hatten.
Ein vierter Zug mit Franzosen unter Linienschiffs- Capitän de
MaroUes und Russen kam noch später tagsdarauf nach und er-
reichte die früheren erst bei Lofa. Die ganze seither unter dem
*) Engländer und Italiener sollen am wenigsten Munition gehabt haben, bei den
Engländern auch die Dotation der einzelnen Abtheilungen verschieden
JJamenSeymour-Expedition bekannte Colonne bestand schlie^ich,
dieOfBctere eingerechnet, aus 2067*) Mann, die sich wie folgt auf
die eintelnen Nationen vertheilten: Amerikaner 112, Deutsche 450,
Ei^länder 915, Franzosen 150, Italiener 40, Japaner 54, Oesterreicher-
ÜDgam 26 und Russen 312 Mann. Feldgeschütze führten die
Amerikaner eines, die Engländer zwei, die Franzosen eines und
die Russen zwei mit, ausserdem standen noch mehrere Maschinen-
gewehre zur Verfügung. Ausser den aufgezählten Combattanten
befanden sich noch einige Europäer aus Tientsin als Dolmetscher
und bahntechnische Berather in der Expedition, endlich auch
emige verlässliche Chinesen als Diener und Boten.
Wie schon an früherer Stelle ausgeführt, hatte Vice-Admiral
Seymour den Oberbefehl übernommen, zur Fassung wichtiger Ent-
schlösse berief er jedoch stets die commandirenden Officiere aller
Nationen; in jedem der vier Züge fungirte der älteste Officier als
Commandant, dem zur Verständigung mit dem Leiter der Expe-
'litinn englische Signalmannschaft beigegeben wurde.
Der Anfang der Fahrt schien die sanguinischen Hoffnungen,
rait denen der Zug zur Befreiung der bedrohten Gesandtschaften
unternommen worden, zu rechtfertigen; bis Yangtsun verlief sie
glatt. In dessen Nähe sah man die Truppen Nieh's noch immer
lagern, dann erst zeigten sich die Spuren von Versuchen der
Boxer, den Schienenweg unbrauchbar zu machen. Immer häufiger
fand man halbverkohlte Schwellen, deren freigelegte Enden mit
■Stroh umwickelt und angezündet worden waren; bald aber traf
tnan auf Stellen, wo einzelne Schienen weggerissen und wegge-
whleppt waren — an den Spuren erkannte man, dass die Boxer
mit den primitivsten Mitteln ans Zerstörungswerk gegangen waren,
die Schraubenköpfe an den Verbindungsstellen hatten sie mit
Steinen weggeschlagen. Von den zur Bahn gehörigen Telegraphen-
leitungen war bald hinter Yangtsun nichts mehr zu sehen, die
Stations- und Wächterhäuschen lagen in Trümmern und Asche;
widlich circa 5 Kilometer von Lofa musste gehalten werden, da
eine kleine Brücke abgebrochen war.
An dieser Stelle musste wirklich ein Zusammenstoss von
chüiesischen Truppen mit Boxern stattgefunden haben, denn man
&md unter der Brücke neben vier Leichen ausgeschossene Patronen
kleincalibriger Gewehre. Dort blieben die beiden ersten und auch
dtT dritte um 7 Uhr abends eingetroffene Zug mit den Deutschen
*) Diese ZaLIei
ndtrts Quellen vuÜi
ik latlüchc Angabc.
iind den oriiuiellcn Dcpcwben
di« Totftblärkc der Coloniie n
Sir Edwards enlnommca ; n-ich
ir unbedeutcDtl (RO M^innl gvgcD
über Nacht. Vorgesendete Recognoscirung-spatrouillen fanden dti
nächstliegenden Dörfer fast ganz verlassen, in einigen als traurigi
Spuren verübter Gewaltthaten niedergebrannte Häuser und ver
stümnielte Leichen von Chinesen jeden Alters und Geschlechts
am Bahnkörper selbst konnten zwar zahlreiche Beschädigungen
jedoch nicht sehr bedenklicher Natur constatirt werden.
Die Nacht verlief ruhig: um 10 Uhr abends war zwar bei deir
italienischen Posten ein Schuss gefallen, doch ergab die darau)
unternommene Streifung des österreichisch -ungarischen Detach&i
ments und einer englischen Abtheilung ein negatives Resultat.
Am 11. Juni morgens konnte die Fahrt fortgesetzt werdeS
und fand man den Wasserthurm in Lofa glücklicherweise noch i
weit erhalten, um die Locomotiven zu speisen.
Der eine Fahrtag hatte aber schon hingereicht, um erkennen
zu lassen, dass man nur dann hoffen konnte, die Bahn reparireni
das Ziel zu erreichen, wenn die Herbei Schaffung von Material un<!
Proviant von dem im Rücken liegenden Tientsin fortdauernd ge
sichert war; aus diesem Grunde wurde in Lofa eine kleine ile
Satzung von 60 Engländern zurückgelassen.
Den ganzen Tag des 11. Juni brauchte man. um die kurze
Strecke bis nach Langfang continuirlich nachbessernd zurück'
zulegen; die Truppen selbst wurden während der längeren i
freiwilligen Haltepausen zur Arbeit und zur Recognoscirung \er<
wendet, so dass sie bald nicht mehr über Unthatigkeit klaget
konnten, wohl aber einen Vorgeschmach
^^^^^k von den Beschwerden erhielten, die
^^^^^^^^ ihnen bevorstanden, wenn man g»
^^^^H^l zwungen würde, den Fussmarsch durcli
^^^^^^H das sandige Land unter der gtühendeq
^^^^^^V Sonnenhitze aufzunehmen.
.^^EK^ Um 6 Uhr abends, etwa drei eng!
^^^^^^^^^^^^ tische Meilen (4'8 Kilometer) von Lang-
^^^^^^^^^^^^^K^^^ fang, erfolgte der erste Zusammenstoß
^^^^^^^^^^^^^^^^^B Boxern — beide Theile i
^^^^^^^^^^^^^^^^^W Episode spannender Neuheit.
^^^^^^^^^^^^^^^ Man hatte die Bande schon auf eini
^^^^^^^^^^ gute Distanz vor dem erstt^n Zuge e
SHcad» Erich iTocbssiii deckt, als sic scheiubar noch mit den
Zerstörungswerk beschäftigt i
kleine vorausgeschickte Arbeitspartie musste sich vor ihr zurück
ziehen, doch rückte gleich die Besatzung des ersten Zuges, üi
runter auch die Leute der ■Zcnta«. aus und vertrieb die POn^
anstürmenden, nur mit Speeren und sctnvertartigen Messern be-
waffneten Boxer mit einigen Salven. Ihrer 20, nach englischen
Berichten 35, bezahlten den Glauben an ihre Unverwundbarkeit
mit dem Leben oder mit schweren Wunden, der Rest lief, was er
nur konnte. Das Bild dieser an ihren rothen Turbanen, Schärpen
und Fähnchen weithin kenntlichen Leute, wie sie mit gänzlicher
Todesverachtung gegen die feuernden Truppen vorgingen, um
an ihnen die Schärfe ihrer plumpen Waffen zu versuchen, soll
den Eindruck des Kindisch-Unverständigen gemacht haben —
immerhin zeigte aber der Vorfall, wie fanatisch jeder Einzelne
von seiner ihm vorgespiegelten heiligen Aufgabe und der Ueber-
leugung der Unverwundbarkeit erfüllt war. Unter den noch lebend
gefundenen, später nach Tientsin zurückgeschickten Boxern zählte
der Aelteste nicht mehr als 19, zwei andere höchstens ir> Jahre,
jedenfalls ein Beweis, dass die Jugend Chinas der Begeisterung
flhijf ist!
An der Stelle, wo dieses kleine Scharmützel sich abgespielt,
waren Schienen und Schwellen auf eine Länge von etwa 500 Metern
«egperissen worden, so dass die ganze Nacht verging, übrigens
weiter ungestört, bis die Strecke fahrbar gemacht war.
Am V2. Juni mittags erreichten die vier Züge die gänzlich
verwüstete Station Langfang: nicht nur die Stationsgebäude,
«ondem. was weit schlimmer, auch der Wa,sserthurm wurden voll-
«ändig zerstört gefunden und die weitere Strecke gegen die nächste
Station Anting befand sich in einem derartigen Zustande, dass
tnan auf den ersten Blick die Noth wendigkeit tagelanger Arbeit
«rkannte. Die Bahn musste eben fast ganz neu gebaut werden,
denn die Schienen waren verschwunden, wahrscheinlich weg-
ffwchleppt worden, um als Material zur Anfertigung von Waffen
iU dienen. Zudem sprachen mancherlei Anzeichen dafür, dass das
ierstörungswerk zum Theil allerjüngsten Datums und die Horde
der Verwüster somit gar nicht weit den Zügen voraus am Werke
»ein müsse. Man musste sich daher in Langfang auf einen längeren
Aufenthalt einrichten, wobei das Vorhandensein eines ergiebigen
Brunnens sehr zu Statten kam. Die Aufspeisung der Locomotiven
(lesialtete sich aber sehr mühsam und zeitraubend, da das Wasser
"lit Eimern zugetragen werden musste. .\ls eigentliche Stations-
•»salzung wurde eine deutsche Abtheilung vom Kreuüer »Gefion"
bestlnunt. die den von ihr zur Vertheidigung eingerichteten
Ruinen den stolzen Namen »Fort Gefion* beilegte.
Von hier aus ging ein chinesischer Bote mit kurzen Nach-
rtchten von jeder Nation an ihren Minister in Peking ab. dem es.
«ismk^ldnt Kampfr In China. 8
114
den nur 45 Kilometer langen Weg quer durchs Gelände benützend,
glückte, am 13. Juni nachmittags die Stadt zu erreichen.
Vice-Admiral Seymour entsendete noch am Abend des 12.
eine 46 Mann starke Abtheilung englischer Matrosen gegen An-
ting, um womöglich das dortige Stationsgebäude zu besetzen, und
Patrouillen aller Nationen durchstreiften die Gegend beiderseits
der Bahnlinie.
Das vorgeschobene englische Detachement erreichte Anting
nicht mehr, sondern musste sich nach Besetzung eines an der
vStrecke liegenden Dorfes gegen mehrmalige Angriffe von Boxern
vertheidigen, bis es beinahe total verschossen am 13. nachmittags
wegen Munitionsmangel wieder in Langfang einrückte.
Ebenso erfolglos endete die Aussendung eines zweiten,
stärkeren Detachements, das nach einem Zusammenstosse mit
Boxern, der letzteren wohl erhebliche Verluste kostete, noch am
13. abends sich auf die Züge zurückziehen musste.
Die nächste Umgebung von. Langfang selbst wurde ganz
verlassen gefunden und suchten nunmehr die Truppen, die mit
ihren Lebensmitteln sehr haushalten mussten, durch Fouragirung
etwas aufzubringen, während an der Reparatur der Strecke ge-
arbeitet wurde.
Durch die Oede der Ortschaften zu vertrauensselig gemacht,
dehnten die kleinen Fourage-Commandos ihre Streifungen weiter
aus; eine aus sechs Mann bestehende italienische Partie war am
14. Juni morgens in ein circa vier Kilometer entferntes Dorf ge-
zogen, stiess dort ganz unerwartet auf einige hundert Boxer und
wurde auf dem Rückzuge zu den Waggons fast aufgerieben ; nur
ein einziger konnte sich retten. Durch diesen Erfolg ermuthigt,
griffen die Boxer die Züge an ; von einem Weiler gedeckt, wurden
sie erst im letzten Augenblicke von den Zügen aus entdeckt und
durch Schnellfeuer der Oester reicher- Ungarn und Engländer mit
einem Verlust von 100 Todten wieder verjagt. Diese Vergeltung
konnte allerdings als keine voUwerthige gegenüber dem traurigen
Schicksal der fünf Italiener angesehen werden, deren halbzerstückte
Leichen sogleich geborgen und tagsdarauf bestattet wurden.
Noch am Nachmittage des 14. Juni wurden vor und hinter
Langfang starke Boxerbanden gemeldet. Ein Theil des ersten
Zuges fuhr vor und zersprengte durch einige Schüsse aus einem
Feldgeschütz und aus den Maschinengewehren den Gegner. In
Lofa, wohin sich Vice-Admiral Seymour selbst auf die um 5*/i Uhr
durch eine Draisine überbrachte Meldung vom Heranmarsche
grösserer Boxermassen mit dem zweiten Zuge begab, war der
115
HauptangriflF schon vorüber und beschleunigte das Feuer des ein-
laufenden Trains nur mehr die Flucht der ursprünglich auf 2000
Mann geschätzten Angreifer; die Besatzung von Lofa hatte einen
Schwer- und einen Leichtverwundeten, dagegen waren an hundert
Boxer getödtet worden.
Am 15. Juni blieben die Züge noch immer in Langfang und
wurde die Ausbesserung der Strecke gegen Anting fortgesetzt;
ein über Lofa nach rückwärts entsendeter Zug brachte gegen
Abend die wenig erfreuliche Nachricht, dass im Rücken der Ex-
pedition die Bahnstrecke neuerdings zerstört worden; gleichzeitig
kam auch eine Meldung, dass von Lofa aus drei grössere Haufen
Boxer gesehen worden waren, die sich gegen Yangtsun an-
scheinend auch mit der Absicht bewegten, sich an der Wieder-
zerstörung zu betheiligen.
Aus Peking kam ein Läufer mit Briefen, die nicht nur die
dortige Situation als sehr gefährlich bezeichneten, sondern auch
die Anwesenheit zahlenmässig zwar nicht bekannter chinesischer
Truppen im Räume zwischen der Stadt und Langfang anzeigten.
Die Lage wurde sohin für die Expedition selbst kritisch.
Am 16. Juni um 4 Uhr früh ging ein Zug mit dem Auftrage
ab, den Durchbruch nach Tientsin zu versuchen, kehrte jedoch um
3 Uhr nachmittags zurück, da die Zerstörungen hinter Lofa so
arg befunden worden waren, dass sie mit den Mitteln, über die
dieser Zug verfügte, nicht gutgemacht werden konnten.
Vice-Admiral Seymour, der inzw^ischen schon mehrere ver-
gebliche Versuche, sich mit Tientsin durch chinesische Couriere
in Verbindung zu setzen, gemacht hatte, brach nach Erhalt der
Nachricht mit dem einen Zuge, in dem sich das österreichisch-
ungarische Detachement befand, gegen Yangtsun auf, um sich
durch Augenschein zu informiren. Zwei Züge blieben über Nacht
noch in Langfang, einer in Lofa, so dass das Commando in
ersterem Orte nun an den deutschen Capitän zur See von
Usedom fiel.
Am 16. abends war man sich schon klar, dass es kaum mehr
möglich sein werde, Peking auf der bisherigen Route zu erreichen ;
die Arbeiten gingen zu langsam von Statten, als dass die ohne-
dies beschränkten Vorräthe an Eisenbahnmaterial, Proviant und
speciell Munition erlaubt hätten, sich noch länger mit diesem Ver-
suche aufzuhalten. Bestenfalls wäre man bis Anting gekommen^
aber von dort zu Fuss weiter zu marschiren, war selbst unter
der allergünstigsten Annahme, dass die Chinesen einen Angriff
unterlassen würden, nicht mehr zu wagen, da die Colonne gar
8*
116
keine Mittel zur Fortschaffung ihrer Geschütze und Vorräthe besass.
Endlich war die Verbindung mit der Operationsbasis Tientsin voll-
ständig abgeschnitten, wie Sir Edward beim Eintreffen vor Yangtsun
am 17. gegen Mittag constatirte — so lange hatte man, durch die
Reparaturen der Strecke hinter Lofa aufgehalten, gebraucht, um
die Distanz von nicht ganz 38 Kilometern zurückzulegen.
Bis zum 13. Juni hatte man von Tientsin aus noch Pro-
viant- und Patrouillenzüge dem Expeditions-Corps nachschieben
können; ein Zug mit Kulis, Schienen und Schwellen, der nur eine
schwache Bedeckung von 14 Mann hatte, konnte weder am 14.
noch am 15. Juni Lofa erreichen, musste am Nachmittag letzteren
Tages hinter Yangtsun eilends umkehren und passirte noch mit
genauer Noth die grosse Brücke, deren Schwellen schon lichter-
loh brannten.*)
Vice-Admiral Seymour hatte sich angesichts der Sachlage
mit dem Gedanken getragen, den Plan, auf der Eisenbahnlinie
nach Peking zu gelangen, aufzugeben und nach Heranziehung
von Vorräthen, wenn nicht Truppenverstärkungen aus Tientsin,
den Vormarsch auf der Strasse längs des Peiho zu versuchen,
während man die Impedimenta mit Dschunken auf dem Flusse
vorwärts schaffen würde ; dazu musste sich aber die ganze Colonne
nach Yangtsun zurückziehen, wo man Fahrzeuge und Lebensmittel
requiriren zu können hoffte. Die Strecke vor, die Stationsgebäude
und der Wasserthurm von Yangtsun waren total zerstört, so dass
der Zug ausserhalb der Stadt stehen bleiben musste. Ein Versuch,
durch Verhandlungen mit den wenigen noch in letzterem Orte
zurückgebliebenen Einwohnern Lebensmittel zu erhalten, scheiterte
daran, dass sie ihr Versprechen, welche zu liefern, wahrscheinlich
aus Furcht vor den Boxern, nicht hielten ; ebenso erfolglos blieb
die wieder mit chinesischen Boten nach Tientsin geschickte Auf-
forderung, dem Expeditions-Corps Dschunken mit Proviant und
Munition nach Yangtsun zu schicken, die Boten kamen gar nicht
mehr in die zu dieser Zeit schon arg bedrängte Stadt.
Am 17. nachmittags sandte Sir Edward Botschaften an die
in Lofa und Langfang verbliebenen Züge zurück ; deren Comman-
danten sollten nach eigenem Ermessen handeln, das heisst zurück-
kehren, wenn sich die Lage so verschlechtert hätte, dass jede
Aussicht auf ein Vorwärtskommen mit der Bahn verloren war
und die einzelnen Züge in Gefahr kämen, von einander getrennt
und einzeln übermächtig angegriffen zu werden.
*) Siehe das deutsche Werk »Unsere Marine in China«, Bericht des Lienffnmntl
zur See Wolf.
111
:hinittags
, Usedom
Zuerst kam der Zug von Lofa am IH. Juni na
zurück, am Abend folgten die beiden von Capitän zur See %
befehligten Trains aus Langfang.
Die in der Botschaft des Führers der ganzen Expedition
erwähnte Eventualität war nur zu rasch eingetreten und hatte
auMPrdeni noch die viel wichtigere Thatsache gebracht, dass die
chinesische Regierung bereits offen die Sache der Boxer zur
ihrigen gemacht.
Am ly. Juni. 2 Uhr nachmittags, waren die beiden Züge in
Langfang durch Boxer und repruläres chinesisches Militär, darunter
auch Cavallerie. im Ganzen ungetahr öOOO Mann, überfallen worden ;
fwar war e& gelungen, den Angriff mit einem eigenen Verluste
von tiTodten und 51 Verwundeten abzuschlagen und dem flüchten-
<ien Gegner beträchtliche, auf mehrere Hunderte von Todten ge-
stützte Verluste zuzufügen, doch bestand nun kein Zweifel mehr,
ilass 63 Wahnwitz wäre, ein gewaltsames Vordringen gegen
Peking zu versuchen. Besonders war es aufgefallen, dass die Boxer
nicht mehr bloss mit ihren «elbstangefertigten primitiven Waffen
M dem Gefechte theilgenommen hatten, sondern vielmehr grössten-
thdls mit modernen Gewehren in den Kampf eingetreten waren.
Das Hauptverdienst an dem glücklichen Ausgange des Gefechtes
gebührt den deutschen Matrosen-Compagnien, die unter Capitän
'w See von Usedom's*) Führung schliesslich die Stellung des
Feindes stürmten und dadurch die F.ngländer, welche sich auf die
Vertheidigung der Züge beschränken wollten, mit sich rissen.
Wie knapp es aber mit der Munition bestellt war, zeigt die von
UiMitschen angegebene Thalsache, dass sich eine Compagnie im
Laufe des Gefechtes gänzlich verschossen hatte und man froh
war, von den gefallenen Chinesen, die glücklicherweise auch mit
Mauscr-Ge wehren bewaffnet gewesen waren, Patronen sammeln
w kSnncn. Unter den erbeuteten Bannern und Fähnchen befand
*ich auch eines der Truppen Tung-Fuhsiang's.
Uro b'U Uhr nachmittags trat Capitän zur See von Usedom
mit beiden Zügen die Rückfahrt an; die eigenen Todten wurden
mitgenommen, da zur Bestattung die Zeit fehlte.
Am 19. Juni hieUen die commandirenden Officiere Kriegs-
rah; so bitter es auch empfunden wurde, so konnte man sich
^h nicht verhehlen, dass das Expeditions-Corps seine vorge-
Seckle Aufgabe, den Gesandten in Peking Hilfe zu bringen, auf-
Keben und ehebaldigst den Rückmarsch nach Tientsin antreten
giiSte, solange noch Lebensmittel und haup^sächlich Munition
CapbäD tut See von ITeedom wuiiic in clicsem (jeftclile v
118
reichten. Dass es grosse Anstrengungen kosten werde, sich aus
der Falle zu befreien, in die man gerathen war, lag klar zu Tage.
Als Route wurde der Weg am linken Peiho-Ufer gewählt,
wo man auch auf einige Ressourcen in den unterwegs zu pas-
sirenden Dörfern zählen zu dürfen glaubte. Die Verwundeten und
das schwere Gepäck sollten auf Fahrzeugen unter dem Schutze
der marschirenden Colonne flussabwärts gebracht werden, deren
man aber nur vier aufbrachte, so dass ausser den Verwundeten
nur Proviant und die Reservemunition der Feldgeschütze und
Maschinengewehre in den Dschunken Platz fanden ; alles Uebrige
musste zurückgelassen werden. Seecadet Prochaska stellte die
Decken seiner Mannschaft, obwohl man sie bei der empfindlichen
Nachtkühle fühlbar entbehrte, für die Verwundeten zur Verfügung.
Bisher hatten die Waggons trotz der UeberfüUung doch
einen dankbar empfundenen Rückhalt und Comfort geboten und
waren den Truppen so lieb wie lang bewohnte Häuser gew^orden,
nun hiess es aber auch von ihnen Abschied nehmen.
Am 19. Juni, 4V'» Uhr nachmittags wurde nach feierlicher
Bestattung der bei Langfang Gefallenen der Rückmarsch ange-
treten ; die Amerikaner unter dem unermüdlichen, zu allen Wage-
stücken bereiten Capitän McCalla*) bildeten die Vorhut, ihnen
folgten als Gros Franzosen, Italiener, Engländer, Oesterreicher-
Ungarn und Japaner, während Russen und Deutsche die Nachhut
bildeten; als Seitendeckung stellten die Engländer Detachements.
Der Marsch ging nur langsam von Statten und wurde durch das
mehrmalige Auffahren der von den chinesischen Bahnarbeitern ge-
zogenen Dschunken, deren Bedienung jedoch besondere Local-
kenntnisse und Geschicklichkeit erfordert, recht unliebsam ver-
zögert, so dass man sich schon um 7 Uhr abends entschloss,
zwischen zwei verlassenen, brennenden Dörfern Nachtlager zu
halten. Kaum dass die Truppen etwas über eine englische Meile
von Yangtsun entfernt waren, sah man schon beutelustige Chinesen
sich auf die verlassenen Züge stürzen und bald darauf standen
letztere in hellen Flammen. Ein eindringliches Memento, hinfur ja
nichts Nothwendiges zu vergessen und liegen zu lassen!
Die Nacht verlief ohne Störung. Am Morgen des 20. Juni
wurde um 7 Uhr aufgebrochen; gegen 9 Uhr meldete die ameri-
kanische Vorhut, dass in einem vorliegenden Gehölz chinesische
Truppen lagen, und fast gleichzeitig eröffnete sie aus ihrem Feld-
^.»■eschütz das Feuer gegen sie, welches durch heftiges Gewehrfeuer
*1 Capitän McCalla wurde im Laufe der Expedition nicht wenig^""
mal verwundet.
119
erwidert wurde. Nach beiläufig einer Stunde war der Feind durch
die Tete-Truppen vertrieben und setzte die Colonne den Marsch
fort, gerieth aber kurz darauf unter Geschützfeuer, welches die
CHinesen aus der Deckung eines circa 1^2 Kilometer entfernten,
senkrecht auf den Peiho laufenden Strassendammes abgaben. Erst
gegen Mittag waren sie auch dort geworfen und konnten die
Truppen Rast machen und so gut und schlecht es eben ging
al>l«ochen. Alle Bedenken gegen das schmutzige Peiho- Wasser
wixrden bei Seite gesetzt, man hatte von der brennenden Sonnen-
hitze und dem Sand und Staub so viel zu leiden gehabt, dass man
sicli glücklich schätzte, einen herzhaften Trunk »Chäteau Peiho«
thun zu können — über den Durst trank doch gewiss Keiner!
Um 2V2 Uhr nachmittags begannen die Chinesen jedoch von
Neuem die Colonne aus einer Stellung zwischen zwei Dörfern mit
Shrapnels und Granaten zu bewerfen; Amerikaner, Franzosen,
Engländer und Russen brachten nun ihre Geschütze ebenfalls in
Action, während die Oesterreicher - Ungarn, Deutsche, Italiener
und Japaner zum ^Schutze der rückwärts befindlichen Dschunken
blieben. Zwar gelang es den Chinesen, das Dorf, an welches sich
die Feuerlinie der AUiirten mit ihrem Centrum stützte, in Brand
zu schiessen und auch die kleine Flottille zu beunruhigen, doch
wurde ihr Widerstand bald gebrochen ; nachdem auch noch drei
deutsche Compagnien ins Gefecht vorgezogen worden waren,
stürmte man die beiden Dörfer, wobei die sich eiligst zurück-
ziehenden Chinesen zwei einpfündige Schnellfeuerkanonen im Stiche
lassen mussten.
Den Anlauf mit Bajonnett vertrugen die Chinesen nicht, so
gut und zähe sie sich im Uebrigen der Vortheile des Terrains zu
bedienen wussten.
Durch diese Gefechte, bei denen die Colonne Seymour
glücklicherweise nur unerhebliche Verluste erlitten, war ihr
Vorwärtskommen doch sehr verzögert worden. Nach einem Tages-
niarsche von beiläufig 13 Kilometern wurde in der bisherigen,
nach dem Nachmittagsgefecht wieder hergestellten Marschordnung
bivouakirt; unnöthig zu sagen, dass die Chinesen vor ihrer Plucht
noch Brand an die für sie unhaltbar gewordenen Dörfer gelegt
nnd dadurch den verbündeten Truppen die Möglichkeit, darin etwas
Brauchbares aufzustöbern, benommen hatten.
Auch die folgende Nacht ging ohne Belästigung durch den
Feind hin.
Am Morgen des 21. Juni vertheilte sich das ganze Expeditions-
Corps auf beide Ufer, weil man so die Länge der Colonne auf
120
die Hälfte verkürzen, sich gegenseitig und namentlich die Fahrzeuge
mit den Verwundeten besser unterstützen konnte.
Das kleine Detachement von »Zenta« wurde von diesem Tage
an dem deutschen Landungs- Corps unterstellt und hatte am Vor-
mittag dieses Tages zusammen mit der Compagnie des Kreuzers
»Gefion« und einer Compagnie Russen die Deckung der Dschunken.
Kurz nach dem Aufbruche erschien in der linken Flanke der
am linken Ufer marschirenden Colonne chinesische Cavallerie, die
jedoch, durch Geschützfeuer abgehalten, keine Attaque riskirte und
sich damit begnügte, den ganzen Tag über durch Gewehrfeuer
zu belästigen. Gleichzeitig wurde aber die Colonne am rechten
Ufer, welche hauptsächlich aus Deutschen und Russen bestand
und vom Capitän zur See von Usedom geführt wurde, von vorne
mit Geschützfeuer und in der rechten Flanke durch Infanterie
lebhaft beschossen. Man war eben an einer scharfen Flussbiegung
angelangt und die erste Granate fiel mitten unter die Boote,
glücklicherweise ohne Schaden zu thun ; auf letztere schien sich
die ganze Aufmerksamkeit der chinesischen Artillerie zu concen-
triren und empfand man es als eine wahre Erleichterung, als es
unter vieler Mühe gelungen war, die darauf befindlichen Ver-
wundeten hinter der Krümmung wieder in Deckung zu bringen.
Das nachfolgende Gefecht entwickelte sich äusserst lebhaft;
die Chinesen hatten ihre Stellung in den Weilern an beiden Fluss-
ufern durch Schützengräben wesentlich verstärkt und unterhielten
ein gut genährtes und gezieltes Feuer, so dass die über freies
Feld vorrückenden Alliirten beträchtliche Verluste erlitten. Die
Theilung auf beide Ufer kam nun sehr zu Statten ; auf dem linken
Ufer fand Vice-Admiral Seymour weniger lebhaften Widerstand
als die Deutschen und Russen auf dem ihrigen und rückte somit
bald in eine Stellung vor, von wo aus seine Geschütze die Chinesen
am rechten Ufer etwas mehr in der Flanke fassen und die Colonne
Usedom unterstützen konnten. Immerhin dauerte das Gefecht bis
nahe an Mittag, wo die Chinesen, zuerst ihre Geschütze zurück-
ziehend, endlich auch die Dörfer räumten.
Ohne Rast weitermarschirend wurden noch zwei Dorfer hinter
den eben von den Chinesen verlassenen passirt und während des
Marsches der Wechsel der bisherigen Bootsbedeckung gegen
Truppen, die den ganzen Morgen gekämpft hatten, durchgeführt,
wodurch das kleine österreichisch-ungarische Detachement wieder
an die TO'te kam.
Nach 2 Uhr nachmittags gelangte man wieder an eine grossere
Flussbiegung und dort wiederholten sich die Vorgänge wie
Vormittage, nur mit dem Unterschiede, dass diesmal die linke
Colonne länger aufgehalten wurde und die Chinesen schein-
bar auch einige Geschütze auf Dschunken placirt hatten. Die Töte
der Colonne auf dem rechten Flussufer rückte, das Feuer des
Gegners nur aus einigen Mitrailleusen erwidernd, gegen die Fluss-
biegung vor und erhielt beim Passiren des freien Feldes Shrapnel-
feuer; Matrose Josef BesHö wurde bei dieser Gelegenheit von
einem Shrapnel Splitter auf den linken Oberarm getroffen, zu Boden
geworfen, merkwürdigerweise jedoch nicht verwundet. Vom rechten
FlusÄufer aus wurde die Stellung der Chinesen unter Feuer ge-
nommen und derart der Colonne Seymour etwas Luft gemacht; das
(iefecht dauerte, durch zwei in grösserer Entfernung aufgestellte,
aber empfindlich präcise feuernde chinesische Geschütze unterstützt,
ungefähr zwei Stunden und endete mit dem Rückzuge der Chinesen.
Unter den zahlreichen Verlusten der AUiirten war auch der
verwundete Flaggen-Capitän Seymour's, Capitän Jellicoe.
Den Rest des Tages weitermarschirend, hatte man im Ganzen
(loch nur etwa zehn Kilometer zurückgelegt, jedoch den grösseren
On Peitsang überschritten.
Während des nachmittägigen Gefechtes waren einige am linken
Ufer angelegte Dschunken gefunden worden; als die Truppen sie
wegnehmen wollten, sprangen plötzlich Frauen mit ihren Kindern,
fÜc sich bisher darin verborgen hatten, ins Wasser, um nicht den
freimien Soldaten in die Hände zu fallen, die sie wohl noch ärger
als ihre eigenen fürchten zu müssen glaubten. Seecadet Prochaska
sprang ihnen mit einigen Leuten der -Zenta" nach und rettete beiläufig
SOMenschen ungeachtet der massenhaft in der Nähe einschlagenden
^schasse.
Am Abend de» 21. Juni übersetzte die Colonne Usedom
wieder den Fluss und vereinigten sich alle, durch die zweitägigen
Gpfechte schon -sehr ermüdeten Truppen am linken Ufer.
Der Grund hiefür war der, dass man dem am rechten Ufer
irgendwo flussabwärts gelegenen, befestigten Hsiku-Arsena! aus-
weichen wollte; durch den Mangel verlässlicher Karten war man
>if die Angaben der wenigen beim Expeditions-Corps anwesenden
Laniieskundigen angewiesen, aber auch diese kannten die Gegend
^^l zu wenig im Detail und vermochten namentlich über die Ent-
fernungen keine präcise Auskunft zu geben.
Um nun den geschlagenen chinesischen Truppen so wenig Zeit
*l* möglich zu lassen, sich noch vor Hsiku festzusetzen, und anderer-
f^iti um letzteren Punkt vielleicht doch noch unter dem Schutze
der Dunkelheit zu passiren, wurde beschlossen einen Theil der Nai
122
zu marschiren. Einige Stunden Rast waren jedoch unbedingt nöthig ;
während dieser liess Vice-Admiral Seymour die Feldgeschütze, deren
Fortbringung die Kräfte der Mannschaften unverhältnissmässig bean-
spruchte, in eine der erbeuteten Dschunken schaffen und wurden
bei der Truppe nur die leichteren Maschinengewehre behalten.
Um 1 Uhr morgens des 22. Juni wurde aufgebrochen; die
schlechte Beschaffenheit des Weges machte sich naturgemäss noch
stärker fühlbar als bei Tag.
Alles schien ruhig, nur wurden bald näher, bald weiter Feuer
aufflackern gesehen, scheinbar von den Chinesen abgegebene
Zeichen, mit denen sie den Anmarsch der Alliirten weiter
meldeten.
Thatsächlich war seit dem Aufbruch noch keine halbe Stunde
vergangen, als die Avantgarde mit Schnellfeuer überschüttet
wurde; ohne viel Zeit zu verlieren, stürmte jedoch die Vorhut
gegen die chinesische Feuerlinie und vertrieb die Schützen aus
einem Dorfe ohne nennenswerthe eigene Verluste. Auf das Feuer
hin wurden die deutschen Compagnien und mit ihnen das öster-
reichisch-ungarische Detachement an die Tete beordert. In den
folgenden Stunden bis Tagesanbruch wurden etwa sechs Kilometer
zurückgelegt.
Um -4*1 Uhr morgens war die Vorhut bei einem Dorfe
gegenüber dem Hsiku-Arsenal angelangft und passirte gerade
zwischen diesem und dem linken Flussufer, so dass sie von den
Wällen des Arsenals nicht mehr als höchstens 150 Meter entfernt war ;
auf letzteren sah man deutlich chinesische Soldaten und zwei gegen
den Fluss gerichtete Geschütze. Die Situation war eine recht
spannende, doch blieb nichts übrig, als scheinbar unbefangen
weiter zu marschiren, was die Chinesen vorläufig zuliessen, so
dass die Vorhut das Dorf passirte und in einem durch Steinwall
untl Mauerwerk abgebauten, nun trocken liegenden Flussarm
Halt machte, um auf das Clros zu warten,
Mittlorweile hatte ein die Kxpedition begleitender Engländer,
Mr. C ampbolK*^ mit einem aus der Cmwallung herv'orgekommenen
Chinesen parlamentirt. d. i. seine etwas naiv scheinende Frage,
wer da vorüberziehe, wohin und ähnliche unverfängliche Dinge
absichilioli ebenso leichthin beantwortet und erklärt, dass man
der Foresbosat/ung nichts lu Leide thun wolle, wenn sie sich
ruhig verhalte. Der Ihineso .schien seine Neugierde befriedigt oder
vielmehr genug Zeit gewonnen /u haben und trat hinter den Wall
•i Coüsul in WtttÄ'hAu. iu Hrntsin auf VrUuK aU die Expedition aaf brach
»paterbin Con$ul iu l ientMn,
zurück: gleichzeitig ertönte drüben ein Homsignal und entluden
»ich die Geschütze und Gewehre auf dem Wall gegen die Vorhut
und das eben anmarschirende Gros der Verbündeten.
Es war eine höchst kritische Situation und schon lagen einige
Opfer des chinesischen Feuers niedergestreckt: die Vorhut suchte
sich rasch in dem alten Flussbett und hinter dem Damme zu ent-
wickeln, um das Feuer aufnehmen zu können, während ein Theil
der Amerikaner und Engländer um das Dorf herum zurückeilte,
um weiter aufwärts über den Fluss zu setzen. Unglücklicherweise
konnten die eben die Flusskrümraung passirenden Dschunken erst
aufg-ehalten werden, als sie schon in den Feuerbereich des .■\rsenals
gelangt waren. Die Dschunke mit den Geschützen sank, doch ge-
\ang es wenigstens, die Fahrzeuge mit den vielen Verwundeten
wieder in relative Sicherheit, eine Strecke stromauf zu bringen.
Während Amerikaner und Engländer die Umgehung aus-
führten, um die Ostseite des Arsenals anzugreifen, hatten die
(Jeutschen Compagnien, das Detachement >Zenta« und die Com-
pagnie des englischen Kreuzers -Fndymion« die harte Aufgabe,
das Feuer von der Xordfront auszuhalten und aus ungenügender
Deckung erwidernd niederzukämpfen.
Auf die kurze Distanz schössen die Chinesen ziemlich gut;
als einer der Ersten war Matrose Tanzabellitf durch die Füllkugel
eines Shrapnels im linken Bein verwundet worden. Das Feuer
nahm beiderseits an Heftigkeil zu, bis es gelang, die Bemannung
eines der beiden Geschütze am Ufer ausser Gefecht zu setzen;
endlich nach fast zwei Stunden konnte die Corapagnie der »Hansa«
den Fluss watend übersetzen und den Wall stürmen ; fast gleich-
zeitig hatten auch Amerikaner und Engländer die Deckung hinter
dc-ni Dorfe am rechten Ufer überschritten und in einem kurzen
Anlaufe den Ostwall erstiegen, wo ausser Infanterie nur eine ein-
pfiJildige Schnellfeuerkanone das Feuer gegen sie unterhalten hatte.
Um üVi Uhr früh waren diese beiden Abtheilungen in das Arsenal
•angedrungen, wo sie sich gleich der chinesischen Geschütze be-
raächtigten und sie gegen die weichenden Chinesen spielen Hessen;
letztere hielten dem ferneren Vordringen gegenüber nicht mehr
J^tand und flüchteten über die Südoslecke des Walles, von dem
Feuer der nachdrängenden Deutschen, Amerikaner und Engländer
«harf hergenommen.
Während nun das rechte Ufer allerdings nach hartem, ver-
lustreichem Kampfe frei geworden, griffen auf dem linken die
Chinesen aus einem östlich liegenden Dorf mit Geschützen und
Infanterie unerwartet an. Die bisher gegen die Nordfront des
124
Arsenals engagirt gewesenen Abtheilungen rückten daher über
das Dorf Hsiku hinaus gegen den neuen Gegner und hatten bis
8 Uhr morgens schon einigen Fortschritt gemacht, als in ihrer
linken Flanke vom Bahndamm her, der an dieser Stelle etwa fünf
Kilometer vom Arsenal abliegt, eine chinesische Abtheilung mit
einem Geschütz und Cavallerie vorrückte.
Die Abtheilungen »Augfusta«, »Hertha«, »Endymion« und »Zenta«
mussten sich daher auf das Dorf Hsiku zurückziehen, wo mittler-
weile Franzosen, Italiener, Japaner und Russen eingerückt w^aren.
Qefeohte während und naoh
der Einnahme und Besetzung
von Hsiku am 22. Juni
4'/t'' *• n». — 6** p. m.
St«lhmg der Chinesen
Alliierten.
Bahndamm
ca. ö km vom Arsenal
l im Vorrücken.
Dsckunk
Das österreichisch-ungarische Detachement wurde nun mit
Russen und Japanern zusammen beiderseits einer aus dem Dorf
Hsiku gegen den Bahndamm führenden Strasse vorgeschoben und
führte bis :? l'hr nachmittags ein hinhaltendes (refecht gegen die
mit Ausnützung des hügeligen Terrains langsam vorrückenden
Chinesen, vieren Cavallerie abgesessen sich am Feuer betheiligte.
Aus unbekannten Ci runden zogen sich die Japaner um 2 Uhr
auf die Hohe des Hortes Hsiku zurück, so dass auch die Oester-
reioher-l'ngani und Russen kämpfend viahin zurückgehen mussten.
Das Dorf wunie nun von Xonl und Ost heftig beschösse»!»
wobei sowv^hl die iieschütze der ChinestMi als auch ihre
Vürzögliches leisteten: iJie Ostsei tp wurde durch Engländer,
Franzosen und Italiener, die Nordseite durch Japaner, Oester-
reicIier-Ungarn und Russen bis 6 Uhr abends vertheidigt.
Das Detachement der «Zenta' verlor während dieses Kampfes
den Matrosen Deste durch einen Schuss in den Hals.
Aber auch auf dem rechten Ufer war man nicht lange zur
Ruhe gekommen.
Die geflüchtete chinesische BesaUung des Arsenals hatte
zwei Geschütze mitgenommen und selbe noch vor Mittag im Süd-
osten in Position gebracht; im Laufe des Nachmittags griffen
frische Truppen mit grosser Entschiedenheit von Ost und Süd her
das Arsenal an, das gleichzeitig auch aus beiden Richtungen bis
4 Uhr nachmittags bombardirt wurde, so dass die Eroberer sich
nur mit harter Mühe halten konnten und trotz der guten Stellung
noch schwere Verluste erlitten, darunter auch den deutlichen
Corvetten-Capitän Buchholz.
Man sah deutlich, dass die Truppen Nieh's, denn als solche
hatte man sie erkannt, alle Anstrengungen machten, um die so
wichtige verlorene Position wieder zu gewinnen, aber endlich
'^lahmte ihr Eifer, den sie mit schweren Opfern bewiesen hatten,
•ind um ß Uhr abends hörte auf beiden Flussufern das Feuer
«•mälig auf — es war auch die höchste Zeit für die Alliirten,
ofcnn abgesehen davon, dass ihre Munition am Ausgehen war,
hatten die Gefechte der Vortage, der nächtliche Marsch und der
"Jen ganzen Tag unausgesetzt währende Kampf die physischen
Kräfte auf das Aeusserste beansprucht; namentlich hatte das kleine
österreichisch -ungarische Detachement keinen Augenblick Rast
gehabt.
Gegen 7 Uhr abends waren alle Truppen in das Arsenal
'usammengezogen, hinter dessen Wällen sie auch vor einem nächt-
lichen Ueberfall ziemlich sicher waren; der Uebergang der
Truppen vom linken auf das rechte Ufer wurde allerdings noch
•lurch mit Heftigkeit erneuertes Geschütz- und (tewehrfeuer
erschwert, so dass die nach der Besitznahme des Arsenals herbei-
diri^irten Boote unbrauchbar wurden und über Nacht langsam
«nken.
Nun befand sich das ganze Expeditions-Corps momentan
iJlerilings durch den Besitz des befestigten Arsenals insofeme in ,
einer besseren Lage, als es hoffen konnte, daselbst Einiges vorzu-
finden; andererseits aber war es unmöglich, sich mit den vielen Ver-
wundeten, deren Zahl durch die letzten Gefechte schon 230 erreicht
hatte, weiter kämpfend bis Tientsin durchzuschlagen. Es muBSte
126
somit ein Versuch gemacht werden, mit den Fremden dortselbst
in Verbindung zu treten und von ihnen, die ja auch nichts von
den Schicksalen der Expedition wissen konnten, Entsatz zu ver-
langen. Dass gegen Tientsin ebenfalls die Feindseligkeiten im
vollsten Gange waren, hatte man wohl schon lange vorausgesehen
und der Kanonendonner, den man zeitweilig in den letzten Tagen
in jener Richtung gehört, gab den Illusionen den letzten Stoss,
wenn solche überhaupt noch bestanden!
Da die Entsendung chinesischer Boten bisher noch nie zum
Ziele geführt, entschloss sich Vice-Admiral Seymour noch am
Abend des 22. Juni, durch ein 100 Mann starkes Detachement
englischer Marine-Infanterie unter Commando des Hauptmannes
Doig den Verbündeten in Tientsin die Nachricht über seine Lage
und die Bitte um Entsatz zukommen zu lassen. Auf den Rath des
Eisenbahn-Ingenieurs Mr. Currie, der sich zum Führer anbot,
nahm diese kleine Colonne einen Umweg am linken Peiho-Ufer,
indem sie sich zuerst nordwärts gegen den Eisenbahndamm wendete,
und sollte sie dann entlang dessen die nur etwa fünf englische Meilen
lange Strecke bis Tientsin zurücklegen. Auf diese Art hoffte
man die Forts auf dem rechten Ufer in der Nähe der Stadt zu
umgehen. Das Glück war jedoch wieder nicht günstig, die Colonne
Doig wurde schon in der Nähe des Bahndammes entdeckt, heftig
beschossen und kehrte mit einem Verlust von vier Todten zurück.
Am 23. Juni griffen die Chinesen bei Tagesanbruch wieder
die Ostseite des Arsenals heftig an, doch schlugen die Verbündeten
auch diesen Angriff — wenngleich mit einigen eigenen Verlusten
— ab. Dieser Theil des Arsenals barg die meisten explosions-
gefährlichen Stoffe und war dessen Vertheidigung in die Hände
des französischen Linienschiffs-Capitäns de Marolles gelegt worden,
der sie mit grosser Umsicht leitete.
Man hatte nun Zeit, im Arsenale Umschau zu halten und vor
Allem den Verwundeten, die bei dem Mangel am Nöthigsten un-
endlich schwer zu leiden gehabt hatten, einige Erleichterung zu
verschaffen. Sie konnten nach dem beschwerlichen Transport auf
den Dschunken nun wenigstens unter Dach, in Schutz gegen
Sonne und den starken Thaufall bei Nacht gebracht werden.
Einer der ersten glücklichen Funde war eine grosse Feldapotheke
mit einem ansehnlichen Vorrath an Verbandzeug, noch ebenso
verpackt, wie von Europa eingetroffen; auch wurde einiger Reis
— allerdings nicht mehr als für ein paar Tage — aufgestöbert, so
dass die dringendsten Bedürfnisse gedeckt waren. Dann aber
machte man sich daran, die Vorräthe an Kriegsmaterial zu unt
127
suchen, und diese erwiesen sich viel reicher, als man zu hoffen
gewagt hatte. Nebst einer grossen Zahl Gewehre und Carabiner
modernster Systeme mit einem ganz enormen Vorrath zugehöriger
Munition wurden über 30 Krupp'sche Feldgeschütze, Schnellader
von 57 und 87 Millimeter Caliber sammt einer überreichen Menge
Munition und Zubehör vorgefunden.
Die Geschütze mussten freilich erst ausgepackt, zusammen-
gesetzt und montirt werden, aber das bedeutete eine so freudige
Abwechslung, dass die Arbeit rascher als erwartet gethan war.
Jetzt konnte man doch Vergeltung üben und die umliegenden
besetzten und befestigten Dörfer selbst wirksam unter Feuer
nehmen; unter diesen Umständen brauchte man sich nicht be-
unruhigt zu fühlen, wenn auch einige Tage bis zum Eintreffen
des Entsatzes vergehen sollten.
Schon am 23. Juni nachmittags wurde das Bombardement
der nächsten Dörfer, aus denen noch fortwährend einzelne Schüsse
gegen das Arsenal fielen, und eines flussabwärts gelegenen Forts
eröffnet und am 24. fortgesetzt, was den heilsamen Erfolg hatte,
dass die Chinesen keinen organisirten Angriff mehr wagten. Ja
am 25. Juni früh kämpften die in Hsiku Eingeschlossenen sozu-
sagen für ihre Brüder in Tientsin, indem sie ein in der Richtung
gegen letzteres feuerndes Geschütz des erwähnten Forts unter
Feuer nahmen und dadurch dessen Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Wieder waren Boten ausgesendet worden und diesmal gelang
es einem, den Händen der Boxer und Soldaten zu entgehen und
die Stadt zu erreichen. Bisher waren die in der Nacht abge-
feuerten Raketen, mit denen man sich den Tientsinern bemerkbar
machen wollte, stets unbeantwortet geblieben und die Versuche,
bei Tage mit Helioskopen eine Verbindung herzustellen, hatten
w^en der am 23. und 24. herrschenden Sandstürme aufgegeben
werden müssen.
Die Proviantfrage war trotz des Reisfundes noch immer
recht schwierig ; mit Ausnahme der Amerikaner und Oesterreicher-
Ungarn waren alle anderen Nationen genöthigt gewesen, nur mehr
lialbe Rationen auszugeben, und in den nächsten verwüsteten
Dörfern war absolut nichts aufzutreiben, so dass endlich die
wenigen Maulthiere und Ponies geschlachtet werden mussten.
Dazu kam noch, dass sich die Folgen der Strapazen und
namentlich des Genusses des schlechten Peiho- Wassers fühlbar zu
wichen begannen; einige Fälle schwerster Dysenterie traten auf
^d vermehrten die Zahl derer, die zu transportiren nun kein
öderes Mittel mehr vorhanden war als improvisirte Tragbahren.
128
Kurzum, man lugte sehnsüchtig gegen Tientsin aus, ob nicht doch
ein Zeichen vom Herannahen eines Entsatzes bemerkbar würde.
Durch einen chinesischen Gefangenen waren am 24. Juni einige
nichts weniger als beruhigende Nachrichten über die Lage in
Tientsin erhalten worden ; dass Nieh's Armee durch ihre bisherigen
Misserfolge entmuthigt sei und die kleine Colonne Seymour am
22. Juni sich erfolgreich gegen 25 angreifende Bataillone (nominell
ä 500, aber wahrscheinlich nur k 300 — 400 Mann) gehalten habe*) —
diese beiden Mittheilungen klangen zwar recht versprechend und
ehrenvoll, aber sie verriethen auch kein Jota darüber, ob die
Garnison von Tientsin seit dem 10. Juni so verstärkt worden war,
dass sie es versuchen konnte, dem Expeditions-Corps Succurs zu
schicken.
Endlich am 24. Juni spät abends gewahrte man in der Rich-
tung von Tientsin Lichtblitze von elektrischen Scheinwerfern,
allerdings noch durchaus keine zusammenhängenden Signale, aber
sie wiederholten sich, als man wieder Raketen abbrannte — die
Hoffnung auf Entsatz erstarkte.
Die Nacht verging ruhig; erst in den frühen Morgenstunden
hörte man Geschützfeuer, in das mitzusprechen man nun, wie
schon an einer früheren Stelle erwähnt, kein Bedenken trug.
Endlich um 9 Uhr morgens am 25. Juni erkannte man die
längs der Bahn herangekommenen, nun direct gegen das Fort
vorrückenden Entsatztruppen, denen ein enthusiastischer Empfang
bereitet wurde.
Es waren im Ganzen 1900 Mann Amerikaner, Deutsche,
Italiener, Japaner und Russen unter dem Befehle des russischen
Obersten Schirinsky, die den von Mr. Currie angerathenen Weg
in verkehrtem Sinne, durch die Dunkelheit vor Belästigungen
durch die Chinesen bewahrt, in der Zeit von Mitternacht zurück-
gelegt hatten.
Durch diese Entsatzcolonne erfuhr man erst die Einnahme
der Taku-Forts und die seitherigen ernsten Ereignisse in Tientsin
selbst.
Der 25. Juni wurde der Rast der Befreier und den Vor-
bereitungen für den gemeinsamen Rückzug gewidmet. Letzterer
sollte auf demselben Wege bewerkstelligt werden, den die Entsatz-
truppen genommen hatten, diese die militärische Sicherung und
das Seymour'sche Corps nur das Tragen der Verwundeten und
Marschunfähigen besorgen. Da es ein Ding der Unmöglichkeit
gewesen wäre, den Schatz an Kriegsmaterial aus Hsiku mitzil-
*) Bericht von Sir Edward Se3rmoar, 27. Juni 1900.
129
führen, wurden alle Vorbereitungen getroffen, um nach dem Ab-
zug das ganze Arsenal zu zerstören. Selbstverständlich nahmen
die Nationen, welchen der Zufall passende Gewehrmunition in die
Hände spielte, davon so viel sie nur konnten ; Seecadet Prochaska
gab am 25. Juni den nicht mehr benöthigten Proviant an andere
Nationen ab und nahm dafür gegen 4500 Patronen für Mannlicher-
Gewehre mit, die Deutschen versahen sich ebenfalls so weit als
möglich mit Mauser-Munition.
Die meiste Arbeit bereitete aber die Herstellung von Trag-
bahren, doch wurden auch solche in genügender Zahl rechtzeitig
fertiggestellt.
Am Abend setzten die vereinigten Corps über den Peiho,
nur einige Deutsche und Engländer blieben zurück, um im geeig-
neten Momente das Arsenal in Brand zu setzen.
Die Todten waren schon am 23. und 24. Juni bestattet
worden, höhere Rücksichten verwehrten es, sie mitzuführen.
Am 26. Juni um 3 Uhr morgens erfolgte der Aufbruch; der
Marsch ging nur langsam und stockend vor sich, wurde auch
durch die Uebersetzung des Lutai-Canals, welche wegen des
schlechten Zustandes der Brücke mittelst Booten bewerkstelligt
wurde, sehr verzögert, so dass Tientsin erst um 9 Uhr vormittags
erreicht wurde. Die Chinesen enthielten sich, wiewohl man nicht
weiter als zwei englische Meilen von ihrem Hauptlager im Norden
Tientsins vorbeizog, eines Angriffes.*)
Es war nicht der erhoffte triumphale Einzug mit den aus
Peking befreiten Gesandten und ihrem Anhang, nein, das Ex-
peditions-Corps selbst hatte unter Noth und Drangsalen aller Art
sich nur so weit durchschlagen können, bis ihm Tientsin die Hand
*) Die wahren Beweggründe für diese auffallige Passivität der chinesischen
^fehlshaber ans Licht zu bringen, dürfte schwer fallen. Ich theile jedoch folgende
<^uf bezügliche mündliche Erzählung des deutschen Kaufmannes Herrn Detring unter
aUcm Vorbehalte mit: »Im Auftrage eines Kriegsrathes der verbündeten Detachement-
Commandanten in Tientsin setzte ich mich bei Abgang des Entsatz-Corps am 24. Juni
™it dem Vicekönig in Verbindung, um ihm zu erklären, dass jeder Angriff auf die
"^ckkchrende Seymour-Colonne den sofortigen Sturm auf die City zur Folge haben
*ärdc. Da die Chinesen gerade diesen Sturm fürchteten, hatte die Drohung den ge-
manschten Erfolg.« Aus dieser im April 1901 von Herrn Detring einem Officier S. M. S.
■Zentac gemachten, zwar nicht wörtlich aber sinngemäss richtig wiedergegebenen Mit-
theilong ist nicht zu entnehmen, wer Herrn Detring beauftragte und welche Mittel
«ctiterem zum Verkehre mit dem in seinem Yamen befindlichen Vicekönig Yü-Lü zur
Verfügung standen, das weitab von der Fremden niederlassung liegt. Keiner der zahl-
"^chen bisher in die Oeffentlichkeit gelangten Berichte der Officiere über die Vorgänge
* Timtsin erwähnt die Uebertragung und den Erfolg der Mission Herrn Dctring's an
ViMMlMlder: Kämpfe in China. 9
130
reichte, und die lange Reihe von Tragbahren mit den marsch-
unfahigen Verwundeten und ihre Träger selbst in ihrem die
deutlichsten Spuren der überstandenen Kämpfe gegen Wider-
wärtigkeiten verschiedenster Art verrathenden Aeussern machten
einen düsteren Eindruck, aber trotzdem war es für Tientsin ein
Tag der Freude, die wackeren Kämpfer wiederzusehen und ihnen
ein herzliches Willkommen zu bieten, die Gastfreundschaft der
Belagerten erweisen zu können !
Und welche Zuversicht brachten nicht die Rückkehrenden
selbst mit, die unter bitteren Entbehrungen, ganz auf sich gestellt,
doch in unablässigen Kämpfen gegen starke Uebermacht ihre
Waffenehre bewahrt und den sich entgegenstellenden Feind jedes-
mal geschlagen hatten!
62 Todte und 228 Verwundete war der Preis, mit dem der
kühne Versuch eingelöst hatte werden müssen — fürwahr ein
hoher im Vergleich zum directen sichtbaren Misserfolge!
Was die unmittelbaren Ursachen des Scheiterns der ganzen
Expedition gewesen, liegt auf der Hand: die Haltung der chinesi-
schen Regierung, die zuerst versteckt, dann offen die Partei der
Boxer ergriff.
Ob Vice-Admiral Seymour nicht diese Haltung
der Regierung in Rechnung ziehen musste? Gewiss,
noch gewisser aber, dasserund die, welche sich seinem
waghalsigenVorsatzanschlossen,sohandelnmussten!
Wie die Dinge in China seit jeher lagen und wie sie sich
gerade in jenen denkwürdigen Junitagen entwickelt hatten, gab
es zur Abwendung gefahrlicherer Folgen nur ein, allerdings
äusserstes Mittel : den chinesischen Hochmuth, hinter dem doch
so viel Schwäche und uneingestandene Feigheit steckt, zu ver-
blüffen — bereit, wenn der Versuch fehlschlagen sollte, auch
kalten Blutes dafür Alles eher als die Ehre zu verlieren, dass
man sich nicht einschüchtern Hess.
Dieser Standpunkt allein hat bisher den Westländern zu
Erfolgen verholfen, dem Einzelnen, wie in ihrer Gesammtheit, zu
unmittelbaren Erfolgen und solchen, die die zähe Beharrlichkeit
gezeitigt hat, wenn eine energische Handlung, mit allzu unzu-
reichenden Mitteln unternommen, zuerst einen Misserfolg gebracht
hatte.
Es ist auch nicht der Standpunkt des Engländers allein, von
dem der englische Admiral ausging — nein, es ist der einzig
richtige für uns Fremde überhaupt, schon darum der einzige
richtige, weil sich in ihm die höhere moralische Kraft
131
schluss und That ausdrückt, die allein uns den Vorrang vor den
chinesischen Millionen sichert ! Deshalb ist es gefehlt, Vice-Admiral
Seymour den Vorwurf zu machen, wie von mancher Seite ge-
schelien, er habe den Zug nach Peking übereilt nur aus dem einzigen
GruTide angeregt, um seiner Nation das Prestige der Führerschaft
zu sichern und dadurch die Schuld an einer militärischen Schlappe
auf sich geladen, welche die Chinesen ermuthigen musste, noch
keclcicr ihr Haupt zu erheben. Ist es glaublich, dass der Noth-
schr^i aus Peking bei den Admiralen ungehört verblieben wäre?
Gew^iss nicht, nur wollte es der Zufall, dass der Ruf nach Hilfe
zuerst vom Gesandten Grossbritanniens und doch nur natürlich
an den grossbritannischen Admiral gerichtet wurde, der überdies
im gfegebenen Momente auch über zahlreichere Machtmittel als
irgend ein anderer seiner CoUegen verfügte.
Gegenüber dem mehrseitigen minder günstigen Urtheil über
Sir Edward Seymour, für das in während der Expedition selbst
ents-tandenen Fragen vielleicht eher Anhaltspunkte gefunden
werden könnten,*) muss hervorgehoben werden, dass die chinesi-
schen Heerführer doch recht ungehalten darüber sein mussten,
die 2000 Mann nicht haben aufreiben zu können — wenn sie sich
auch mit einem Siege brüsteten, der ihnen aber das Arsenal von
Hsiku mit seinen kostbaren Vorräthen kostete; auch ist nicht zu
vergessen, dass der Vormarsch der Colonne einen ganz erkleck-
Uchen Theil der Pekinger und Tientsiner chinesischen Truppen
durch volle 17 Tage band. Schliesslich war für die in Peking
Eingeschlossenen die freilich nur einer glücklichen Illusion gleich-
werthige Hoffnung auf einen Erfolg des Entsatz-Corps doch in
den ersten Tagen ihrer Bedrängniss von nicht zu unterschätzender
moralischer Bedeutung.
Nach der Rückkehr richtete Vice-Admiral Seymour sowohl
an den Seecadeten Prochaska als einige Tage später an den
Commandanten S. M. S. »Zenta« ein in sehr schmeichelhaften
Ausdrücken gehaltenes Dankschreiben, in welchem der getreuen
Pflichterfüllung der kleinen Schaar unter den denkbar schwierig-
sten Verhältnissen die verdiente volle Anerkennung gezollt wird.
•) Z. B. Unentscbiedcnheit in der Botschaft vom 17. Juni an die Traincomman-
danten zu Langfang und Lofa; die Absicht, einem so gefährlichen Platz wie Hsiku
auszuweichen, statt ihn zu nehmen, wodurch man in diesem speciellen Falle wieder
vorne nnd im Rücken gefasst worden wäre. Die thatsächliche Einnahme Hsikus erfolgte
BOT duch den Zwang überraschender Umstände.
9*
132
Wenden wir uns nun aber den Ereignissen in Tientsin zu.
Hier war vorerst das Interesse durch die Nachrichten über
die Fortschritte der Seymour -Expedition gebunden, die allerdings
immer schlechter lauteten und am 14. Juni endlich ganz aufhörten.
Die Abfahrt der Züge mit den Verstärkungen für die
Seymour-Colonne hatte einige Aufläufe chinesischen Mobs am
Bahnhof verursacht, die jedoch leicht zersprengt wurden; am 11.
schlössen schon viele Chinesen ihre Läden.
Dass sich ausserhalb der Stadt, im Rücken Seymour's, be-
deutende Massen Boxer sammelten, war bekannt, man sprach von
20.000^30.000 Mann ; die europäerfreundlichen Chinesen in der
Stadt begannen -sich sehr beunruhigt zu fühlen, da sie von Boxfim
bedroht wurden, und verliessen, ebenso «^ "^ bü <
und Kinder der Fremden, vom 14, Juni an zu Tausenden ihre
Wohnsitze, um mit ihrer beweglichen Habe nach Shanghai zu
flüchten. Durch ihre Aussagen gewarnt, verschärften die Fremden
ihre Wachsamkeit und übten sehr genaue Controle über alle die
Fremdenniederlassung passirenden Chinesen — keine kleine Auf-
gabe, wenn man bedenkt, dass die meisten abziehenden Chinesen
vor der Abreise, um ihre Angelegenheilen zu ordnen, noch die
Fremdenviertel aufsuchten.
Am 14. Juni trafen als Verstärkung für Tientsin 1000 Russen
— ostsibirische Schützen — mit einer halben Sotnie Kosaken und
4 Feldgeschützen. 100 Japaner, endlich je eine deutsche und
englische arniirte Dampfbarkasse ein, denen tagsdarauf noch
30 Amerikaner und 80 Franzosen folgten, so dass mit 15. Juni rund
2O00 Mann zur Vertheidigung der Stadt verfügbar waren. Ein
Blick auf die Karte zeigt, dass diese Zahl noch recht schwach
genannt werden muss.
Die Fremdenniederlassungen bilden den südöstlichsten, am
rechten Peiho-Ufer gelegenen Theil des ganzen, durch eine Um-
wallung begrenzten Stadtgebietes und von ihnen liegt das fran-
zösische Settlement den chinesischen Stadtlheilen am nächsten ;
gegenüber der französischen Niederlassung ist auf dem linken
Ufer der Balmhof angelegt, in dessen Nähe in den letzten Jahren
eine Menge chinesischer Häuser entstanden waren und dessen
Besitz naturgemäss ebenso wichtig wie jener eines der von
l'reraden bewohnten Theile war. Als Verbindung zwischen beiden
V3fern diente an dieser Stelle eine Schiffbrücke.
Westlich der französischen Niederlassung, die mit den chine-
sischen Stadttheilen nur durch einen schmalen Streifen chinesischer
Hiuser zusammenhing, lag auf dritthalb Kilometer noch innerhalb
des mit einem schiffbaren Vorgraben versebenen Erdwalles das
Haikwantsu-Arsenal, auch West- oder kleines Arsenal genannt,
•Wrdwestlich die wieder mit circa zehn Meter hohen Mauern ein-'
gefa-sste, stark besetzte City, der älteste Theil der Chinesenstadt,
•^ren gut armirte Citadelle als Noyau der ganzen chinesischen
Stellung anzusehen, und im Flussknie zwischen der Einmündung
"Im aus Westen kommenden Kaisercanales (Yunho) und des Lutai-
^^nales das mit modernen Geschützen armirte schwarze Fort
"nti das Yamen des Vicekönigs, welches die Chinesen durch
ßauten aus Eisenbahnschwellen und Erdsäcken befestigten. Hieran
whba.ten gegen Norden und Nordosten leicht befestigte Militär-
'ijfer, barackenartige, mit einem Lehmwalle umgebene Unter-
^fte.
Auf dem linken Ufer stand gegenüber dem noch nicht vällifj
ausgebauten deutschen Settlement die Kriegsschule, ein gleichfalls
mit Wall umgebener Complex von Gebäuden, in denen nebst den
Kriegs schillern Waffen und Ausrüstungsmaterialien untergebracht
waren; dieser Stützpunkt für chinesische .■Vugriffsoperationen war
der nächste an den Settlements. Oestlich davon, etwa vier Kilo-
meter vom Flusse und ausserhalb des Lehmwalles, der auf dieser
Seite der Stadt jedoch des Vorgrabens entbehrt, befand sich das
befestigte, sehr ausgedehnte Ost-Arsenal mit seinen im grossen,
modernen Style angelegten Pulverniühlen und Werkstätten für
Gewehr- und selbst Geschützfabrication ; dieses Arsenal war mit
Wal! und Graben versehen, stark besetzt und bot den Chinesen
einen vortrefflichen Ausgangspunkt.
Die Fremdenniederlassungen — in der Reihenfolge von Nord-
west nach Südost; die französische, englische und deutsche —
konnten somit aus den Richtungen von Nordwest über Nord bis Ost
angegriffen werden und hatten nur gegen Südost l.uft: an dieser
Stelle führte eine Strasse auf dem rechten Peiho-Ufer nach Taku.
Der Umstand, dass die grossen, bei Tientsin oberhalb der Fremden-
nicderlassungen in einen Knoten zusammenlaufenden \Vrkehrs-
Strassen, Hunho, Kaiser- und Lutai-Canal durch die Chinesen viertel
gedeckt sind, erschwerte es der alliirten Garnison ausserdem, sich
von den Zuzügen chinesischer Truppen ein Bild zu machen, so dass
man die Stärke des Gegners nur combiniren oder schätzen konnte.
Ein günstiger Umstand lag darin, dass am linken Ufer
beiderseits des Bahnhofes keine grosseren und festeren Ge-
bäude bestanden, in denen die Chinesen dauernd festen Fuss
hänen fassen können, indem diese Strecke durch die grossen Salz-
haufeit belegt war; gegen Nordwesten vom Bahnhofe dehnte sich
ein relativ leichter zu beherrschendes Gräberfeld aus, während
am linken Peiho-Ufer selbst bis zur Militärschule nur drei Dorfer,
durch grössere freie Abschnitte von einander getrennt, standen.
Die nächste Umgebung der Stadt wird durch wenig culti-
virtcs, zur Regenzeit meist unter Wasser stehendes und von
mancherlei Gräben und Canälen durchzogenes Tiefland gebildet.
iiulcm jedoch kleine Dörfer noch immer genügend viele Deckungs-
[lunkte für Angreifer bieten.
Dii- Bauart der Häuser in der Fremdenniederlassung, welche
d>T Hauptsache nach einen nur wenig breiten, parallel zum Ufer —
136
Bund genannt — laufenden Streifen darstellt, ist die für den Osten
typische : massive Stein- und Ziegelbauten, die immerhin einigen
Schutz gegen Granatfeuer gewähren. Am stärksten war die Gordon-
(Town) Hall im englischen Settlement, die auch gewölbte Souterrain-
localitäten hatte.
Der am meisten exponirte Theil des ganzen ungefähr zehn bis
zwölf Kilometer Umfang besitzenden Raumes, den die Fremden ver-
theidigen mussten, war das französische Settlement mit dem gegen-
überliegenden Bahnhof; er wurde durch Franzosen, Japaner und
Russen besetzt; letztere legten 400 Mann mit zwei Geschützen in
den Bahnhof selbst. Das englische Settlement wurde durch Eng-
länder und Oesterreicher - Ungarn bewacht, der Bund des
deutschen Settlements und letzteres selbst waren Deutschen und
Italienern zugewiesen; die Amerikaner, anfanglich im englischen
Viertel bequartiert, übernahmen die Vertheidigung des westlichsten
Theiles der französischen Niederlassung. Das deutsche und das
zweite einen mehr internationalen Charakter tragende Frei-
willigen-Corps*) nahm an der Bewachung der respectiven Settle-
ments Theil, leistete aber auch, durch seine Localkenntniss hiezu
vorherbestimmt, namentlich im Meldedienste — zu Pferd und
auf dem Fahrrad — sehr gute Dienste.
Von den 10.000 Mann, über die General Nieh verfügte und
die nach Bew^aifnung und der bisher von Europäern beeinflussten
Ausbildung als die Elite chinesischer Truppen galten, wusste man
den grössten Theil, d. i. circa 5000 Mann in der Nähe der Stadt
und gegen Norden längs der Bahn. Am 15. Juni abends rief
Oberst Wogack die fremden Detachements-Commandanten zu-
sammen und theilte ihnen mit, dass von Nieh's Truppen 2000 Mann
nach Taku zur Verstärkung der Forts abgegangen seien, woraus
sich die Absicht der chinesischen Regierung folgern liess, weitere
Landungen fremder Truppen mit Gewalt verhindern zu wollen.
Hiemit war die Gefahr einer Abschliessung Tientsins von der See,
der man mit allen Mitteln vorbeugen musste, sehr nahe gerückt
und deshalb wurden noch um 10 Uhr Nachts 200 Mann, und zwar
Russen mit einem Zug gegen Taku instradirt, der glücklich eine
kleine Eisenbahnbrücke passirte, bevor Boxer sie zerstörten.
Am Abend wurde die Telegraphenleitung nach Tongku
unterbrochen, doch functionirte einstweilen noch das Telephon.
In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni begannen die Boxer die
Feindseligkeiten im Weichbilde der Stadt; gegen 12 V2 Uhr brach
*) In diesem hatte sogar ein Chinese Aufnahme gefunden, der selbst nicht ein-
mal vor dem Opfer seines Haarschmuckes lurückschreckte !
iler Chinesenstadt ein rasch um sich greifender Brand aus,
wüstes Geschrei »Scha-scha!» (Tödtet sie!) hallte herüber und liess
keinen Zweifel mehr darüber, dass die Boxer ihre friedlicheren
Brüder überfallen hatten. Gleichzeitig ertönten jedoch vom Bahn-
hofe her Gewehrsalven — die Russen waren angegriffen worden
und vertrieben die anstürmenden Boxer mit Gewehrfeuer, das
08 Unverwundbaren das Leben kostete.
Bereits auf den Feuerlärm hin war die Crarnison auf ihre
Alarmstationen geeilt; Linienschiffs -Lieutenant Indrak hatte mit
Zurücklassung einer kleinen Wache im Hause Herrn Osbome's
das den Oesterreichern-Ungam zugewiesene Stück Wall besetzt,
doch blieb auf dieser Seite Alles ruhig und wurde, nachdem die
Nachricht von der gelungenen Abwehr des Box er- Angriffes gegen
lue Bahn eingetroffen, nach Verstärkung der Wallposten um 3 Uhr
morgens wieder eingerückt. Eine Stunde darauf erfolgte wieder
«ine Alarmirung, hervorgerufen durch das Heranrücken einer auf
1000 Mann geschätzten, theilwcise schon mit Gewehren be-
waffneten Boxerbande auf der Takustrasse; einige Lagen aus zwei
englischen Maxim-Kanonen genügten jedoch, um den Angreifem
die Nutzlosigkeit ihres Beginnens zu beweisen, und sie kehrten
mit unbedeutenden Verlusten schleunigst um. — Die Brände in
chinesischen Vierteln waren an acht Stellen ausgebrochen
dauerten bis in den Morgen hinein; von der Militärschule her fielei
einige Schüsse gegen deutsche Posten, ohne aber Jemanden zu treffen
Beim zweiten Alarm waren Frauen und Kinder in die Town-Hal
geflüchtet, am Morgen kehrte aber Alles wieder in die Hausei
zurück.
Diese Nacht war nur eine kleine Probe der Boxer gewe&en^
allerdings unter der Patronanz Yü-Lü's, dessen Truppen unthätig
zusahen. Am 16. Juni herrschte tagsüber Ruhe in der Stadt, wenn
man das aufgeregte Getriebe der besitzenden Chinesen, die sich
in .Sicherheit zu bringen tr.ichteten, so nennen darf.
Die Visitation aller die unter österreichisch-ungarischer lie-
wachung stehende Zone passirenden Chinesen war keine klei
aber eine sehr nothwendige Aufgabe, denn bei mehreren wurdea
versteckte Waffen*) gefunden — die Poltzeistuben in den Settl&
ments waren bald mit allerhand recht zweifelhaften bezopftci
Ehrenmännern überfüllt; vorderhand lebte man aber noch imme^
n Regierung in Frieden,
von weissen Frauen und Kindern und
ich fort: viele der letzteren nahmen, da die Züge
f Dschunken den Weg den Peiho hinab und
fielen dadurch den mord- und raub«
lustigen Boxern in die Hände.
DieXacht verlief ziemlich ruhig|
an einigen Stellen im Chinesentheil
brannte es wieder, eine Erscheinung,'
die nunmehr fortdauerte, so lange
noch etwas Brennbares da war. In
Militärkreisen wusste man von der
Ueber reichung des U Itimatums wegen
der Uebergabe der Forts und wi
daher aufs Aeusserste gespannt.
Am 17. Juni morgens erfühl
man in Tientsin die Einnahme dM
Tiiku-Forts durch einen um 8 Uhl
eingetroffenen Patrouillenzug;
Tientsin war weder das GeschütZ'
feuer noch eine der gewaltigen Explosionen gehört worden. Gleicll
zeitig rückten Seecadet Rudolf Burgstaller und zwei Unterofßden
*l Scccadsl Leschanowsk}^ enlwaffnLlc liirt lUrttiq AaUm» noch itr.bttcltic 4
CUM*en. der gcucii Aea Visiiin-ndcn cincu Dolch uniicki halte.
mit der chinesisch!
Der Exodus
Chinesen dauerte n
überfüllt waren, a
imn Detachcmeiit Indrak als Ersatz für die mit der Seymour-
Expedition abgegangenen ein.
Vom Augenblicke an, wo die Erstürmung und Besetzung der
Mündungssperre am Peiho bekannt geworden, musste man sich
auch in Tientsin auf Feindseligkeiten
seitens der regulären chinesischen Truppen
gefasst machen.
Schon einige Tage vorher war bei
B(ssprechungen der Gedanke zum Aus-
druck gekommen, den Chinesen das Prä-
vMiire zu spielen und die beiden Arse-
nale wegzunehmen, sowie der Ausbruch
von offenen Feindseligkeiten nicht mehr
tu vermeiden wäre: der Gedanke reifte
jedoch nicht bis zu einem Plane, da man
sich für zu schwach hielt, um die voraus-
MChtlichen Verluste zu ertragen, haupl-
sfichlich aber um die Objecte besetzt zu
halten. L™i«schiff,.Lir.,«^^t ind«k.
Die Nähe der Militärschule, in der
sich noch immer ein Theil der Kriegsschüler befand und aus der schon
gegen die Fremden nieder lassung geschossen worden war, schien
aber dem österreichisch-ungarischen Detachement - Commandanten
iloch zu bedenklich und er besprach mit den nächstbetheiligten
Officieren, dem deutschen Capitän- Lieutenant Kühne und dem
Italienischen Linienschiffs-Lieutenant Carlotto, femer mit dem eng-
It^hen Linienschiffs-Capitän Bayly und dem russischen Oberst
Wogack die Angelegenheit. Sein Vorschlag,*) nachmittags 3 Uhr
«äien Coup ins Werk zu setzen, fand volle Beistimmung; die Russen
ttotaiten sich jedoch wegen der Exponirtheit ihrer Stellungen an
"^cm Unternehmen nicht betheiligen.
Um 2V« Uhr nachmittags sammelten sich die kleinen Con-
tingfente. 40 Mann von -Zenta.«, 50 Deutsche mit 2 Landungs-
ffcschützen und einem Maschinengewehr, 30 Engländer, Marine-
In^terie unter Major V. Luke und 25 Italiener am Bund nächst
'lern Astor-Hause.
Die Ueberschiffuog sollte mit der deutschen Dampfbarkasse
mit einem grossen Boote in Schlepp vorgenommen werden.
*) Der Anspradi auf die tnitialive ladiak's isl acleninvUsig ccwiesen; bciüglich
'fct Comniäiiilofühniiig. die omürlich nur im wcilcrcn Sinne des Worles geübt wurde,
<*ra^ et sich Tun selbst, dost sie dem rnogshöclislen OMcicr. dem «Dglischen Major
V Lake. lofirl.
140
Die Abtheilungen formirten sich gerade, als um 2 Uhr 30 Min.
plötzlich aus dem schwarzen Fort ein Kanonenschuss fiel und die
Granate in dem nahen japanischen Consulat crepirte ; gleich darauf
sauste eine zweite dicht über die Truppe hinweg, die nun rasch
in die Deckung des Astor-Hauses gebracht wurde. Das Bombarde-
ment hatte begonnen und war im vollsten Gange, so dass die
Nichtcombattanten eilends in die Town-Hall flüchteten.
Nun hiess es aber rasch handeln, bevor die Chinesen viel-
leicht auch aus der Militärschule das Feuer eröffneten, und deshalb
wurden eiligst die letzten Modalitäten besprochen. Deutsche,
Italiener und Oesterreicher-Ungarn sollten durch das Westthor
am Ufer, die Engländer durch das Nordthor eindringen.
Zuerst überschifften sich die Deutschen unter dem Schutze
der übrigen Abtheilungen, welche bereit standen, um den Wall der
Schule unter Feuer zu nehmen, mit einem Geschütz und dem
Maschinengewehr, fanden das Thor unbesetzt und postirten ihr
Geschütz im Hofraum, das Maschinengewehr im Thorweg selbst;
dann folgten Oesterreicher-Ungarn und Italiener mit der zweiten,
die Engländer mit der dritten Ueberfuhr. Die Flussübersetzung
ging trotz des Bombardements ohne Verluste von Statten.
Bei der Ankunft des österreichisch-ungarischen Detachements
fielen aus dem oberen Stockwerk eines Gebäudes, in das sich die
überraschten Chinesen zurückgezogen und dessen Thore und
Fenster im P>dgeschosse sie eilends verrammelt hatten, die ersten
Schüsse und so stürmten die Detachements gegen das Gebäude
im Laufschritt vor, die Abtheilung Indrak um die vorstehenden
Häuser herum gegen die Südfront, Deutsche und Italiener gegen
die Westfront.
Dicht unter die Mauer anlaufend, hatte man die gefahrliche
Zone bald durchmessen. Die Chinesen wagten nicht, sich zur Ab-
gabe von Senkschüssen zu exponiren, und nun hiess es, in das
Haus eindringen ; die Fensterladen wurden eingeschlagen, das
Thor widerstand länger, und als endlich ein vorübereilender
deutscher Matrose es mit einem Beile sprengen wollte, fiel er
durch einen Schuss in die Brust tödtlich getroffen, ein zweiter
wurde leicht verwundet. Im Nu waren aber die Angreifer
drinnen und feuerten nun gegen die Decke — mit so gutem
Erfolge, dass von den ober ihnen befindlichen Chinesen 25 fielen,
wie später constatirt, und der Rest auf den Aussichtsthurm
flüchtete.
Als nun die Deutschen, Italiener und Engländer folgten,
Hess Linienschiffs-Lieutenant Indrak das Feuer einstellen und
141
theilte seine Leute, um die nächstgelegenen Magazine und Pavillons
zu untersuchen und zu besetzen ; auf dem Wege dahin wurden sie
von dem Aussich tsthurm noch lebhaft beschossen, doch nur ein Mann,
Maschinenmaat Pauer, durch einen Streifschuss leicht verwundet.
Linienschiffs-Lieutenant Indrak drang, gefolgt von 10 Mann
seiner Leute, einigen Deutschen und Italienern in den WaflFensaal
Aimriff auf die Miiitärschule
am 17. Juni
D«ntsche Englinder ... Die dick bezeichneten Linien zeigten
Österreioher-Ungarn.and Italiener mn, d%s& geschossen warde.
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.. ij W$»t'Thor
1 Munition und Riemenzeug'. >| • Honturen
2 Geschütze und Waifen "iü 4 Schuhwerk und Kappen
ein, wo er die dort vorgefundenen 12 Geschütze durch Heraus-
nehmen der Verschlüsse unbrauchbar machen und eine Anzahl
Gewehre wegnehmen Hess.
Inzwischen hatten die Deutschen und Engländer mit den noch
übrigen, sich zur Wehre setzenden Chinesen aufgeräumt, von den
50 Kriegsschülern — lauter Mandschu — soll keiner ent-
kommen sein.
142
Die SeecadettenBurgstaller und Leschanowsky waren weniger
glücklich gewesen und hatten die durchsuchten Gebäude verlassen
und leer gefunden.
Da der ganze Complex der Kriegsschule zu ausgedehnt war,
um ihn dauernd zu besetzen, so entschloss man sich, die Gebäude
durch Brand zu zerstören, für alle Fälle aber auch das nächste
Dorf flussaufwärts anzustecken.
Beides geschah von mehreren Stellen aus.
Es war hohe Zeit, wieder zurückzukehren, denn schon hatte
das bombardirende Fort begonnen, Shrapnels gegen die Militär-
schule zu werfen, die aber glücklicherweise nur an den höheren
Theilen der Gebäude Schaden anrichteten.
Die Ueberschiffung, während der die mitgenommenen Geschütz-
verschlüsse versenkt wurden, ging ebenfalls wieder glücklich
vor sich und im Settlement wurden die Truppen mit lautem Bei-
falle empfangen.
Die ganze Affaire hatte nur anderthalb Stunden gedauert
und stellte hauptsächlich durch die Unbrauchbarmachung der Ge-
schütze einen glücklichen Erfolg von dauerndem Nutzen dar;
allerdings hatte sie einige Opfer gekostet, den Deutschen und
Engländern je einen Todten und zwei Verwundete, den Italienern
und den Oesterreicher-Ungarn hingegen nur je einen Leicht-
verwundeten.
Das Bombardement dauerte bis 5 Uhr abends fort ; inzwischen
waren russische Feldgeschütze am französischen Bund in gedeckte
Position gebracht worden und konnten um 4V« Uhr mit der Er-
widerung des Feuers beginnen, so dass die Chinesen es eine halbe
Stunde später für gerathen fanden, ihr Feuer vorläufig ein-
zustellen.
Während der Einnahme der Militärschule war man in den
drei Niederlassungen angestrengt thätig gewesen, sich, so gut es
eben ging, in Vertheidigungszustand zu setzen. Aus Ballen ge-
presster Baumwolle wurden an ungeschützten Stellen und am Bund
Barricaden improvisirt, die ausgezeichnete Dienste leisteten, da sie
ganz schuss- und vermöge der starken Pressung auch ziemlich
feuersicher waren und schliesslich auch die Ausbesserung einzelner
Stellen keine Schwierigkeit bot. In der Eile waren auch Reissacke
zu ähnlichem Zwecke aufgestapelt worden, ein unliebsamer Miss-
griff, denn die Säcke platzten bald, der Reis begann nach dem
ersten Regenschauer zu faulen und recht übel zu riechen ; schliess-
lich fanden sich aber doch Kulis, die ihn auch in dieser vorläufigen
Zubereitung nicht verschmähten.
Der Tientsin-Qiib wurde wegen seiner geschützten Lage und
(k-r Grösse seiner Räume in ein Hospital umgewandelt, dessen
Ausstattung mit Betten u. dgl. besorgten die einzelnen Familien
und so fanden Aerzte und Verwundete eine relativ sichere und
mit allem Nötliigen versehene Unterkunft; als ein besonderes
Glück für die eingeschlossenen Fremden im Allgemeinen, die Ver-
wundeten und Kranken aber insbesondere ist es anzusehen, dass
nebst genügenden Vorräthen an Lebensmitteln, Getränken, Arzneien
und Verbandzeug auch Eis in mehr als ausreichender Menge zur
Hand war.
Kaum von seinem ersten, so erfolgreichen Gefechte zurück-
gekehrt, rückte das Detachement der -Zenta« sogleich in die
Stellung auf dem Erdwalle ab, die es durch 17 Tage hielt, unter
sengender Hitze und wolkenbruchartigem Regen; andere Detache-
meDts waren etwas glücklicher, dort erlaubten es die localen Ver-
hiltoisse, zeitweilig wenigstens einen Theil in der nächsten Nähe
ihrer Gefechtsposten unter Dach und Fach zu bringen. Bei Tag
stand (rin Drittel, bei Nacht die Hälfte auf dem Wall auf Wacbe,
wenn nicht drohende AngrifTsgefahr die Aufbietung aller Leute
erforderte — und solche Alarmirungen gab's mehr als gerade zur
Abwechslung nÖthig — der Rest lagerte, allzeit völlig gerüstet,
am Fusse des Walles auf Strohmatten, die aber bald in Staub und
Koth versanken. Als es endlich nach einiger Mühe gelungen war.
ein Flugdach zusammenzuzimmern, fühlten sich Officiere und Mann-
schaft schon sehr erleichtert- Aber auch dieser bescheidene Com-
144
fort wurde in der Folge wieder ungeniessbar, als die Chinesen den
Erdwall mit Geschützfeuer enfilirten, so dass die nicht auf Posten
stehende Mannschaft einige Schritte in den todten Raum hinter
einer Häusergruppe zurückgezogen werden musste. Die »Propertät«
litt unter diesen Umständen, wo das beliebte »Wäschewaschen«
nur von himmelswegen und gar nicht gründlich vor sich ging ; die
gute Stimmung wurde aber nur beeinträchtigt, wenn sich trotz
schärfsten Aufpassens längere Zeit hindurch gar kein rothbefranster
oder sonstwie uniformirter Chinese entdecken lassen wollte!
Die Commando- Verhältnisse waren sehr unklar; seiner In-
struction nach • hielt sich Linienschiffs-Lieutenant Indrak an den
anwesenden höchsten englischen Officier, seit Abgang der Seymour-
Expedition Capitän Bayly, dessen Autorität aber andere Nationen, wie
Franzosen und Russen, nicht anerkennen wollten. Dies blieb
natürlich nicht ohne Folgen, denn wenn jeder auf seinem Fleck
auch das Beste that und gerne auch unaufgefordert den Nachbar
unterstützte, wenn Noth an den Mann ging, so war doch das
ganze Kampfesfeld zu ausgedehnt, die Garnison der Stadt nach
Zahl und Truppengattungen zu veränderlich und ausserdem diffe-
rirten die Verhältnisse an einzelnen Punkten zu sehr, als dass nicht
ab und zu Versäumnisse eingetreten wären, die nachzuholen un-
nütze Opfer an Mühe und Menschenleben kostete. Vorgreifend sei
hier bemerkt, dass sich diese misslichen Zustände erst einiger-
massen besserten, nachdem der russische Vice-Admiral Alexeieff
am 9. Juli das Obercommando übernommen hatte.
In der Nacht vom 17. auf den 18. Juni wurde die Ruhe nur
durch einzelne Kanonen- und Gewehrschüsse gestört, hingegen
nahmen die Chinesen um G Uhr früh das Bombardement wieder
auf. Während der Nacht hatten sie im Nordosten der Stadt hinter
dem Bahndamme eine Batterie von sechs Feldgeschützen in
Stellung gebracht, die nun auf den Bahnhof und gegen das
französische Viertel ein verheerendes Feuer richtete. Das Fort
hatte sich den Erdwall als Ziel ausersehen, den es mit Granaten
und Shrapnels bestrich, so dass Linienschiffs-Lieutenant Indrak die
Posten auf die Aussenseite des Walles stellte und die freie Mann-
Schaft in die erwähnte Deckung brachte; die oberen Theile der
betreffenden Häuser wurden ziemlich arg mitgenommen. Die
Schusspräcision der Chinesen hat allgemeines Staunen erregt, noch
auffälliger hat man es jedoch bemerkt, wie richtig sie von Zeit
zu Zeit ihre Ziele wechselten; beides bewies, dass die Chinesen
die Schussbeobachtung sehr peinlich übten. Da sie aber doch
eigentlich nur einen Punkt, die Pagode im schwarzen Fort, hatten, von
#
145
dem aus sie das ganze Schussfeld übersehen konnten, dauerte es
nicht lange, bis sich der Verdacht regte, dass sie in der Stadt selbst
auch Beobachter haben müssten, die mit den Batterien in irgend-
einem und zwar rasch functionirenden Verkehre standen. Diese
vorerst nur vage Vermuthung verdichtete sich immer mehr und
schliesslich wurden thatsächlich am 21. Juni auf dem Dache des
deutschen Clubs zwei dort angestellt gewesene chinesische Diener
in flagranti ertappt, als sie mit rothen und weissen Fähnchen
Signale abgaben. Da jedoch auch weiterhin, nachdem man die
unliebsamen Gäste unschädlich gemacht hatte, das chinesische
Feuer nicht weniger präcise blieb, steht man hier einem fraglichen
Punkt gegenüber, den selbst die Annahme nicht ganz aufzuklären
vermag, dass die chinesischen Artilleristen ganz vorzüglich aus-
g'cbildet und im Besitze von ausserordentlich detaillirten, genauen
Plänen gewesen seien.
Während die Russen die Beschiessung durch die chinesische
Feldbatterie, welche sowohl an den Gebäuden als sonstigen Ob-
jecten der Bahnstation und an den Häusern der französischen
Niederlassung beträchtlichen Schaden anrichtete, mit ihren eigenen
Geschützen und so glücklich erwiderten, dass sie zwei gegnerische
Feuerschlünde zum Schweigen brachten, versuchten chinesische
Infanterie und mit Gewehren bewaffnete Boxer, welche entweder
die Stellung der Russen umgangen oder ihren Weg aus dem
Ost-Arsenal genommen haben mussten, sich in dem leider nicht
ganz niedergebrannten Dorfe zunächst der Militärschule einzu-
nisten und von dort aus den Bund in sehr fühlbarer Weise zu
belästigen. Glücklicherweise wurden sie aber rechtzeitig entdeckt
und von einer rasch über den Fluss setzenden englischen Ab-
theilung verjagt, die hierauf die Einäscherung dieses gefahrlichen
Schlupfwinkels noch gründlicher besorgte.
Der Geschützkampf schwieg erst gegen 6 Uhr abends;
Bahnhof und französisches Settlement waren arg hergenommen,
aber auch in der Chinesenstadt war — offenbar ein Erfolg des
russischen Feuers — ein sich rasch ausbreitender Brand ausge-
brochen. Die Verluste der Fremden waren an diesem Tage keine
bedeutenden, die chinesischen unbekannt.
Das Detachement »Zenta« hatte ebenso wie seine deutschen
und englischen Nachbarn in Erwartung eines auf die Beschiessung
durch Geschütze folgenden Angriffes den ganzen Tag bereit ge-
standen, doch unterblieb ein solcher und man musste, nachdem es
schon nicht zum Gefecht gekommen war, froh sein, dass auch das
Geschützfeuer keine Opfer gefordert hatte.
Winterhalder : Kämpfe in China. 10
146
Nach einer ruhig verlaufenen Nacht setzten die Chinesen am
19. Juni, 7 Uhr morgens, das Bombardement aus dem schwarzen
Fort gegen die Stadt fort, stellten es jedoch aus unbekannten
Gründen schon nach drei Stunden ein; erwidert hatten es nur
russische Geschütze.
Unterdessen erneuerten die Chinesen aus der noch brennenden
Militärschule den Angriff, der aber von Deutschen, Engländern
und Italienern, die aus der Deckung der am rechten Ufer herge-
stellten Barricaden ein durch zwei Geschütze unterstütztes, leb-
haftes Gewehrfeuer eröffneten, bald abgeschlagen wurde und mit
dem Rückzuge in das Ost- Arsenal endete.
Noch während dieses Gefechtes machte eine circa 200 Mann
starke Abtheilung Chinesen nach Uebersetzung des Flusses den
Versuch, im Südosten zwei Geschütze gegen die von den Deutschen
besetzte chinesische Universität und das Taku-Thor in Action zu
bringen; die bei letzterem aufgestellten deutschen Landungs-
geschütze setzten jedoch nach kurzer Zeit die gegnerischen
ausser Gefecht.
Zu Mittag schwieg das Feuer allseits, um aber schon um
2 Uhr wieder, diesmal äusserst intensiv und auf den Bahnhof
concentrirt, aufgenommen zu werden ; letzterer wurde durch die
Mehrzahl der Geschütze des schwarzen Forts und durch die im
Nordosten placirte Feldbatterie, gegen die sich die auf dem
Bahnhof und auf dem französischen Bund aufgefahrenen Geschütze
vergeblich bemühten, einen Erfolg zu erringen, unter ein ver-
heerendes Feuer genommen und stand binnen einer Stunde in
Flammen. Zwei Geschütze der Forts im Flussknie überschütteten
zur selben Zeit den Erdwall mit Geschossen, erzielten jedoch keinen
unmittelbaren Erfolg.
Die Lage der 400 Russen auf dem Bahnhof begann sehr
kritisch zu werden; durch den unlöschbaren Brand aus den Ge-
bäuden vertrieben, suchten sie in den Waggons einige Deckung,
erhielten aber nunmehr auch lebhaftes Gewehrfeuer, da die Chinesen,
ihren Vortheil wahrnehmend, Infanterie in die dem Bahnhof nächst-
gelegenen Stadttheile und Dörfer vorgeschoben hatten, von wo
aus sie Bahnhof und rechtes Ufer äusserst intensiv beschossen.
Auf dem Bund wurde dieses Feuer gar nicht erwidert, da man
mit der Munition haushalten musste; die im französischen Settle-
ment stehenden Franzosen und Russen konnten unter den ob-
waltenden Verhältnissen den Fluss nicht übersetzen, um der ur-
sprünglich 400 Mann starken, nun aber durch einen Verlust von
ungefähr 100 Todten und Verwundeten geschwächten Bahnhof-*
147
Besatzung Hilfe zu bringen, sondern mussten sich darauf beschränken,
ihr Feuer auf den Augenblick aufzusparen, wo die Chinesen die
rechte Flanke jener vom Flussufer her angreifen würden.
Um 3 Uhr schwieg plötzlich das chinesische Geschütz- und
Gewehrfeuer und 3000 Mann Chinesen stürmten von einem durch
etwa 250 Meter freies Feld vom Bahnhof getrennten Dorfe die
Position der Russen ; durch ein mörderisches Schnellfeuer zurück-
getrieben, bevor sie noch die halbe Strecke durchlaufen hatten, setzten
sie gleichwohl bald darauf wieder zu einem Anlaufe an. Die Russen
hätten, durch ihre Verluste geschwächt und durch den auch auf
die Waggons übergegangenen Brand ihres letzten Stützpunktes
beraubt, nun kaum mehr widerstehen können, als zu ihrem und
der ganzen Tientsiner Besatzung grösstem Glück eben ein Zug
mit 400 Russen aus Tschun-lian-tscheng einlief; noch während der
Fahrt griffen diese frischen Truppen durch ihr Schnellfeuer ins
Gefecht und schlugen den zweiten Ansturm so erfolgreich ab,
dass sich die Chinesen mit HinterlaSvSung von ungefähr 1200 Todten
zu regelloser Flucht wendeten.
Dieser Augenblick war einer der kritischesten der ganzen
Campagne, denn der Verlust des Bahnhofes wäre für die Fremden
nur das Vorspiel dazu gewesen, sich bei der Vertheidigung des
Flussüberganges erschöpfen zu müssen; der Verlust der Russen
allein hatte an diesem Tage 7 Todte und 95 Verwundete betragen,
eine bedeutende Ziffer, wenn man die beschränkte Zahl der Ver-
theidiger in Betracht nimmt.
Die ganze Action der Chinesen zeigte aber, dass sie unter
guter Führung durchaus nicht zu verachtende Gegner sein konnten
und in Tientsin gute Führer hatten ; sie steht insoferne einzig da,
als die Chinesen den Versuch gemacht hatten, den durch die
vorangehende heftige Beschiessung errungenen Vortheil durch
energisches Draufgehen voll auszunützen.
In der Stadt hatte sich das Gerücht verbreitet, die Russen
hätten den Bahnhof bereits geräumt, und daher wurden mit fieber-
hafter Eile die Barricaden verstärkt und neue aufgeworfen, um
wenigstens im Strassenkampf den Chinesen hartnäckigen Wider-
stand entgegensetzen zu können.
Auf der Südostseite war man bis 4 Uhr nachmittags durch
das Bombardement belästigt worden ; Linienschiffs-Lieutenant Indrak
hatte von seiner Stellung auf dem Wall aus die Bewegung einer
auf tKX) Mann geschätzten Abtheilung beobachtet, die von Süden
her anrückte, jedoch einen weiten Umweg nahm und schliesslich
ausser wirksamer Schussweite in die City einrückte.
10*
Kurz nach 4 l'hr nachmittags überbrachtL- ihm i;in Meliie-
reiter die Nachricht, dass vom Haikwantsu-Arseiiale her ein grosser
Haufe mit Gewehren bewaffneter Boxer gegen den Recreation-
Groiind vordringe; rasch entschlossen rückte LinienschifFs-Lieutenant
Indrak mit seinem ganzen üelachement, unterstützt durch einen
Zug Deutscher mit einem Maschinengewehr, längs des Walles vor
und entwickelte rechts von letzterem die kleine Abtheilung in
Schützenlinie. Die Deutschen übernahmen indessen die Sicherung
des Erdwalles im Rücken.
Von der ersten, in der nebenstehenden Skizze ersichtlich ge-
machten Stellung aus wurden die noch etwa 800 Meter entfernten
Boxerbeobachtet und mit einem langsamen Schützenfeuer empfangen;
die Besatzung der Spinnerei, meist englische Freiwillige, und das
alte englische Geschütz auf dem Wall gaben einige erfolglose
Lagen ab, was zur Folge hatte, dass die Boxer nunmehr äusserst
lebhaft zu schiessen begannen. LinienschifFs-Lieutenant Indrak
führte nun, um den Vorrückenden näher zu kommen, mit einem,
raschen Sprunge seine Leute in die Spinnerei, von der aus er
h'bhaftere.s Feuer durch seine Schützen eröffnen lie.'.s.
Die Boxer hatten es inzwischen für besser befunden,
sich ebenfalls in lüv Deckung eines dvr vitalen Grüben XU bl
149
Angriff der Boxer
am 19. Juni
Hat-kican-lsu
i
geben und schössen von dort ebenso heftig als glücklicherweise
schlecht.
Plötzlich sah man sie aufspringen und sich eilends zurück-
ziehen, bald darauf gegen das West- Arsenal fliehen, wobei noch
mehrere fielen. Wer beschreibt aber die Ueberraschung Indrak's,
als er mit einemmale aus der Richtung von jenem Punkte, wo
die Boxer umgekehrt waren, einen seiner Leute, den Matrosen
Ivan Lassan, herankommen sah! Der Mann meldete, den Vor-
rückungsbefehl schlecht verstanden zu haben und an der Aussen-
seite des Walles vorge-
rückt zu sein, bis es ihm
endlich doch etwas auffiel,
dass er so ganz allein sei.
Den Wall ersteigend, sah
er das englische Geschütz
und seine Kameraden in der
Spinnerei weit hinter sich,
zu seiner grossen Ueber-
raschung aber auf nicht ganz
300 Meter innerhalb des
Walles die Boxer im leb-
haftesten Feuer ; ohne einen
Augenblick zu verlieren feu-
erte er im raschesten Tempo
unter sie und hatte die Freude
einige fallen zu sehen, als sie,
durch diesen unvermutheten, weit
überschätzten Angriff in der Flanke
bestürzt, sich schleunigst auf und
davon machten!
So erklärte sich also der bis
dahin unbegreifliche verzweifelte Ent-
schluss der Boxer, auf ihre Unverwund-
barkeit von vorne zu verzichten und ihre
Fersen zu zeigen! Lassan, der unbewusste
Held des Nachmittages, erntete für seine
Geistesgegenwart Lob, für die anfangliche Unaufmerksamkeit aber
die verdiente »Nase« und quittirte die Resultirende aus diesen
beiden scheinbar so entgegengesetzten Kräften mit seinem ge-
horsamsten Grinsen; er hatte 25 Todte gezählt, die von den
Boxern zurückgelassen worden. An dieser Strecke waren die
beiden Unterofficiere des Detachements der »Zenta«, Quartiermeister
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yffRfcreaiion
Grouiid
Oattrr.-ung.
Lag^rpi**' yDrumiHond-Haus
Tftae« cour»t Thor
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150
Artillerie-Instructoren Sirowy und Sobotka, am meisten betheiligt,
die, wie die englischen Zuschauer selbst bewunderungsvoll be-
stätigten, einzelne vorlaufende Boxer auf 800 — 900 Schritte aufs
Korn genommen und getroffen hatten.
Die Spinnerei musste wegen ihrer exponirten Lage leider
noch am selben Abende geräumt werden und blieb ungefähr
eine Woche in den Händen der Chinesen, die von dort aus die
Settlements und auch die englischen Posten auf dem Wall be-
lästigten.
Der Tag war zwar für die Vertheidiger auf allen Linien
günstig verlaufen, aber man konnte sich nicht verheimlichen, dass
unter solchen Umständen ein Aushalten nicht lange möglich sein
würde; die Verluste in drei Tagen machten schon nahezu
200 Mann aus und mit der Munition war es sehr knapp bestellt.
Andererseits Hess sich ein planmässiges Vorgehen der Chinesen
nicht verkennen und musste man damit rechnen, dass sie jeden-
falls Verstärkungen in grösserem Masse heranziehen würden ; dann
war es aber äusserst zweifelhaft, ob man noch einige so kräftige
Vorstösse wie am Nachmittag gegen die Eisenbahn zurückschlagen
können würde. Durch die so glücklich zu entscheidender Stunde
eingetroffenen Russen war man unterrichtet, dass der directe
Eisenbahnverkehr mit Tongku vorderhand unterbrochen, gerade
jetzt, wo Verstärkungen unbedingt nothwendig erschienen, sollte
nicht der wichtigste Platz von ganz Tschili in die Hände der
Gegner fallen.
Die Lage schien so bedrängt, dass der Rückzug auf Taku
in ernstliche Erwägung gezogen und auch die Modalitäten des-
selben bereits besprochen wurden — selbstverständlich wurde dies
Alles vor den Frauen geheimgehalten, die es ja noch immer recht-
zeitig genug erfahren hätten ; einstweilen musste aber, so lange
noch ein Fünkchen Hoffnung vorhanden war, Zuzug zu bekommen.
Alles daran gesetzt werden, schon mit Rücksicht auf das spätere
Vorgehen gegen Peking Tientsin in den Händen der Fremden zu
erhalten. Dazu war es vor Allem nöthig, sich mit den Admiralen
vor Taku in Verbindung zu setzen; war von dorther die Ab-
sendung von Hilfe zugesagt, so war man entschlossen, sich äussersten
Falles auf das englische Settlement zurückzuziehen und einen
Strassenkampf zu bestehen.
Mr. James Wats, ein vorzüglicher Herrenreiter, erbot sich,
das Ansuchen um schleunigste Unterstützung nach Tongku zu
bringen; in Begleitung von drei Kosaken brach er nach Eintritt
der Dunkelheit auf und legte die Strecke in zwölf Stunden zurück.
wofür raaji sonst auf einem guten Pferde nur drei braucht.
Auf dem Wege wurde er nicht weniger als achtmal von Militär
und Boxern angegriffen, so dass er weite Umwege zu machen
hatte.
Xachtsüber ruhten die Feindseligkeiten und erst um 11 Uhr
vormittag.'i des 20. nahmen die Chinesen das Bombardement des
W'alles und nachmittags auch der Settlements auf; während aut
dem ersteren keine Verluste zu verzeichnen waren, gerieth in der
französischen Niederlassung ein Lagerhaus in Brand, der bald
solche Dimensionen annahm, dass er erst am 21. vormittags, als
bereits nahezu die Hälfte des Settlements zerstört war. gedämpft
werden konnte.
Nachmittags recognoscirte eine Abtheitung von 50 Kosaken
die G-egend flussabwärts der Stadt und kam mit chinesischen
Truppen, die etwa drei englische Meilen, vom Taku-Thore gerechnet,
eine Brücke über den Fluss zu schlagen im Begriffe standen, ins
ßefecht, wobei ein Officier und zwei Kosaken leicht verw*undel
wurden. Der Brückenschlag deutete darauf hin, dass die Chine.sen
von Osten her Truppen erwarteten, die offenbar den einzig noch
I freien Ausweg im Südosten der Stadt auf dem rechten Ufer ver-
legen sollten. Man rausste also gewärtig sein, bald auch von dieser
I Seite her angegriffen zu werden.
In der folgenden Nacht zum 21. Juni wurde die Wache auf
"Crn Walle im Rücken aus den nicht ganz 100 Meter entfernten
chinesischen und einigen verlassenen, Europäern gehörigen Häu.sern
dßfartig heftig beschossen, dass sie zeitweilig hinter — also ausser
"^Hi Walle — Deckung suchen und das Detachement 'Zenta« unter
*""4 Drumond'sche Haus gezogen werden musste.
Die Durchsuchung der Häuser im Settlement, in denen sich
Jedenfalls boxerisch gesinnte chinesische Bedienstete der Fremden
Wö ihre Genossen festgesetzt hatten, konnte erst am folgenden
I Morgen durchgeführt werden; .Seecadet Leschanowsky mit zehn
Mann durchstreifte die nächsten Strassen, fand wohl keinen he-
'flffneten Chinesen, dafür aber eine Menge Waffen und in einigen
Häusern bei den geöffneten Fenstern eben gebrauchte Gewehre.
Hfibeti denen ein Haufen Munition lag. Um nun gegen eine Wieder-
^lung solcher Vorfalle sicher zu sein, liess Linienschiffs-I.ieutenant
lodrak in seinem Rayon, da die wirklich Schuldigen zu eruiren
Unmöglich war. alte aufgefundenen Chinesen, für die nicht Fremde
lusdrücklich Bürgschaft leisteten, einfach über den Wall schaffen
lud den Besitzern der Häuser die Waffen sammt Munition mit
d*^! Ersuchen um bessere Bewahrung zustellen. Aehnliches .war
auch in anderen Settlements vorgekommen, wo man zu noch
schärferen Massregeln griff; in der Folge blieb man wenigsten»
von solchen störenden Ueberraschungen verschont.
Das Bombardement, ein nun schon gewohntes Alltag^creigniss^
dauerte am 21. Juni mit kurzer Unterbrechung im Ganzen nur
vier Stunden, wurde langsam unterhalten und richtete keinen be-
deutenderen Schaden an ; hingegen gelang es Boxern an mehrere
Häuser im französischen Settlement und im angrenzenden Chinesen-
viertel Feuer zu legen. Auf Löschversuche musste verzichtet
werden, da die Chinesen auf die brennenden Objecte ein sehr leb-
haftes (lewehrfeucr richteten : das französische Settlement wurde
zum grössten Theil in einen Schutthaufen verwandelt. Nachmittags
war die Wallhesatzung im Südosten durch den Anmarsch von
circa 1000 Mann von Süden her alarmirt worden, doch hielt sich
diese Truppe auf respectable Entfernung und verschwand in dei
Richtung der City.
Gegen 10 Uhr abends versuchte eine aus f'twa 100 Mai
bestehende Bande Boxer sijdlich der Militärschule über den Flus
zu setzen, wurde aber durch lebhaftes Feuer daran verhindej
und gab ihre Absicht, nachdem sie einige Todte verloren, auf.
153
Gegen Morgen des 22. Juni hörte man aus der Richtung
Tongku Geschützfeuer — die zum Entsätze Tientsins aufgebrochenen
Verstärkungen waren mit den von Lutai anmarschirenden chinesi-
schen Truppen in Fühlung gekommen.
Diesen Tag über pausirten die Chinesen mit der Beschiessung;
nachmittags beschoss die russische Batterie eine halbe Stunde
lang die chinesischen Forts, ohne jedoch einer Antwort gewürdigt
zu werden. Es musste also irgend etwas Besonderes, die Aufmerk-
samkeit der Chinesen Fesselndes vorgehen. Vom Walle aus hatte
man vormittags den Abmarsch von circa 1000 Mann aus der City
gegen Taku und gegen 7V« Uhr abends den Einmarsch einer be-
deutend stärkeren Colonne in die City beobachtet; beides spielte
sich ausserhalb Gewehrertrag ab und Hess im Zusammenhalt mit
dem morgens hörbar gewesenen Kanonenfeuer den Schluss zu,
dass zwischen Tientsin und Tongku ein Treffen stattgefunden
haben müsse, in dem die chinesischen Truppen geworfen worden
und Theile derselben nun auf dem Rückzuge die ihnen zugesendete
Verstärkung zur Umkehr bewogen hatten.
Die Nacht verlief soweit ruhig, nur in gespanntester Er-
wartung seitens der Fremden, ob es dem Entsatz-Corps gelingen
werde, die auf dem Wege stehenden Chinesen zu schlagen oder
nicht.
Am 23. Juni vormittags hatten wieder chinesische Truppen
die Ruinen der Militärschule besetzt und von dort ein äusserst
lebhaftes Gewehrfeuer gegen die den Bund besetzt haltenden
Engländer, Italiener und Deutschen eröffnet, das namentlich den
ersteren schwere Verluste beibrachte und dem italienischen De-
tachement seinen Commandanten, LinienschifFs-Lieutenant Carlotto,
kostete.
Gleichzeitig mit dem Feuerangriflfe von der Militärschule her
verkündete entferntes Feuer im Osten, dass dort gekämpft werde.
Gegen Mittag erhielt Linienschiffs-Lieutenant Indrak die Meldung,
<iass auf der Taku-Strasse Truppen im Anmärsche seien, die aber
l>ald als ein Theil des Entsatzes erkannt und mit frenetischem
Jubel begrüsst wurden. Es waren 800 Mann Amerikaner, Eng-
länder und Italiener unter Führung des Mr. Wats, die sich am
Vortage mit dem russisch-deutschen Corps vereinigt, vormittags
aber, nachdem ein Gefecht mit den Chinesen östlich des Bahn-
dammes den erhofften Ausgang gebracht, wieder von ihnen ge-
trennt hatten, um so rasch als möglich nach Tientsin zu gelangen.
Diese Truppen griffen sogleich in das Feuergefecht bei der
Militärschule ein und entschieden es nach kurzer Zeit, so dass die
154
Chinesen gegen das Ost- Arsenal flohen, gerade noch rechtzeitig,
um dem Abgeschnittenwerden durch die Russen und Deutschen
zu entgehen ; die beiden letzteren Colonnen hatten, längs der Bahn
vorrückend, vom Ost- Arsenal her Feuer bekommen und daraufhin
eine Schwenkung gegen selbes gemacht, doch waren sie noch zu
schwach, um einen entscheidenden Angriff auf das Arsenal selbst
durchführen zu können.
Ein nachmittags von 1200 Mann Russen und Engländern der
bisherigen Garnison unternommener Angriff auf das Ost- Arsenal w urde
mit Verlust von 30 Todten und 40 Verwundeten abgewiesen.
Die Russen unter General Stessel und das aus Tsingtau her-
beigerufene Halbbataillon deutscher Seesoldaten unter Major Christ
hatten in den Gefechten dieses Tages beträchtliche Verluste er-
litten und bedurften, nachdem sie sich in zwei Tagen den Weg
von Tongku herauf erkämpft hatten, einiger Ruhe ; beide Nationen
zusammen bezogen ein Lager hinter der Militärschule, so dass
endlich die Belästigungen von dieser Seite her aufhörten.
Durch die eingetroffenen Verstärkungen war am 23. Juni
abends der Stand der Besatzung auf beiläufig 4500 Mann (eng-
lische Angabe) gebracht worden; im Rücken der Entsatz-Colonne
besserten russische Eisenbahntruppen die Bahn aus, so dass die
wStrecke von Tongku bis auf zehn englische Meilen von Tientsin bald
wieder benutzbar wurde. Der Endpunkt — Railway-head — erhielt
eine 300 Mann starke, aus mehreren Nationen gemischte Besatzung.
Nachmittags des 23. waren 150 Kosaken zur Recognoscirung
nach Norden aUvSgeritten ; sie berichteten, die Truppen Seymour's
kämpften bei Hsiku gegen Chinesen. Am 24. Juni brachte ein
chinesischer Läufer die Bestätigung dieser Meldung und am Nach-
mittag war von Hsiku her Geschützfeuer vernehmbar, das, wie wir
bereits wissen, die in Hsiku EingeschlOvSsenen auf ihre Nachbar-
schaft eröffnet hatten.
Eine am 24. Juni neuerdings vorgetriebene Kosaken-Patrouille
brachte Details über die Stellung der Chinesen um Hsiku; um
Mitternacht brach dann die Entsatz-Colonne auf, von deren erfolg-
reichem Eingreifen schon an früherer Stelle die Rede war.
Am 25. vormittags eröffnete eine russische, ausserhalb des Bahn-
hofesaufgefahrene Batterie ihr Feuer gegen das schwarze Fort, welches
sogleich lebhaft erwiderte ; ohne bedeutenderen Erfolg für eine der
beiden Parteien verstummte auf dieser Seite das Feuer gegen Mittag.
Schon frühmorgens hatten zwei englische, auf dem südwestlichen
Walle postirte Geschütze, verstärkt durch eine Abtheilung Sickhs,
zuerst die Spinnerei von Boxern gesäubert, dann aber das Born-
155
bardement des Haikwantsu-Arsenals mit glücklichem Erfolge auf-
genommen, so dass dieses Etablissement nachmittags unter wieder-
holten Explosionen der dort aufgestapelten Munitionsvorräthe
ausbrannte.
Im Laufe des Tages war zu Wasser ein Zwölfpfünder des
englischen Kreuzers »Terrible«, der schon vor Ladysmith Dienste
gethan hatte, eingetroffen, sogleich auf dem französischen Bund
postirt und probeweise gegen das Fort in Action gebracht worden,
welches mit der Antwort nicht zögerte.
Am 26. Juni vormittags rückten, wie erinnerlich, die Colonne
Vice-Admirals Seymour und die zu ihrer Befreiung aufgebrochenen
Truppen von Hsiku ein, am Abend, aus Tongku kommend, eine
anglo-indische Feldbatterie von vier Schnellfeuerkanonen ; tagsüber
blieben die Chinesen unthätig.
Nun hatte die Besatzung von Tientsin endlich die noth-
wendige Stärke erreicht, um an die Ausführung des lange ge-
hegten Planes schreiten zu können, sich des grossen Ost-Arsenals
zu bemächtigen.
Der russische General Stessel übernahm die Leitung der
ganzen Action und Hess hiezu noch am 20. Juni östlich der Militär-
schule eine Batterie in Position bringen, die sich bereits abends
auf das Ost- Arsenal einschoss ; von letzterem aus kam keine Er-
widerung, ein sicheres Zeichen, dass die Chinesen dort vorderhand
keine Geschütze in Thätigkeit setzen konnten.
Am 27. Juni, 8 Uhr früh, begann die russische Batterie das
Bombardement, gleichzeitig rückten 1200 Russen, in lange Schützen-
linien aufgelöst, von Nordwest her gegen das Ost-Arsenal, aus dem
ein lebhaftes Gewehrfeuer die Angreifer empfing ; die chinesischen
Forts auf dem rechten Ufer suchten zwar die Vorrückung, die
über ein etwa drei Kilometer breites, freies Feld ging, durch
Shrapnelfeuer zu verhindern, erzielten jedoch bei der ansehnlichen
Distanz — 5000—6000 Meter — keinen Erfolg. Um 10 Uhr vor-
mittags griffen 400 Deutsche aus Südwest und 500 Engländer aus
West zur Unterstützung ein ; die auf 800 Mann geschätzte Arsenals-
besatzung hatte hinter dem Strassendamm, der sich an der West-
front des Arsenals durch nur etwa 70 Meter sumpfiges Land und
einen Wassergraben von dessen fester Umwallung getrennt hin-
zieht, eine vorzügliche Stellung eingenommen. In dieser Position
konnten ihr die russischen Geschütze, deren Schüsse hauptsäch-
lich den weiter hinten liegenden Objecten galten, nicht viel an-
haben; ihre rechte Flanke und die Nordwestfront des Arsenals
waren durch Drahthindernisse sturmfrei.
156
Auf ungefähr 800 Meter von der chinesischen Linie an-
gelangt, hielten die angreifenden Truppen und eröffneten ein
• lebhaftes concentrisches Feuer gegen die skizzirte Stellung der
Chinesen, welche sich nach beiläufig drei Viertelstunden ins Arsenal
selbst zurückzogen und von der Umwallung aus wieder das Feuer
aufnahmen. Die nachrückenden AUiirten bemächtigten sich der
verlassenen ersten Stellung ihrer Gegner und setzten von dort
aus das Infanteriegefecht mit allem Nachdruck fort, bis um Mittag
das grosse Pulvermagazin, von russischen Granaten getroffen,
aufflog und die Verbündeten zum Sturme übergingen, dem die
Chinesen nicht mehr Stand hielten.
Das ausgedehnte Object wurde sogleich besetzt, die fliehenden
Chinesen mit Gewehr- und Geschützfeuer verfolgt; an einigen
Stellen waren Brände entstanden, glücklicherweise aber erst so
weit vorgeschritten, dass sie bald bewältigt und eine Garnison
von 2V« Compagnien Russen mit Sicherheit zurückgelassen werden
konnte.
Der Besitz dieses wegen seiner Lage und der Vorräthe an
Kriegsmaterial wichtigen Punktes hatte den Verbündeten relativ
kleine Opfer — im Ganzen 17 Todte und 50 Verwundete — den
Chinesen hingegen an 500 Mann gekostet.
Von nun an kamen fast täglich grössere und kleinere Con-
tingente der einzelnen Nationen, so dass es ungemein schwierig
ist, den Stand der Truppen in Tientsin zu bestimmten Augen-
blicken mit einiger Genauigkeit anzugeben; das deutsche Halb-
bataillon kehrte, wie schon in einem früheren Capitel erwähnt,
nach Tsingtau zurück.
Auffälliger weise unterliessen es die Chinesen, die neue Be-
satzung des Arsenals zu molestiren, was durch eine Beschiessung
vom schwarzen Fort aus ganz gut möglich gewesen wäre ; den
ganzen Nachmittag, sowie die zwei folgenden Tage, 28. und 29. Juni,
herrschte vollkommene Ruhe, so dass die in die Town-Hall ge-
flüchteten Nichtcombattanten sich theilweise wieder in ihre Wohn-
stätten zurückbegaben, die vom Bombardement allerdings arg genug
mitgenommen waren. Ja man dachte sogar schon daran, dass die
Chinesen, durch ihre Misserfolge entmuthigt, die Belagerung auf-
geben und sich gegen Peking zurückziehen würden.
Die anscheinende Unthätigkeit der Chinesen erklärte sich bald
jedoch als etwas ganz Anderes ; im Nordosten der Stadt und im Fluss-
knie hatten sie nicht nur die von einzelnen Punkten vertriebenen
Abtheilungen in zusammenhängende Lager gesammelt und diese
letzteren mit passageren Anlagen befestigt, sondern auch hinter
157
dem Bahndamme eine neue, gut geschützte Stellung für Feld-
batterien eingerichtet. Wie später an den Monturen der gefallenen
Geschützbemannungen erkannt worden, war diese Stellung von
Artillerie des Generals Tung-Fuhsiang — also von Peking ge-
kommener — besetzt. In den letzten Tagen des Juni scheinen
Truppen, die von der zurückmarschirenden Seymour- Expedition
seitlich abgedrängt worden, sich in Tientsin concentrirt zu haben.
Schon am 30. Juni erfuhr die allzu sanguinische Hoffnung,
dass für die Fremden in Tientsin die Zeiten der Beunruhigung
vorüber seien, eine gründliche Enttäuschung, indem zunächst aus
der Chinesenstadt das russische Lager und dann die Settlements
mit Gevvehrfeuer überschüttet wurden.
In Folge dessen verliessen Frauen, Kinder und nicht kampf-
fähige Männer der Fremdengemeinde Tientsin, dessen noch er-
haltene Theile von nun an ganz den Charakter von Militärlagern
annahmen.
Ein am 1. Juli frühmorgens von den Russen unternommener
Vorstoss brachte zwar den nächstgelegenen Theil der Chinesen-
stadt am linken Ufer in ihre Hände, doch gelang es erst in zwei
weiteren Tagen, die wohlverborgenen chinesischen Schützen, w^elche
die Patrouillen ohne Unterlass molestirten, unschädlich zu machen.
Auch im Südwesten begann es wieder unruhig zu werden;
zur definitiven Besetzung des zwar ausgebrannten, als Stützpunkt
hingegen noch immer werthvoUen Haikwantsu-Arsenals glaubte
man sich, besonders wegen der Exponirtheit der Lage dieses Ob-
jectes, noch immer nicht stark genug. So kam es, dass sich darin
bald eine aus regulärem Militär und Boxern bestehende Besatzung
festsetzte und man nun wieder Angriffe von dieser Seite her zu
gewärtigen hatte.
Um gegeif solche geschützt zu sein, wurde eine neue Ver-
theidigungslinie vom Recreation-Ground zur Spinnerei und von
da zum Wall geschaffen, die Engländer und Japaner besetzten,
wobei den Japanern der vorgeschobenste Posten — einige Gruppen
chinesischer Häuser vor der Spinnerei — zufiel. Zwischen Spinnerei
und Wall warfen die Engländer eine Erddeckung auf. die zur Pla-
cirung von vier Schnellfeuerkanonen diente.
Am Abend des 1. Juli gegen 10 Uhr unternahmen die Chi-
nesen von Haikwantsu aus einen Vorstoss, der jedoch durch die
Japaner aufgehalten wurde und wieder mit dem fluchtartigen
Rückzug ins West- Arsenal endete ; fast gleichzeitig war am entgegen-
gesetzten Flügel der ganzen Stellung der Bahnhof ziemlich heftig
angegriffen worden, dessen Besatzung blieb jedoch siegreich.
158
Am 3. Juli vormittags entspann sich ein längeres Duell
zwischen russischen und den neu angelegten chinesischen Bat-
terien hinter dem Bahndamm, dem bald auch wieder eine kurze,
bis 12 V« Uhr dauernde Beschiessung des Erdwalles im Südwesten
folgte; bei ersterem wurde die Lafette eines russischen Geschützes
demontirt.
Nachmittags unternahmen 1000 Mann Japaner und Russen
eine scharfe Recognoscirung gegen die neue chinesische Geschütz-
stellung, die, sehr gut gewählt, für den rechten Flügel ebenso
lästig war, als sie gegen eine Beschiessung aus der Ferne unver-
wundbar schien. Gegen die durch Schützengräben unterstützten
Batterien näher als etwa 1000 Schritt heranzukommen, stellte sich bald
als eine die aufgebotenen Kräfte übersteigende Aufgabe heraus,
und als tagsdarauf der Versuch mit verstärkten Contingenten
und durch Geschützfeuer vorbereitet und unterstützt erneuert
wurde, vereitelte ein das ganze Terrain unter Wasser setzender
Wolkenbruch jede Action.
Am 4. Juli morgens war endlich das »Zenta<-Detachement
nach ITtägigem, ununterbrochenem Dienste auf dem Walle durch
eine Compagnie Japaner abgelöst und einiger, wohlverdienter
Ruhe theilhaftig geworden ; unter den Leuten, welche die Seymour-
Expedition mitgemacht hatten, grassirte Dysenterie, so dass neun
Mann absolut dienstunfähig, manche andere nur in beschränktem
Masse diensttauglich waren. Von Bord aus waren am 29. Juni
5000 Patronen nachgeschoben worden und im Ost-Arsenal fand
man 6000 Mannlicher -Patronen sammt Magazinen, die General
Stessel bereitwilligst überliess, so dass das Detachement mit
Munition wieder gut versehen war.
Von diesem Tage an wurden in Gemässheit eines Beschlusses
der commandirenden Officiere die sämmtlichen Marine - Truppen
aller Nationen nur mehr als Reserven für grössere Unternehmungen
und zum inneren wSicherungsdienst verwendet, nachdem nun ge-
nügend frische Feldtruppen zur Verfügung standen.
Während die Russen und Japaner am rechten Flügel die
chinesischen Feldbatterien beschäftigten, errichteten die Engländer
auf dem Erdwall ebenfalls eine starke Geschützstellung, die sie
mit je zwei Stück zwölf- und neunpfündigen vSchnelladern und
älteren Geschützen armirten ; schon am 3. Juli hatten sie durch die
damals installirten Geschütze eine von Haikwantsu südlich mar-
schirende chinesische Abtheilung zersprengt.
Am 4. Juli nachmittags, nachdem der wolkenbruchartige
Regen aufgehört, bombardirten die eben erwähnten englischen und
die russischen Geschütze am rechten UtVr die City und das
schwarze Fori; es gelang, die als Beobachtungsstation wichtige
Pagode in der Milte des letzteren zu zerstören. Die Chinesen er-
widerten zwar lebhaft, stellten aber, nachdem eines ihrer Geschütze
demontirt war, das Feuer ein.
Als die englische Batterie am folgenden Morgen das
Bombardement gegen das Fort erneuerte, schienen die chine-
sischen Geschütze noch nicht bereit, so dass die Engländer nach
einer Stunde das Feuer einstellten. Zur Erklärung muss hier bei-
gefügt werden, dass um die Munition nicht durch eine relativ un-
nütze Bii.schiessung des Mauerwerkes zu vergeuden, getrachtet
»'urile. die chinesischen Geschütze selbst unter Feuer zu nehmen.
tlsTMi Stellungen aber nur, während sie feuerten, mit genügender
Genauigkeit ausgenommen werden konnten; die verfügbaren
Geschütze waren eben zu leichten Calibers, um das massive Mauer-
werk so weit zu beschädigen, dass es unhaltbar geworden wäre.
Schwere Belagerungsgeschütze konnten nicht beschafft werden,
doch waren zwei englische vierzÖUige Schnclllader, zwei russische
und ein deutsches 12 Centimeter Geschütz schon unterwegs,
«wi deren Eingreifen man sich viel versprach, namentlich
erwarteten die Engländer von ihren Lyddit-Granaten günstige
Roiultatc.
160
Am Nachmittag wurde wieder das Artillerie-Duell auf dem
rechten Flügel ohne entscheidende Erfolge für beide Parteien
aufgenommen und durch einige Stunden unterhalten.
Am 6. Juli begannen die Chinesen zu ungewöhnlich früher
Stunde die Stadt von Nordost her zu bombardiren ; später fielen auch
drei Geschütze des Forts mit ihrem Feuer ein. In nächster Nähe
des von dem österreichisch - ungarischen Detachement besetzten
Hauses zündete eine in einen Wollspeicher einschlagende Granate,
doch gelang es den Leuten der »Zenta«, den Brand trotz des auf
das Gebäude gerichteten lebhaften Feuers der Chinesen zu
localisiren.
Das Bombardement wurde von sämmtlichen Geschützen der
Fremden erwidert und hörte erst gegen 2V« Uhr nachmittags auf.
Die Geschütze auf dem südwestlichen Wall schienen den
Chinesen sehr unbequem geworden zu sein. Am 7. Juli eröffneten
sie aus einer auf halbem Wege zwischen City und West- Arsenal
nachtsüber errichteten Geschützstellung und aus dem West- Arsenal
ganz unerwartet das Feuer gegen die englischen Geschütze und
die Stadt, das erst gegen IV« Uhr nachmittags zum Schweigen
gebracht wurde; während die Engländer die erstgenannten chine-
sischen Geschütze unter Feuer nahmen, bombardirten die Japaner
aus einer bei der Spinnerei aufgefahrenen Batterie das West-
Arsenal. Gleichzeitig entsendeten letztere eine Escadron ausserhalb
des Walles, um den Chinesen, falls sie das West- Arsenal räumen
sollten, den Rückzug abzuschneiden ; die japanische Cavallerie
stiess etwa einen Kilometer vom Arsenal auf eine 200 Mann
starke, in einem Weiler festgesetzte Boxerbande, erhielt Feuer,
attaquirte sogleich und zerstreute die Boxer, von denen ungefähr
die Hälfte auf dem Platze blieb.
Von Nord und Nordost her wurde die Stadt am 7. Juli nur
gegen Abend kurze Zeit mit Geschützen beschossen. Am 8. Juli
brachten die Engländer ihre zwei Lyddit-Geschütze sowie einige
andere eben angekommene Zwölfpfünder in Stellung; auch die
Russen waren mit der Henstellung von Ständen für ihre zwei
12 Centimeter beschäftigt; das eine Lyddit-Geschütz wurde in
der Nähe des Ost - Arsenals, das zweite auf dem Südwestwall
placirt. Deshalb fand das am Morgen zwei Stunden und nachmittags
eine Stunde währende Bombardement nur relativ schwache Er-
widerung; während des Bombardements schlug eine Granate in
das Haus Osborne ein, in welchem nun auch englische Truppen
bequartiert waren, tödtete einen Engländer und verwundete
deren zwei.
161
Vom Wall aus war beobachtet worden, dass chinesische Truppen
sich in den etwa zwei Kilometer entfernten Detring'schen Villen
festgesetzt hatten ; es war somit ersichtlich, dass die Chinesen das
durch den Fall des Ost- Arsenals Verlorene durch eine Verstärkung
ihrer Position auf dem südwestlichen und südlichen Theil des
Kampffeldes einholen wollten, von wo aus sie auch wieder die
Communication mit Tongku zu bedrohen vermochten. Der japanische
Brigade-General Fukuschima, der erst zwei Tage vorher mit einer
kleinen Staffel Truppen eingetroffen war, unternahm daher am
9. Juli bei Tagesanbruch mit seinen eigenen Truppen, Amerikanern,
Engländern und Russen — im Ganzen an 2500 Mann — den An-
griff zuerst gegen die Detring'schen Villen und dann das Hai-
kw^antsu- Arsenal.
Engländer und ein Theil der Japaner sollten von der Nord-,
der Rest der Colonne von der Südseite her vorrücken. Die Süd-
Colonne führte eine japanische, die Nord-Colonne eine englische
Feldbatterie mit, während eine weitere japanische beim Race-course-
Thor auffuhr und im Verein mit den englischen Geschützen auf
dem Wall die Action vorbereitete.
Die Chinesen hatten sich ungefähr 2000 Mann stark in den
Gebäuden und im vorliegenden Garten gut verschanzt und im
letzteren auch eine Batterie aufgefahren; diese wurde jedoch
durch das concentrische Geschützfeuer der Angreifer bald über-
wältigt.
Die Chinesen suchten zwar aus den Forts im Nordosten
der Settlements die Angreifer am Vorgehen zu verhindern, doch
schwiegen ihre Geschütze alsbald, nachdem die Batterie auf dem
Wall ihr Feuer gegen sie kehrte. Während der Vorrückung er-
widerten die Truppen das lebhafte Gewehrfeuer der Chinesen erst
auf kurze Distanz, jedoch mit so gutem Erfolg, dass die Chinesen
ihre Stellung in eiliger Flucht gegen Westen räumten, als um
6 Uhr der Sturm angesetzt werden sollte. Im Inneren angelangt,
fanden die Stürmenden nur mehr einige 30 verspätete Chinesen,
die niedergemacht wurden. Unter den an dieser Stelle gefundenen
Todten wurde auch General Nieh erkannt ; schwer verwundet hatte
er den Tod durch Gift, das jeder hohe chinesische Würdenträger
stets bei sich trägt, der Gefangennahme vorgezogen.
Seine Anwesenheit auf jenem Punkte beweist die Wichtigkeit,
welche man chinesischerseits der Position beimass; mit ihm haben
die Chinesen jedenfalls einen ihrer fähigsten Führer verloren, der
auch als lauterer Charakter von allen Europäern in Tientsin hoch-
geschätzt worden ist.
Winterhaider: Kämpfe in China. H
162
Nach kurzer Rast brachen die Verbündeten, eine japanische
Besatzung zurücklassend, gegen das West- Arsenal auf; von diesem
aus war die Nord-Colonne beschossen worden, doch räumten die
Chinesen es noch während der Vorrückung und zogen sich in die
City zurück.
Um 11 Uhr vormittags waren die beiden Positionen in den
Händen der Alliirten,:die darin einige Krupp'sche Feldgeschütze
erbeuteten; ihre Verluste betrugen 7 Todte und 30 Verwundete,
jene der Chinesen circa 350 Mann.
Das Haikwantsu-Arsenal wurde auch an diesem Tage noch
nicht dauernd besetzt, da es wegen seiner grossen Ausdehnung
und der Nähe an der City zu viel Truppen immobilisirt hätte ; man
begnügte sich daher, nochmals daran Feuer zu legen.
Um lOVi Uhr vormittags begann wieder ein zweistündiges
Bombardement der Stadt aus den im Norden und Nordosten be-
findlichen chinesischen Batterien ; eine Grjinate schlug gegen Mittag
in die kleine Küche des österreichisch - ungarischen Detachements
und crepirte, doch blieben zwei eben mit dem Abkochen be-
schäftigte Matrosen wunderbarerweise unverletzt.
Am 9. Juli übernahm der russische Vice-Admiral Alexeieff
das Ober-Commando in Tientsin.
Die Ereignisse der letzten Tage hatten die Nothwendig-
keit eines einheitlichen Ober - Commandos klar dargethan ; nun
waren die Fremden schon über 10.000 Mann stark, aber auch
die chinesischen Truppen hatten frische Zuzüge erhalten, so dass
sie gewiss über 20.000 Mann verfügten. Ihre numerische Ueber-
macht erhielt aber durch die guten und festen Stellungen noch
eine grössere Bedeutung und man durfte nicht länger zögern,
diese letzteren anzugreifen, um endlich in den unbestreitbaren
Besitz der Stadt zu gelangen und dadurch den täglichen, sich
summirenden kleinen Verlusten ein Ende zu machen; gerade die
Ungunst des Zahlenverhältnisses zwischen Alliirten und Chinesen
erheischte aber eine umso sorgfältigere Disponirung der auö acht
Nationen bestehenden Truppen.
Die von den Tientsiner Kaufleuten lange Zeit geltend gemachten
Bedenken, dass ein Bombardement der City mit ihren reichen
Waarenvorräthen nicht nur den Chinesen enormen vSchaden bringen,
sondern auch die commerziellen Interessen der Fremden aufs Be-
denklichste treffen würde, mussten natürlich ^anz bei Seite gesetzt
werden; ein Gesichtspunkt, hinsichtlich dessen Vice-Admiral Sey-
mour nicht mit der absolut nöthigen Energie aufgetreten und dem-
zufolge in Differenz mit dem russischen Vice-Admiral gerathen
163
war, welch letzterer sich diesfalls mit Recht von militärischen
Motiven allein leiten liess.
Am 10. Juli herrschte so ziemlich Ruhe, nur die Engländer
erhielten während der Arbeiten auf dem Walle, um ihr Lyddit-
Geschütz gegen die City in Position zu bringen, ab und zu Feuer.
Nachmittags rückten 700 Amerikaner unter Oberst Liscombe auf
dem Flussweg ein; die letzten acht Meilen hatte der Oberst
marschirend zurücklegen lassen, um die Gegend zu recognosciren
und wenn nöthig von versprengten Chinesen zu säubern. Gegen
Abend schlugen die Russen bei der Militärschule eine Brücke aus
Sampangs und Balken über den Peiho und räumten sie wieder,
nachdem die Erprobung nicht zur Zufriedenheit ausgefallen war.
Für den 11. Juli war eine Beschiessung und der Angriff der
City von Südwesten und Osten her geplant und deshalb auch schon
spät abends am 10. eine japanisch-amerikanisch-englische Colonne
nächst dem Haikwantsu- Arsenal bereitgestellt worden; ganz un-
erwartet griffen die Chinesen aber, welche im Laufe der Nacht
entlang des Bahndammes vorgerückt waren, am Morgen des 11.
den Bahnhof mit überlegenen Kräften an, so dass dessen aus
Franzosen, Japanern und Engländern bestehende Besatzung einen
dreistündigen harten Kampf zu bestehen hatte. Dabei mussten die
Chinesen, die sich schon in einigen Waggons festgesetzt hatten
mit der blanken Waffe delogirt werden. Schliesslich gelang es,
nachdem Verstärkungen herangezogen worden waren, doch, die
Chinesen mit einem Verluste von 700 Mann zu vertreiben, während
die AUiirten gegen 150 Todte und Verwundete hatten ; die grösste
VerlustzifFer entfiel auf das japanische und das französische
Contingent.
Der geplante allgemeine Angriff unterblieb somit; eine von
General Fukuschima gegen das wSüdwestthor der City geführte
Colonne Japaner, Amerikaner und Engländer stiess auf so starken
Widerstand, dass sie sich, obwohl schon auf 500 — 600 Meter gegen
die City herangekommen, wieder zurückziehen musste.
Der 12. Juli wurde den Vorbereitungen für den combinirten
Angriff auf die City gewidmet, der am kommenden Tag mit Ein-
setzung aller Kräfte erneuert unternommen werden sollte; der
Aufschub erfolgte hauptsächlich, um den russischen Pionnieren Zeit
zur Zusammenstellung ihrer Brückenequipagen zu lassen, die zum
Angriffe auf den linken Flügel der Chinesen, d. i. zur Ueber-
schreitung des Lutai-Canales unbedingt gebraucht wurden.
Der Angriff sollte von zwei Seiten, d. i. im Nordosten durch
3000 Russen und 200 Deutsche, von Süden und Südwesten her
11*
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vorzugehen und am linken Flügel der Japaner anzuschliessen ;
die Japaner hätten bereits die Mauern erstiegen, fügte General
Dorward bei. Das österreichisch-ungarische Detachement rückte
daher im Laufschritt über die Brücke des Erdwalles und die
Strasse vor und erreichte inmitten eines wahren Hagels von Ge-
schossen, circa 1 ^U Kilometer der offenen Zone durchmessend, ein
Häuschen, in dessen Deckung vier Mann mit der Reservemunition
zurückgelassen wurden; schon während dieses Sprunges war sich
LinienschifFs-Lieutenant Indrak darüber klar geworden, dass die
Mittheilung General Dorward's bezüglich der Japaner auf einem
Missverständnisse beruhen müsse, doch drängte es ihn umsomehr,
möglichst rasch in die zugewiesene Position zu gelangen, als
dadurch die österreichisch-ungarischen Matrosen die erste euro-
päische Truppe in der vorgeschobensten Linie würden. Mit einem
zweiten Sprunge wurde der Anschluss an die Japaner erreicht
und, die Reste zerschossener Häuser ausnützend, die Schützenlinie
formirt; man befand sich unter einem verheerenden Kreuzfeuer,
denn die Chinesen waren aus den Häusergruppen rechts der City
noch nicht vertrieben worden und flankirten von dort, wo sie in
einer verlassenen grossen Dampfmühle eine befestigte Stellung
inne hatten, die Angreifer.
Das Feuer gegen die chinesischen Schützen in der halben
Mauerhöhe wurde nur langsam unterhalten, um sich nicht zu ver-
schiessen; Aufgabe der Geschütze war es, die City durch Bre-
schirung der Mauer sturmreif zu machen, was aber trotz Lyddit-
Granaten bisher noch nicht gelungen war.
Als nächste Truppen rückten links vom Detachement Indrak
Engländer und rechts desselben, die Japaner weiter nach Osten
drängend, Franzosen in die erste Linie; die Amerikaner nahmen
rechts der Japaner, ein Theil auch links der Engländer Stellung.
Die Engländer hatten während der Vorrückung zahlreiche Ver
luste erlitten, von den Matrosen der Zenta war bisher wunder-
barerweise noch Niemand auch nur leicht verwundet worden.
Während sich nun die Feuerlinie der Angreifer immer mehr
verdichtete, jedoch mangels einer sichtbaren Wirkung des Ge-
schützfeuers nicht weiter als 300 — 400 Meter von der Mauer vor-
geschoben werden konnte und somit in einem mörderischen Feuer
fast schutzlos ausharren musste, griff um 9 Uhr vormittags eine
etwa IVi Kilometer westlich der City aufgestellte chinesische
Batterie die amerikanischen und japanischen Geschütze beim
West- Arsenal an, musste sich jedoch bald vor deren überlegenem
Feuer zurückziehen.
Ein anderer Versuch der Chinesen, die linke Flanke der
AUiirten durch einen Angriff von Infanterie und Cavallerie, zu-
I etwa 1500 Mann, zu erschüttern, scheiterte an dem Wider-
stände der Reserve der Colonne Dorward, welche hiezu noch
zwei Maxim-Kanonen als Verstärkung erhielt.
Nachdem es bisher nicht gelingen wollte, die Mauer der
City so weit in Bresche zu legen, um ohne Escaladirgerathe
168
einen Sturm zu versuchen, wurde um 10 Uhr vormittags
die ganze Feuerkraft sämmtlicher disponibler Geschütze ein-
gesetzt; die Schussfrequenz betrug während einer halben Stunde
25 — 30 Schuss pro Minute. Aeusserlich war jedoch kein
anderer Erfolg wahrnehmbar, als dass das Gewehrfeuer aus der
City etwas nachliess, hingegen umso lebhafter aus den chinesi-
schen Häusern nächst dem französischen Settlement wurde. Eine
Bresche war zwar rechts vom Stadtthor entstanden, doch noch
zu unbedeutend, um dort den Sturm zu versuchen, hingegen
sollen die chinesischen Truppen innerhalb der Mauern während
dieser halben Stunde der Entwicklung der grössten Feuerkraft
enorme Verluste durch die Shrapnels der AUiirten gehabt haben,
immerhin aber setzten sie den Widerstand noch so hartnäckig
fort, dass die AUiirten keinen Fuss Terrain nach vorwärts ge-
wannen.
Das Detachement Indrak wurde namentlich durch die Schüsse
aus der chinesischen Stellung rechts vorne stark belästigt und
hatte während dieser Phase des Kampfes vier, darunter einen
Schwerverwundeten ; die längste Zeit hindurch war aber das Feuer
so intensiv, dass ein Wegschaffen der Verwundeten erst nach
Stunden stattfinden konnte.
Die Chinesen hielten mit staunenswerther Zähigkeit aus,
selbst nachdem der nordöstliche Theil der City durch Geschütz-
feuer in Brand*) gerathen war ; der Vor- und Nachmittag vergingen,
ohne dass die japanischen Sappeur-Abtheilungen im Stande ge-
wesen wären, sich bis zum Thore vorzuarbeiten, um es zu sprengen,
denn jedesmal, wenn sich irgend Jemand aus den aufgeworfenen
Deckungen erhob, steigerten die Chinesen ihre Schussabgabe bis
zum Schnellfeuer, in das noch kleincalibrige Schnellfeuerkanonen
einstimmten.
Nachmittags fielen anscheinend aus einer Stellung hinter der
Westseite der City wieder Granatschüsse gegen die Angreifer,
gingen jedoch glücklicherweise sämmtlich zu hoch und schlugen
ins Feld zwischen den angreifenden Truppen und ihren weiter
rückwärts befindlichen Batterien ein.
Nach 1 Uhr nachmittags hatte General Dorward wieder die
Nachricht erhalten, dass die Japaner bereits in die Stadt ein-
gedrungen wären, die sich aber nur zu bald als irrig heraus-
stellte. Das Bombardement durch die AUiirten wurde unter solchen
Umständen fortgesetzt, hingegen stellten die vorne befindlichen
Fusstruppen an den meisten Punkten das nutzlose Feuer gegen
*) Angeblich Hauptverdienst der englischen Lyddit-Granaten.
169
die allzu gxit befestig^te Stellung der Chinesen ein, die sich auch
gegen die Feldgeschütze zu stark erwiesen hatte.
Gegen Abend meldete die am äussersten linken Flügel auf-
klärende japanische Cavallerie, dass sich in grosserer Entfernung
neuerdings compactere chinesische Truppenmassen zeigten, die
allerdings vorerst eine zuwartende Haltung beobachteten; die
Deckung gegen einen neuerlichen Flankenangriff übernahmen
über Ersuchen des japanischen Generals die Engländer.
Inzwischen hatte man sich darein finden müssen, in der
kommenden Nacht nur die seit dem Morgen eingenommene Stellung
unter den Mauern der City besetzt zu halten und die Erneuerung
des Angriffes auf Tagesanbruch zu verschieben; die japanischen
Sappeure sollten unter dem Schutze der Dunkelheit Alles vor-
bereiten, um beim ersten Frühlicht das Südthor zu sprengen.
Nach Sonnenuntergang erst konnten die Nationen, welche
über Reserven verfügten, solche zur Ablösung wenigstens eines
Theiles der Leute vorschieben, und erst um diese Zeit war es mög-
lich, die schwerer Verwundeten wegzutransportiren und Trink-
wasser an die ganz erschöpften Truppen zu vertheilen.
Das österreichisch-ungarische Detachement, welches inzwischen
noch einen Verwundeten verloren, wurde um 10 Uhr nachts vom
General Dorward zurückberufen und rückte um 11 Vi Uhr in seiner
Kaserne ein; seit 4 Uhr morgens — also volle 18 Stunden im
Feuer, hatte es einen der gefahrlichsten Punkte besetzt gehalten,
ohne die Labung eines erfrischenden Trunkes, ohne ^Schutz vor
^er glühenden Sonne im freien Felde! Trotzdem war die morali-
sche Verfassung der kleinen Truppe die denkbar beste und Hess
sie die gewaltige physische Anstrengung leicht ertragen.
Als einer Episode, die für das richtige Denken und die
Kühnheit des Betreffenden einen glänzenden Beweis liefert, sei
^ier der Handlung des Matrosen 1. Cl. Ursid Erwähnung gethan.
Mit der Reservemunition zurückgelassen, kam er in die Lage,
Linienschiffs-Lieutenant Indrak eine nach seiner Ansicht wichtige
Meldung zu überbringen und einen Befehl einzuholen, ob er an
^^m ihm bestimmten Platze zu bleiben habe oder nicht; ohne
Fudern durchlief er die 200 Meter freien Feldes bis zur Feuer-
Knie und kehrte dann ebenso ungesäumt zurück — Alles zu einer
Z^it, wo die Chinesen gerade ihr heftigstes Schnellfeuer abgaben,
^ dass die nächsten Truppen, darunter auch die Japaner, ihm
lauten Beifall zuriefen.
General Dorward dankte dem österreichisch -ungarischen De-
tachement - Commandanten noch am Abend mündlich für die
170
bravouröse Theilnahme an den Kämpfen des Tages und richtete
später ein für ihn und seine Leute äusserst schmeichelhaftes An-
erkennungsschreiben an LinienschifiFs-Lieutenant Indrak.
Das chinesische Feuer verstummte während der Nacht fast
gänzlich.
Auf dem rechten Flügel hatten Russen und Deutsche nach
schwerem Kampfe zuerst die chinesische Batterie und dann das
erste, am weitesten gegen Nordost gelegene befestigte Lager er-
stürmt, dabei gleich zu Beginn der Action durch Geschützfeuer
ein Pulver- und ein Dynamit-Depot*) am Lutai-Canal zur Explosion
gebracht, deren überaus mächtige Detonation auch auf dem linken
Flügel mit Beifall begrüsst worden war; den Angriff auf die
übrigen, mehr im Norden der Stadt angelegten Lager mussten
auch sie der vorgeschrittenen Tageszeit halber auf den 14. Juli
verschieben.
Um 3 Vi Uhr morgens des 14. Juli sprengten die Japaner**)
das Südthor der City und drangen, gefolgt von den Franzosen,
Engländern und Amerikanern in die Stadt ein, wo sich nur mehr
diejenigen Reste der chinesischen Garnison verzweifelt zur Wehre
setzten, die sich bei der Plünderung verspätet hatten ; der Strassen-
kampf, in dem auch viele chinesische Nichtcombattanten den Tod
fanden, hörte erst um 8 Uhr vormittags auf.
Lizwischen hatten die Russen und Deutschen die Lager
ebenfalls verlassen gefunden und davon Besitz ergriffen, wobei
ihnen eine Menge Geschütze und Gewehre sammt Munition in
die Hände fielen.
Die Chinesen hatten in der Nacht, die Erfolglosigkeit
weiteren Widerstandes einsehend, den Rückzug gegen Norden
so früh angetreten, dass nur mehr ihre Nachhut kurze Zeit
verfolgt werden konnte.
Tientsin war somit endlich, nach 26tägiger Belagerung und
Beschiessung gänzlich im Besitze der Alliirten ; die Einnahme der
City und der Militärlager hatte den letzteren schwere Opfer,
darunter auch den amerikanischen Oberst Liscombe, gekostet,
wie aus der folgenden Zusammenstellung zu ersehen:
* ■ ■ —
♦) Diese Explosion wurde auch in Taku gehört. Deutsche und Russen befanden
sich im Augenblick auf circa 600 Meter von der Explosionsstelle; die Leute wurden durch
den immensen Luftdruck zu Boden geschleudert, einige auf kurze Zeit bewusstlos ge-
macht. Der Eindruck war so überwältigend, dass das Feuer beiderseits einige Minuten
schwieg.
**) Man erzählt, dass ein japanischer Sappeurofficier, verzweifelt über das Ver-
sagen der elektrischen Zündung, mit Aufopferung seines Lebens eigenhändig die erste
Mine entzündete.
^^^H Slirke der Angreifer Toiilc udü Vcrwucdctc
^"^ Amerikaner .... lliOO ^94 Mann i
Deutsche 2(MJ V6 • I
Engländer 800 löü . I
Franzosen 1200 2U0 ■ 1
Japaner 3000 350 - 1
Oesterrei eher- Ungarn .45 ö ■
Russen 3000 20Ö »
9845 1220 Mann oder 12-3 %
Die Verluste der Chinesen können nur sehr annäherungs-
weise angegeben werden, doch schätzt man sie, gestützt auf Aus-
sagen ihrer eigenen Landsleute, auf 7000 Mann Militär allein; die
Unmenge von in der City allein vorgefundenen Leichen lasst
diese Anzahl als nicht übertrieben erkennen, zu welcher noch
ungefähr 3000 während des Bombardements und Strassenkampfes
getödtele Einwohner gerechnet werden müssen.
Die Gesammt Verluste während der ganzen Belagerung be-
trugen auf Seite der Allürlen ungefähr 1800 — 1900, bei den Chi-
nesen an lO.OOOMann: in letztere Ziffer sind jedoch die Tausende
von Boxern und friedlichen Chinesen, die in gegenseitigem Kampfe
tu Grunde gingen, nicht einbegriffen. Die chinesischen Angaben
über diese Opfer scheinen durchaus übertrieben — sie mögen er-
schreckend zahlreich gewesen sein, haben aber die von einem
chinesischen Fabriksingenieur ausgesprochene Zahl von 80.000
gen-is-s nicht erreicht.
Aus der vorstehenden Schilderung der Kämpfe in und um
Tientsin mag der Leser schon entnommen haben, dass die Aufgabe
der Verbündeten keineswegs eine leichte gewesen : die besten
Truppen TschilLs, wahrscheinlich auch von ganz China, bedrängten
hier ein kleines Häuflein Streiter acht verschiedener Nationen,
noch dazu grossentheils Seeleule, die sich im Krieg zu Lande nur
»uf ihre natürliche Findigkeit und ihr ernstes Pflichtgefühl, aber
nicht auf die grosse Lehrmeiaterin Erfahrung stützen konTiten!
Von dem Aussehen der schwergeprüften .Stadt nach der Ver-
treibung der chinesischen Truppen und der Hauptmenge der Boxer,
deren doch manche noch in Verstecken zurückgeblieben waren,
gibt Linienschiffs- Lieutenant Indrak ein treffendes Bild durch
Wiedergabe seiner Eindrücke bei der Begehung aller Statten, wo
sich Kämpfe abgespielt haben.
»Im deutschen Settlement war eine grosse Zahl der dort be-
findlichen leicht brennbaren Chinesenhäuser beim Bombardement ii
Brand ^schössen worden und total abg'ebrannt. so tlass daselbst nur
mehr die in Stein gebauten. Europaern gehörigen Häuser stehen. Am
wenigsten Schaden hat das englische Settlement genommen, weil es
durch das französische ziemlich geschützt war. Es blieb zwar kein
Haus von Granaten verschont und jedes derselben hat durch.schnittlich
Ewei bis drei Treffer aufzuweisen ; da sie jedoch alle massiv, nach
miropäischer Art gebaut sind, so kam es nur einmal zum Brande
eines Lagerhauses, der aber nach einigen Stunden gelöscht wurde.
Am meisten hat das französische Settlement gelitten, es gleicht
bis auf wenige bewohnbar gebliebene Häuser einem Trümmer-
haufen: zum Theil wurden sie so beschossen, dass sie einstürzten.
Mm Theil von dem in Folge der Beschiessung entstandenen Bränden
Wrstört. Die stärkste Verwüstung zeigt das Haus der Eisenbahn-
dircction am französischen Bund, welches die ganze Zeit von
Ro&sen besetzt gehalten wurde; in dessen Uferfront allein haben
33 Granaten und unzählige Gewehrgeschosse eingeschlagen.
Alle um die Niederlassungen gelegenen Dörfer und Weiler
sind vollkommen abgebrannt. Die ärgste Verheerung ist aber auf
der Eisenbahnstation angerichtet worden. Die Stationsgebäude
Bowie die zahlreichen Waggons sind vollkommen zusammenge-
schossen, alles Uebrige einschliesslich der dort gelagert gewesenen
VTaaren ein Raub der Flammen geworden; gegenwärtig (17. Juli)
dient für die unter russischem Betriebe wieder verkehrenden Züge
das eine englische Meile von der ehemaligen Station befindliche
ru&Hi.sche Lager als Bahnhof.
I
Das grosse, circa zehn Quadratkilomeier Fläche bedeckende
Ost-Arsenal ist relativ gut erhalten; einige Gebäude sind woh!
niedergebrannt, der grösste Theil der Werkstätten und Magazine
ist sammt den Vorräthen an Munition und A usrüa tu ngs- Material
fast ganz unversehrt geblieben.
Von den Militärlagern der Chinesen im Nordosten der Stadt
ist nach der grossen Explosion fast nichts mehr übrig geblieben.
Die City hat durch das Bombardement und die daraus entstandenen
Brände sehr gelitten, hauptsächlich an der Süd- und Nordostseite —
einige Strassen sind buchstäblich mit Leichen gefüllt.
Das Fort in der Chinesenstadt ausserhalb der City hat ver-
bal tnissmäss ig wenig Schaden genommen, nur die Pagode, welche
den Chinesen als Aussichtspunkt gedient, ist vollkommen zusammen-
geschossen. Man fand dort 32 Stück 10 Centimeter Vorderlader,
sechs zwölfpfündige Geschütze Krupp'scher Erzeugung aus den
Jahren 1885 — li^M und eine Batterie von sechs Mörsern. Ausser-
dem haben die Chinesen, nach
lien vorgefundenen ausge-
schossenen Patronenhülsen zu
schliesscn, auch aus zwei
12 Centimeter Schnellade-
Geschützen gefeuert, die sie
aber auf eine allerdings schwer
zu erklärende Weise vor ihrer
Flucht verschwinden gemacht
— vielleicht in den Fluss ver-
senkt — haben.
Im Yamen des Vice-
königs. welches eine Com-
pagnie Russen besetzt hält,
fand man grosse Vorräthe an
Waffen und Munition aller
Art. Ich selbst sah in einem
Zimmer des Palastes einige
offene Kisten, deren Inhalt
zerstreut und zerrissen auf dem
Boden lag; bei näherer Be-
sichtigung erkannte ich zu
meinem grossen Staunen einige deutsche Bücher mit dem Namen
. Gottwald' — ferner einige Briefe, so dass kein Zweifel mehr
erübrigte, dass ich die Reste der von Consular-Secretär Gottwald
I Röckzuge in Yangtsun zurückgelassenen Habe vor mir hatte.
175
So viel ich noch sammeln konnte, Hess ich dem g^enannten Herrn
wieder zustellen.
Das ehemalige grosse Militärlager hinter dem viceköniglichen
Yamen und das noch entferntere Arsenal von Hsiku haben eben-
falls Russen besetzt 'und auch in letzterem, das am 26. Juni nur
unvollständig zerstört worden war, noch reiche Beute gemacht.
Auf Schritt und Tritt stösst man auf Cadaver von Chinesen,
die, um dem Ausbrechen von Epidemien vorzubeugen, rasch be-
seitigt werden müssen und daher verbrannt werden. Man erzählt
mir, das die bei Boxern vorgefundenen Amulete, die ihnen das
Wiedererstehen vom scheinbaren Tode sichern sollten, schon eine
Prolongation des Wundertermines aufweisen — früher wurde ihren
Trägern versprochen, sie würden nach 24 Stunden wieder heil und
gesund in die Reihen der »himmlischen Soldaten* zurückkehren,
die letzten Amulete lauteten : ,In Anbetracht der grossen Ueber-
bürdung der heilenden Geister* auf acht Tage !
Am 14. und 15. Juli war fast kein einziger friedlicher Chinese
zu sehen; jetzt fangen sie an, doch wieder Muth zu fassen und
kehren langsam in die City zurück, der Verkehr ist aber noch
sehr spärlich und von der Aufnahme des früher so regen Handels
vorderhand noch keine Spur.
Die ganze Fremdenstadt ist ein grosses Militärlager und jeder
Hof mit Geschützen, Pferden und Fuhrwerken vollgepfropft; für
uns österreichisch-ungarische Officiere hat Herr Osborne in liebens-
würdigster Weise seine ganze Wohnung zur Verfügung gestellt.«
Linienschiffs-Lieutenant Indrak Hess aus der City, zu deren
endlichem Falle das kleine österreichisch-ungarische Detachement
so wacker auch sein Scherflein beigetragen, zwei Maxim-Norden-
feldt-Mitrailleusen, vier Truppenbanner und eine grössere Anzahl
Gewehre mit Munition, darunter auch einige tausend Mannlicher-
Patronen als Kriegsbeute wegnehmen; in halb verbrannten, zer-
schossenen Häusern vorgefundene Werthgegenstände und Silber-
barren wurden auf seinen Befehl dem englischen LinienschiflFs-Capitän
Bayly übergeben*) — vor dem Vorwurfe der Plünderung stehen
somit die österreichisch - ungarischen Matrosen in Tientsin ebenso
wie auf allen übrigen Kampfplätzen gefeit da.
Eine der ersten Sorgen nach der Einnahme der City bildete
die Wiederschaffung geordneter Zustände ; zu diesem Zwecke wurde
♦) Capitän Bayly übergab im Februar 1901 einen Check auf 100 £ als Anthcil
an Beutegeldern für das ursprüngliche Detachement in Tientsin, die jedoch, da es nach
anseren Gesetzen Beutegelder im Krieg zu Lande nicht gibt, für besondere Anschaffungen
zu Gunsten der Escadre-Mannschaft überhaupt ven\endet wurden.
eine provisorische Regierung für das Gebiet der chinesischen
Stadt Tientsin eingesetzt! 'n welcher alle Nationen vertreten
sollten und an deren Spitze ein aus drei von den commandirenden
Officieren zu wählenden Mitgliedern bestehender »Raih" stand.
Für Oesterreich- Ungarn trat in die
provisorische Regierung der in
Tientsin ansässige Kaufmann Herr
Paul Bauer, k, und k. Artillerie-
Lieutenant in der Reserve,
der sich in dieser Stellung bald
eines durch seine Tüchtigkeit wohl-
verdienten Ansehens erfreute.*)
Die Befugnisse dieser provi'
sorischen Regierung umfasstea
Jurisdiction und Administration in
dem ganzen Gebiete mit Ausschluss
der bereits vor der Belagerung be-
standenen Fremdenniederlassungen
und der militärisch besetzten Ai^
senale, der Eisenbahn und des Tele-
graphen.
Kmw d,-, L^iboiiichci. titi,*>i.ai<.. uiy Hauptaufgaben bildeten
zunächst : Wiederherstellung von
Ordnung und Sicherheit, sanitäre Obsorgen, Erleichterung der
militärischen Operationen durch HerbeischafFung von Lebens- und
Transportmitteln, Aufstellung eines Inventars über das Eigenthum,
der chinesischen Regierung und Privaten an Mobilien und Immo-
bilien, endlich Präventivmassregeln gegen Hungersnoth,
Die ganze Institution trug einen rein localen Charakter, indem
sie die Sphäre der Consularvert reter nur insoferne berührte, als
letztere ihre auf das Stadtgebiet bezüglichen Wünsche dem Rath.
der provisorischen Regierung vorlegen sollten; dem militänschea
Einfluss Hessen, wie es die kriegerische Zeit bedingte, die Zusammen-
setzung und Geschäftsordnung volle Freiheit.
Um das Volk zu beruhigen, erliessen die commandirenden
Officiere am 16. Juli folgende Prociamation:**)
*) Herr Bauer gchöii noch immer der provisutltchen Regietuu^ in hcrrorrHgtiilli
Siel lang an.
■■) Gcukbnet; fOr DeuUchland: Capitän lui See von Usedoin; fUr Ettglaiid!
GcD«ial Ilorwntd, Capilfln Bayly ; für Fmnkreidi : de PcLicoi. utierit ; lür IliUcn
Siriauni, LinJCDschiiTs-Liculenanl ; fiit JapAa; Geucial Kokuschimaifili Ocsiccreich-Diiginil
Unienichiffi-l.icutimiut Tndnb: ßr RuuLind: Vice-Admitd AlexciefT, Gcnenl>U^(
r VneinifEie Staaten: Übcnt Meade.
die Einwohner der Sladt Tientsin! Mit dem Bombarde-
, der Stadt Tientsin haben die aUiirten Mächte blos auf
'fflfe Angriffe der Rebellen auf die Fremdenniederlassungen ge-
antwortet.
Gegenwärtig, nachdem Euere eigenen Behörden pflichU'ergessen
ihre Posten verlassen haben, erachten es die Verbündeten als ihre
Pflicht, in der Stadt von Tientsin eine provisorische Verwaltung
lu errichten, der Ihr Alle gehorchen müsst. Diese Verwaltung wird
Jedermann, der mit Fremden in freundliche Beziehungen zu treten
wünscht, beschützen, aber auch Jeden ohne Gnade und Erbarmen
bestrafen, der Unruhe stiftet.
Lasst die Bösen zittern ! Aber die Gutgesinnten sollten sich
wieder gesichert fühlen und ruhig zu ihren Heimstätten zurück-
1 kehren und ihre gewöhnliche Beschäftigung wieder beginnen. So
wird der Friede wieder hergestellt sein! Beherziget da,s!"
Die militärischen Operationen erfuhren nach der Einnahme der
City einen Stillstand; zwar besagten die durch chinesische Couriere
aus Peking gebrachten Nachrichten nichts Gutes und be-
stärkten nur den allgemeinen Wunsch, so bald als möglich den
dort eingeschlossenen Fremden Hilfe zu bringen, doch reichten
hiezu die Kräfte noch nicht und musste man sich darauf be-
schränken, einstweilen die Vorbereitungen zu treffen und den
lurückgewi ebenen Feind zu beobachten. Krsteres bedingte aber,
vor Allem in Tientsin einige Ordnung herzustellen, uiid damit war
etae Menge Arbeit für die Truppen selbst verbunden; letzteres
besorgten ausgesendete Patrouillen, die bald präcise Nachrichten
brachten. In diesem Zweig militärischer Thätigkeit werden all-
gemein die vorzüglichen Leistungen der Kosaken hervorgehoben,
denen gleichzukommen der japanischen Cavallerie nur ein besseres
Pferderoaterial fehlte.
Durch die Recognoscenten erfuhr man, dass sich die Chinesen
unter den Generalen Mah und Sung bei Peitsang sammelten und
don verschanzten.
Inzwischen kamen fortwährend neue Truppen in Tientsin an,
W da&s die Zahl der Combattanten am 23. Juli schon über 16.000
betrug: die gelandeten Schiffsbemannungen jener Nationen, die
Truppen auf den Kriegsschauplatz entsendeten, kehrten grössten-
thetls an Bord zurück. Bald reichten die vorhandenen Häuser
nicht mehr und mussten grosse Zeltlager aufgeschlagen werden;
'ler Bahnbetrieb konnte naturgeraäss den enormen Anforderungen
nicht genügen, da das rollende Material sowohl hinsichtlich Menge
»Is auch Zustandes — namentlich die Locomotiven — sehr viel zu
178
wünschen übrig liess. Auf dem Peiho entwickelte sich ein äusserst
buntes Leben, requirirte und gemiethete Dschunken verkehrten in
fast ununterbrochener Kette zwischen Tientsin und Tongku — Taku
und die Uferstrecken in diesen Orten reichten kaum hin, um das
Material aufzustapeln.
Gegen Ende Juli unternahmen Japaner und Russen von Hsiku
aus eine scharfe Recognoscirung der chinesischen Stellung bei
Peitsang, doch scheiterte das Unternehmen daran, dass die Chi-
nesen die Gegend unter Wasser gesetzt hatten ; immerhin wurden
die Bewegungen letzterer aber scharf überwacht und auf einem
weiten Umwege auch kleine Beobachtungs-Detachements in ihren
Rücken vorgeschoben.
Am 31. Juli erhielt Linienschiffs-Lieutenant Indrak die Nach-
richt vom Tode des Fregatten-Capitäns von Thomann in Peking;
tagsdarauf kam von letzterem Orte die Kunde, dass Tung-
Fuhsiang zur Verstärkung Mah's mit seinen Truppen nach Pei-
tsang abmarschirt, und am 2. August eine von Chinesen stammende
Information, dass 8000 Mann mit 40 Geschützen von der Armee
Yuanschikkai's aus Schantung gegen Tientsin im Vormarsch seien,
während gleichzeitig verlautete, eine grössere Menge Boxer con-
centrire sich im Westen, mit der Absicht, sich des Haikwantsu-
Arsenals zu bemächtigen.
Unter solchen Umständen musste, wenn auch die Nachrichten
aus chinesischer Quelle als nicht völlig verlässlich angesehen
werden konnten, rasch gehandelt werden, wofür hauptsächlich die
mit Land und chinesischer Kriegführung am bestfen vertrauten
Japaner plaidirten.
Am 3. August berief General-Lieutenant Linewitsch, Com-
mandant des russischen Expeditions-Corps in Petschili, als rangs-
ältester Officier alle Truppen-Commandanten,*) um über die vor-
zunehmende Operation zu beschliessen.
Einleitend wurde mitgetheilt, dass nach den bisherigen Re-
cog-noscirungen die Chinesen, etwa 25.000 Mann stark, südlich von
Peitsang eine an drei Seiten befestigte Stellung besetzt hielten,
deren rechter Flügel sich an einen Canal und deren linker sich an
die Eisenbahn lohne, während das Terrain vor dem Centrum und
dem linken Flügel künstlich unter Wasser gesetzt sei.
*) Damals befamleii sich folgende mit Truppen angekommene höhere Officiere in
Tientsin: En^»land, General-Lieutenant Gaselec; Frankreich, Brigade- General Frey ; Japan,
ixeneral -Lieutenant Yamagutschi, der, obwohl rangsältester, aus Courtoisie dem an Jahren
älteren russischen General den Vorrang abgetreten; Russland, General-Lieutenant
witsch; Vereinigte Staaten, General-Major Chaffee.
m^
179
Es wurde beschlossen, gegen Peitsang und, wenn die Chinesen
geschlagen, von dort weiter auf Yangtsun zu marschiren, um die
künftigen Operationen gegen Peking zu erleichtern.
Die Vorrückung sollte in zwei Hauptcolonnen erfolgen.
Rechts, im Osten, Russen, Franzosen und die Matrosen-
Detachements der Deutschen, Italiener und Oesterreicher-Ungarn
unter dem Commando des russischen General-Majors Stessel den
Lutai-Canal übersetzend, um den linken Flügel der Chinesen zu
umfassen; von Süden her Amerikaner, Engländer und Japaner,
um die Stellung vor Peitsang selbst anzugreifen.
Ausser diesen beiden Hauptcolonnen sollte noch eine russisch-
französische Nebencolonne und westlich von dieser eine englisch-
japanische gegen das Centrum demonstriren.
Als Besatzung für Tientsin wurden 6000 Mann bestimmt, von
denen die Russen das linke Peiho-Ufer, die Franzosen das West-
Arsenal, Amerikaner, Engländer und Japaner die Settlements,
City und den Erdwall zu besetzen hatten.
Die gesammte disponible Cavallerie der Engländer, Japaner
und Russen wurde zur Verfolgung der Chinesen bereit gehalten,
die man nur bis Yangtsun ausdehnen zu können glaubte, da nach
den eingegangenen Recognoscirungs-Berichten letzterer Ort eben-
falls stark besetzt und befestigt war.
Die Bewegungen hatten so ausgeführt zu werden, dass die
einzelnen Colonnen um Mitternacht vom 4. auf den 5. August die
Einschliessung des Gegners vollendet haben und bei Tagesanbruch
angreifen können würden.
Die Gesammtstärke der gegen Peitsang aufgebotenen Truppen
betrug 14.400 Mann, darunter 1000 Mann Cavallerie, mit 52 Feld-
geschützen und 6 Maxim-Kanonen, die sich auf die einzelnen Na-
tionen in nachstehender Weise vertheilten :
Amerikaner .... 1900 Mann mit 6 Geschützen,
» (Matrosen),
» mit 6 Geschützen, 400 Cavallerie
» mit 12 Geschützen,
» (Matrosen),
» mit 12 Geschützen,
300 Cavallerie,
» (Matrosen),
» mit 16 Geschützen, 6 Maxim-
Kanonen, 300 Cavallerie.
Den ausgegebenen Dispositionen entsprechend, stand das
österreichisch-ungarische Detachement unter LinienschiflFs-Lieutenant
12*
Deutsche
200
Engländer ....
2000
Franzosen ....
1600
Italiener
40
Japaner
5400
Oesterreicher-Ungarn
55
Russen
3200
182
dass seine Landsleute schon vor zwei Stunden* die Stellung der
Chinesen gestürmt und letztere den fluchtartigen Rückzug an-
getreten hätten. Nach seiner Aussage hatte der Bajonnettanlauf
den Japanern 65 Todte und 300 Verwundete gekostet und sei die
Verfolgung der Chinesen sogleich aufgenommen worden.
Da jedoch aus der Darstellung des japanischen Officiers noch
kein Schluss gezogen werden konnte, ob die Chinesen nicht in dem
Ort Peitsang selbst vielleicht noch Widerstand leisten würden,
marschirten auch die drei Matrosen-D etachements weiter; wenn
das Gros der Truppen nachmittags noch in der Nähe nördlich
des Ortes festgehalten worden wäre, hätten jene als Reserve und
Besatzung in Peitsang bleiben sollen. Beim Eintreffen in dem
Städtchen stellte es sich aber heraus, dass die Chinesen, nachdem
sie ihre vor diesem gelegene Stellung verlassen, ohne einen
weiteren Versuch von Gegenwehr, von den Amerikanern, Eng-
ländern und Japanern energisch verfolgt, gegen Yangtsun geflohen
waren und somit keine Veranlassung vorlag, die Matrosen-Detache-
ments in Peitsang zu belassen. Da letztere andererseits über keinen
Train verfügten, konnten sie auch nicht an der weiteren Vor-
rückung der Colonne General StevSsel's theilnehmen.
Nach Hsiku zurückgekehrt, Hess man die Leute dort bis
4 Uhr nachmittags rasten, doch gab's kein Trinkwasser, eine
schwere Entbehrung, nachdem auf den nächtlichen Regen wieder
eine Gluthitze gefolgt war.
Noch am selben Abend, um 7Vs Uhr, rückte das Detachement
in seine Tientsiner Kaserne ein, nachdem es in 26 Stunden 65 Kilo-
meter auf den denkbar schlechtesten Wegen marschirt w^ar und
die Nacht ganz schutzlos im Regen zugebracht hatte; von den
55 Mann wurde nur ein einziger Mann bei der Rückkehr ins
Arsenal Hsiku marschmarod, wogegen die beiden anderen Matrosen-
Detachements einen unvergleichlich höheren Procentsatz solcher
Fälle hatten. Auch der Karren mit der Bagage war inzwischen
von seinem Führer zurückgebracht worden, der brave alte
Chinese hatte Alles versucht, um nachzukommen, die Abtheilung
»Zenta« jedoch erst wiedergesehen, als sie gegen Tientsin zurück-
marschirte.
In das Gefecht einzugreifen, das die Japaner vor den anderen
Contingenten auf ihrem Flügel eröffnet und in dem sie auch weiter
die führende Rolle beibehalten hatten, war zwar der kleinen
Schaar unter der roth-weiss-rothen Flagge durch das Zusammen-
treff'en unvorhergesehener Umstände verw^ehrt geblieben, aber die
ausgezeichnete Marschleistung bewies, dass sie nicht nur als zäh
183
aushaltende Besatzungstruppe, sondern auch bei einem Vorgehen
im Felde vortrefflich zu verwenden war.
Peitsang war gefallen, auf den ersten Ansturm die Position
ä cheval des Peiho aufgegeben, auf deren Unwiderstehlichkeit die
Chinesen gehofft hatten — schliessen wir damit das Capicel über
Tientsin und seine Vertheidigung, um zu sehen, was einstweilen
in Peking vorging.
184
IV. Capitel.
Schlimme Anzeichen. — Erste Bekanntschaft mit Boxern. — Ultimatum der Chinesen,
Exodus beschlossen. — Ermordung des deutschen Gesandten» Abschied von der Öster-
reich isch-ungarischen Legation, die Fremden bleiben. — Offene Feindseligkeiten. —
Warum die Gesandtschaft geräumt wurde. — Verlauf der Kämpfe. — Fregatten-Capitän
von Thomann gefallen. — Höhepunkt der Gefahr.' — Ueberraschungen und Aufrichtig-
keit der Chinesen. — Fühlung mit auswärts. — Entsatz. — Flucht des Hofes, letzte
Kämpfe in Peking. — Situation im Peitang. — Einiges über den Vormarsch der Ver-
bündeten. — Demonstrativer Durchmarsch durch die verbotene Stadt. — Ablösung.
Wenn der Leser, bei diesem Abschnitt angelangt, vielleicht
die Frage stellt: »Was haben sich denn die Fremden in Peking
eigentlich über ihre Lage gedacht ?«» — so möchte ich antworten:
»Sie haben gefühlt, wie sich die Schlinge um ihren Hals immer
fester zuzog, aber mit würdigem Anstand so gethan, als ob sie
dieses Drosselspiel unmöglich für mehr als einen gewagten Scherz
halten könnten — vielleicht mochten die Freunde auf der Strasse
doch noch rechtzeitig kommen und dem teuflisch artigen Attentater
das Spiel verderben.«
Welche moralischen Anforderungen diese Rolle stellte, mag
sich Jedermann nach der folgenden Aufzählung der Vorkomm-
nisse bis zum 19. Juni selbst ausmalen, an welchem Tag endlich
eine klare, wenngleich verzweifelt aussehende Situation eintrat.
Am 8. Juni brachten aus Tungtschau geflüchtete amerikanische
Missionäre die Nachricht, dass sie, von dem Ueberhandnehmen
der Boxer unterrichtet, ihre Anstalt dem Schutze der chinesischen
Localbehörden übergeben und sich nach Peking aufgemacht hätten ;
hinter ihnen seien nicht nur sogleich ihre Häuser zerstört, sondern
auch alsbald die christlichen Chinesen überfallen und massacrirt
worden. Chinesische Quellen berichten, dass der Taotai den Ver-
such, sich für die Mission und die christlichen Bewohner einzu-
setzen, mit der Ge fange nsetzung- durch die Boxer bezahlte, die
nun ein wahres Schreckensreg-imenC führten.
Solches konnte sozusagen in einer Vorstadt Pekings ge-
schehen, wo die obersten Behörden noch immer ihre guten Ab-
sichten gegen die Fremden betheuerten und von den Gesandten
nur Geduld verlangten, bis die angeordneten Massnahmen ihre
Früchte tragen würden !
Am 9. Juni morgens legten Boxer die Gebäude am Renn-
platz, der sich etwas über vier Kilometer ausserhalb Pekings
befand, in Asche und attaquirten einige Engländer, die sich von
der Wahrheit des darüber ins Legationsviertel gedrungenen Ge-
richtes überzeugen wollten, so dass letztere von ihren Revolvern
'•«brauch machen mussten.
An diesem unter so vielversprechenden Anspielen beginnenden
Tage kehrte der gesammte kaiserliche Hof aus dem Sommerpalast
Waa-schou-schan in die Winterresidenz zurück, in dieser Jahres-
'ttt jedenfalls ein höchst bedeutsames Ereigniss. Die hieran
S'^knüpften Commentare stimmten nur in einem Punkte überein
«nd trafen darin auch gewiss die Wahrheit: Die Kaiserin- Witwe
*oUtc dem Sitz ihrer Executivorgane näher sein, um nöthigen-
fails unmittelbar eingreifen zu können. In welchem Sinne sie
*ach aber entscheiden würde, sollte bald auf einem Umwege be-
Itannt werden
Da am 9. Juni der Termin für die Wiederherstellung der
Bahn abgelaufen war, ohne dass die chinesische Regierung ihr
186
•
diesbezügliches Versprechen eingelöst hätte, beriethen die diplo-
matischen Vertreter über weiter zu ergreifende Massregeln. Ein
vom deutschen Gesandten ausgehender Vorschlag, die Nachgiebig-
keit der Gewalthaber durch das Bombardement von Shanhaikuan
erzwingen zu wollen, fand keine Unterstützung; es erübrigte nur
die Heranziehung von Truppen der internationalen Flotte nach
Peking. In dieser Frage kam es jedoch zu keiner Einigung, da
für den Modus, wie diese Truppen heraufzubringen seien, sowohl
diplomatische als militärische Gesichtspunkte massgebend waren,
die, abgesehen von den Schwierigkeiten, die auf jedem der beiden
Gebiete für sich vorhanden waren, nicht leicht in Einklang gebracht
werden konnten.
Wollte man von den Admiralen direct den militärischen
Entsatz Pekings verlangen, so war dies gleichbedeutend damit,
die Fremdencolonie unmittelbar offenen Feindseligkeiten auszu-
setzen, und man hätte damit auch die weit schwerer wiegende
Verantwortung übernommen, die Chinesen in die Rolle der Ab-
wehr zu versetzen. Dass die chinesische Regierung nicht versäumt
hätte, die spätere Entwicklung der Dinge in diesem Lichte darzu-
stellen, lag auf der Hand und deshalb wollten die fremden Minister
Alles vermeiden, was jener irgend eine Handhabe hiezu bieten
konnte. Andererseits stand zwar der Ausweg offen, von den Ad-
miralen nur die Verstärkung der Schutz wachen zu ver-
langen, eine Formel, die den Befehlshabern der Flotte auch völlig
freie Hand gab und deren Wortlaut für spätere Zeiten noch immer
die Möglichkeit von gütlichen Verhandlungen mit der chinesischen
Regierung offen Hess; aber auch dann musste man gewärtig sein,
dass diese der Vermehrung der Legations-Detachements noch ganz
anderen Widerstand als schriftlichen Protest entgegensetzen werde.
Wie immer man die Sache auffassen wollte, so stand doch fest,
dass die Fremden in Peking wirksamen Schutz nur durch ihre
eigenen Truppen finden konnten, und wollten die Chinesen dies
nicht zugeben, so mussten eben sie die Verantwortung für alle
Folgen auf sich nehmen. In diesem Sinne trat Dr. von Rost-
horn auch lebhaft für die Annahme des letzteren Vorschlages ein.
Mittlerweile verbreiteten sich in der Stadt Gerüchte, dass
die Kaiserin - Witwe, den Vorstellungen des Kaisers und der
fremdenfreundlichen Minister des Tsungli-Yamens entgegen, sich in
einem Kronrathe offen für die Vertreibung der Fremden aus dem
Reiche ausgesprochen und Tung-Fuhsiang im Princip Vollmacht
ertheilt habe, gegen sie vorzugehen; er sollte indessen hiemit noch
bis auf einen ausdrücklichen Befehl warten.
187
Als nun der englische Gesandte im Laufe des Tages den
Besuch eines der Secretäre des Tsungli-Yamens, des den Europäern
wohlbekannten Lien Fang erhielt, theilte er ihm in der Absicht,
ihn zu einer Aeusserung zu bringen, mit, welche Gerüchte im
Umlauf seien ; Lien Fang's ernste Miene und beredtes Schweigen
erweckten in Sir Claude Macdonald die Ueberzeugung, dass —
wenigstens nach der Ansicht seines Besuchers — das Gehörte auf
mehr als ein müssiges Gerede zurückzuführen sei. Unter diesem
Eindrucke schickte der englische Minister, noch bevor er seine
CoUegen darüber gesprochen, nachmittags die bereits bekannte
telegraphische Depesche an Vice-Admiral Seymour ab.
In der nun folgenden Sitzung der Gesandten berichtete Sir
Claude über das Verhalten Lien Fang's und die Absendung seiner
Depesche; neuerdings wurde der schon einige Tage vorher discu-
tirte Schritt einer Audienz des gesammten diplomatischen Corps
bei Hofe selbst in Erwägung gezogen, die Entscheidung darüber jedoch
auf den folgenden Tag verschoben. Bis dahin wollte man zuwarten,
ob sich die günstiger lautenden Nachrichten, welche der franzö-
sische Gesandte den düster klingenden Mittheilungen seines eng-
lischen CoUegen entgegengestellt hatte, bewahrheiteten. Letzterer
erfuhr übrigens noch am selben Abend durch Sir Robert Hart aus einer
vertrauenswürdigen chinesischen Quelle, dass die Kaiserin-Witwe
thatsächlich den ominösen Ausspruch gethan habe, und telegraphirte
nochmals um 8Vi Uhr abends an den Consul in Tientsin, er möge
Vice-Amiral Seymour verständigen, dass die Lage in Peking sich
stündlich verschlimmere und sogleich Truppen gelandet und vor-
gesendet werden mögen.
Auch dieses Telegramm sendete Sir Claude ohne Vorwissen
der übrigen diplomatischen Vertreter ab.
Als erstes thatsächliches Anzeichen von der Berechtigung
der über die Haltung der Kaiserin- Witwe cursirenden Gerüchte
wurde der auf den 9. Juni fallende Einzug von Truppen Tung-
Fuhsiang's in die Hauptstadt angesehen, die bisher im alten kaiser-
lichen J^dpark Nanhaitse gelagert hatten ; schon der Name ihres
Führers Hess mit Sicherheit annehmen, dass die Kansu-Brigade,
welche den Ruf grösserer Tüchtigkeit als die Pekinger Feld-
truppen genoss, nur herbeigerufen worden sei, um mit dem Häuf-
lein fremder Schutzw^achen in der Stadt schnell fertig zu werden.
Am 10. Juni morgens langten von Tientsin noch je eine
Depesche des englischen Consuls und des russischen Militär-
Agenten dortselbst ein, welche den Abgang der Colonne Sey-
mour in zwei vom Vicekönig Yü-Lü beigestellten Zügen mittheilten.
188
Damach waren im Ganzen 1100 Mann bereits unterwegs, ebenso
viele sollten nachfolgen und wussten die Fremden auch das
günstige Ergebniss der Recognoscirung der Eisenbahn zwischen
Tientsin und Yangtsun.
Diese Nachrichten hoben die schon sehr gedrückte Stimmung
einigermassen ; aus der Thatsache, dass der Vicekönig von Tschili
die Abfahrt der Züge gestattet hatte, glaubte man folgern zu
dürfen, dass die chinesische Regierung stillschweigend ihre Zu-
stimmung zu der Verstärkung der Legationswachen gegeben habe —
bekanntlich wendete sie ja gegen faits accomplis selten etwas ein.
Als jedoch noch vor Mittag die telegraphische Verbindung mit
Tientsin unterbrochen worden, verwandelte sich das Gefühl einer
grösseren Zuversicht ins Gegentheil. Mit der Aussenwelt konnte
man nur mehr durch die über Kiachta führende Drahtlinie ver-
kehren; eine Correspondenz zwischen Peking und Tientsin hätte
somit nur durch einen Mittelsmann in Petersburg um den halben
Erdball herum stattfinden können. Die Linie Peking — Kiachta hörte
jedoch am folgenden Tage auch auf zu functioniren.
Man war durch die Unterbindung des Telegraphen plötzlich
wieder sehr misstrauisch gegen die am Morgen eingelaufenen an-
scheinend so günstigen Berichte über den Zustand der Bahn ge-
worden und begann die Schwierigkeiten, welche sich der Colonne
Seymour entgegenstellen konnten, nochmals zu recapituliren, wobei
man allerdings völlig ins Ungewisse gerieth; die Hoffnung, dass
das Abschneiden des Telegraphendrahtes vielleicht doch nicht mit
Wissen der chinesischen Regierung geschehen, vielmehr nur das
Werk eines Einzelnen sei und daher nicht als ein untrügliches
Zeichen böser Absicht jener angesehen werden müsse, wurde mit
allen möglichen billigen Argumenten künstlich aufrecht erhalten.
Die Besetzung des Bahnhofes ausserhalb Peking durch deutsche
Seesoldaten, welche Baron Ketteier beantragt hatte, wurde vom
Tsungli-Yamen nicht zugelassen.
Gegen Abend verbreitete sich das Gerücht, Seymour werde
noch nachts in Matschapu eintreffen ; der englische Gesandte selbst
theilte es dem österreichisch-ungarischen Geschäftsträger als glaub-
würdig mit — die Zuversicht, dass der kühne Entschluss Seymour's
die Situation gerettet habe, kehrte siegreich gegen alle Bedenken
zurück !
Der Morgen des IL Juni sah die meisten Fremden wohl-
bewaflfnet und mit ihnen lange Reihen von Karren für den Trans-
port des Gepäckes der erwarteten Ankömmlinge auf dem Bahn-
hof ausserhalb der Stadt — aber vergebens, von einem Zuge
189
Spur! Die elektrische Trambahn hatte längst den Verkehr einge-
stellt, die Stadtthore, die Strassen ausserhalb der Chinesenstadt
und der Bahnhof waren von chinesischem Militär besetzt, das sich
zwar noch ruhig verhielt, jedoch, nach dem bei jeder grösseren
Abtheilung befindlichen Abzeichen*) zu schliessen, die Ermächtigung
zum Gebrauch der Waffen erhalten hatte.
Die Enttäuschung der zum Empfange ausgerittenen Fremden
konnte nicht ärger sein ; man beabsichtigte, einen Boten auf einer
Draisine auszusenden und derart etwas über den Verbleib der
erwarteten Trains oder doch wenigstens den Zustand der Bahn
zu erfahren, aber da sich kein Bahnbeamter blicken Hess und die
Oeffnung eines Schuppens, wo man das Vehikel vermuthete, von
dem chinesischen Officier verweigert wurde, musste dieses Vor-
haben fallen gelassen werden.
Stunden vergingen mit nutzlosem Warten, Verhandeln mit
den Chinesen, die vorgaben, gar nichts zu wissen, bis man sich end-
lich zu der bitteren Ueberzeugung durchrang, dass alles längere
Verweilen auf dem Bahnhofe vergeblich sei.
M. Fliehe, der jüngste Attache^ der französischen Gesandt-
schaft, hatte in der besten Absicht, die Stimmung zu verbessern,
etwas zu viel gesagt!
Die Rückkehr ins Legationsviertel vollzog sich recht still
— nur konnten wir, Dr. von Rosthorn und der Schreiber
dieser Zeilen waren auch hinausgezogen, um die erwarteten
weiteren 75 Mann der »Zenta« einzuholen, nicht umhin, die auf-
fallige Veränderung im Gehaben des Strassenpublicums zu ver-
merken; auf dem Ausritt waren wir gleichgiltigen Gesichtern be-
gegnet, heimkehrend sahen wir manches höhnische Grinsen und
bekamen auch aus sicherer Entfernung einige Kosenamen nach-
geschickt !
Um den peinlichen Eindruck der argen Enttäuschung noch
zu steigern, wurde an diesem Tage die am 10. Juni mittelst
kaiserlichen Decretes erfolgte Berufung des Prinzen Tuan,
Vaters des Kronprinzen, in das Präsidium und die Ernennung
dreier Mandschu zu Ministern des Tsungli-Yamen bekannt; die
notorische Fremdenfeindlichkeit des Erstgenannten, des erklärten
Günstlings der Kaiserin- Witwe, und die Abstammung allein der
im Uebrigen fast unbekannten neuen Minister schlössen jeden
Zweifel aus, dass der Einfluss der fortschrittlich gesinnten Partei
im Yamen fortan lahmgelegt sein werde. Was konnten Prinz
♦) Ein Stab in der Form eines länglichen Römerschwertes mit einer aufge-
Balten Inschrift.
190
Tsching und seine aufgeklärteren Genossen chinesischer Ab-
stammung noch thun, um die Kaiserin- Witwe auf der erwählten
schiefen Bahn zurückzuhalten, wenn ein Mann wie Prinz Tuan nun-
mehr für seine fanatischen Wühlereien auch noch das Gewicht
amtlicher Stellung ins Treffen zu führen vermochte!
Das Decret schloss mit der noch nie in einem ähnlichen
Actenstück enthalten gewesenen Phrase: »Sie (die Neuernannten)
dürfen in der gegenwärtig schwierigen Lage nicht ablehnen zu
handeln.«
Es verdient aber hervorgehoben zu werden, dass noch am
11. Juni vormittags zwei fremdenfreundlich gesinnte Minister des
Yamens, Hsü-Tsching-Tscheng und Yuan Tschang beim englischen
Gesandten vorsprachen, um ihm gegen die Vermehrung der
Legationswachen Vorstellungen zu machen ; natürlich fehlte es Sir
Claude nicht an Argumenten, um unter Hinweis auf die Gescheh-
nisse der letzten Tage die Nothwendigkeit der von ihm verlangten
Verstärkungen zu beweisen. Wie aus seinem Berichte hervorgeht,
machte ihm der Schritt der beiden Minister den Eindruck, als ob
sie ihn durchaus nicht von ihrer eigenen Ueberzeugung getragen
unternommen hätten. Wenn man bedenkt, dass die chinesische
Regierung jedenfalls ganz genau unterrichtet war, welche mate-
riellen Hindernisse allein sich den Verstärkungen auf dem Wege
von Tientsin nach Peking entgegenstellten, so ist man versucht,
in der Entsendung Hsü-Tsching-Tscheng's und Yuan Tschang's nur
eine listige Hinhälterei zu vermuthen, um die Fremden in eine
trügerische Hoffnung zu versetzen, denn es erscheint gänzlich un-
glaubhaft, dass die Chinesen die Kräfte der Entsatz-Colonne so
weit überschätzt haben sollten, um sie erUvStlich zu fürchten.
Nachmittags wurde der Secretär Sugiyama der japanischen
Gesandtschaft, der sich zu Wagen ausserhalb der Stadt begeben
hatte, um im Auftrage seines Ministers Baron Nischi Erkundi-
gungen über den Verbleib der Entsatz-Trains einzuholen, von
Tung-Fuhsiang-Soldaten misshandelt, schliesslich getodtet und sein
Leichnam verstümmelt. Baron Nischi Hess die Nachricht davon
allsogleich allen anderen Legationen mittheilen ; seine Sühneforde-
rung wurde einige Tage später durch eine äusserst indifferente
Note beantwortet, dass die Kaiserin-Witwe mit Betrübnis von
der Kühnheit einiger »zugelaufener Taugenichtse« gehört und deren
Ausforschung und Bestrafung verfügt habe.
Fast gleichzeitig mit der Mittheilung von diesem ersten an dem
Angehörigen einer Gesandtschaft begangenen Verbrechen ver-
breitete sich das Gerücht, dass die Stadtthore geschlossen seien«
191
Unter dem Eindrucke der Ereignisse der letzten 24 Stunden
wurde die noch am 9. Juni in Erwägung gezogene Audienz bei
Hofe nicht mehr verlangt, da man von ihrer Erfolglosigkeit im
voraus überzeugt war.
Um zu erfahren, ob das Gerede von der Schliessung der
Stadtthore auf Wahrheit beruhe, und auch im Allgemeinen ein
Bild von der Stimmung in der Chinesenstadt zu gewinnen, ritten
Dr. von Rosthorn und ich am 12. Juni morgens hinaus; wir fanden
die Thore offen, den Wagenverkehr in der Chinesenstadt auf-
fallend weniger lebhaft als sonst und begegneten zahlreichen
Patrouillen der Kansu-Cavallerie. Die Bevölkerung war bereits
sehr aufgeregt, ein »Scha-scha!« schreiender Mob lief uns eine Zeit
lang nach, wagte es aber doch nicht, uns anzugreifen — Dr. von
Rosthorns knotiger Krummstab und mein Revolver schienen ihm
doch Respect einzuflössen ; ohne das Südthor der Chinesenstadt
überschritten zu haben, kehrten wir, weiter nicht mehr molestirt,*)
durch eine Seitenstrasse des Handelsviertels zurück, die jedoch
schon an mehreren Stellen durch frisch aufgeworfene Gräben für
Reiter schwer passirbar gemacht war.
Am selben Tage begannen zwei der neuernannten Minister
des Tsungli-Yamen in Begleitung zweier, den Fremden schon be-
kannter Amtscollegen ihre Antrittsvisiten bei den Gesandtschaften,
wobei sie Grüsse der Kaiserin-Witwe an die betreffenden Damen
überbrachten; dieser Schritt fand allgemein nur die Deutung,
dass man es chinesischerseits noch nicht an der Zeit hielt, mit
der bisherigen Usance zu brechen. Auch bei dieser Gelegenheit
versäumten die chinesischen Minister nicht, die Lage im rosigsten
Lichte darzustellen und den diplomatischen Vertretern mit grossem
Aufwand an Phrasen auseinander zu setzen, dass die Boxer-
bewegung zu Ende sei und die Gesandten sich auf den Schutz
der Regierung ruhig verlassen mögen. Damit contrastirte einiger-
raassen das Ersuchen, man möge sich nicht mehr ausser die Stadt
begeben; dass die chinesischen Minister auch wünschten, man
möge die Schildwachen der Legationen innerhalb letzterer auf-
stellen, um das Volk nicht zu beunruhigen, nahm nicht Wunder,
hatte aber natürlich keinen Erfolg.
Es verlautete, Tung-Fuhsiang habe Befehl erhalten, seine
Truppen wieder nach Nanhaitse zurückzuziehen, angeblich um der
*) Sir Robert Hart, theilte uns abends mit, dass eine Abtheilung Cavallerie
sich bereits ausserhalb des Yungtingmen begeben hatte, um uns dort abzuschneiden,
falls wir das Thor passiren sollten. Es scheint, dass wir die letzten Europäer gewesen
sind, welche die Chinesenstadt vor dem Entsätze betraten.
192
Wiederholung so beklagenswerther Vorfalle, wie die Ermordung
des japanischen Secretärs, vorzubeugen; thatsächlich gingen wohl
in den nächsten Tagen Theile jener gegen Süden ab, jedoch
nicht, um durch ihre Entfernung unschädlich gemacht zu werden,
sondern um, wie wir bereits wissen, zusammen mit Boxern die
Colonne Seymour aufzuhalten.
Ueber den Verbleib letzterer lagen auch am 13. Juni noch
keine Nachrichten vor, doch erzählte man sich und diesmal ge-
wiss mit Recht, dass der Zustand der Bahn viel schlimmer sei,
als man je vermuthet hatte. Schon in den Vormittagsstunden war
auch im Legationsviertel und seiner nächsten Umgebung eine auf-
fallende Unruhe bemerkt worden ; verschiedene christliche Chinesen
gaben an, dass neuerdings grosse Mengen Boxer im Anzüge seien.
Gegen 10 Uhr sah Baron Ketteier zwei Boxer in »voller Uniform«
lebhaft gesticulirend und die Passanten haranguirend durch die
Legationsstrasse fahren ; empört über diese Kühnheit und froh.
der chinesischen Polizei einen lebendigen Beweis ihrer geflissent-
lichen Lauheit vorhalten zu können, nahm er, unterstützt von
einigen Herren und Seesoldaten seiner Gresandtschaft einen der
Boxer fest und Hess ihn fesseln, während es dem zweiten gelang
zu entkommen.
Der Polizei-Präsident von Peking, Tschungli, wurde von dem
Vorfalle in Kenntniss gesetzt und ersucht, zum Verhör des Ge-
fangenen in die deutsche Legation zu kommen ; trotz der bei dem
Manne vorgefundenen Waffen und Abzeichen behauptete Tschungli
doch, dass er keinen Grund habe, ihn als gefährliches Individuum
einzuziehen, verlangte vielmehr dessen Auslieferung. Baron
Ketteier erklärte, diese nur zugeben zu können, wenn wirklich
gegen die Secte vorgegangen würde, und so verblieb der Häftling
bis auf Weiteres in der Gesandtschaft.*)
Nachmittags liess Fregatten-Capitän von Thomann auf die
von einem Missionär stammende Mittheilung hin, die Boxer hätten
sich eines Brunnens in nächster Nähe der k. und k. Gesandtschaft
bemächtigt und ihn vergiftet, die bezeichnete Gegend und das im
Osten an die Legation grenzende, weitläufige, jedoch verlassen
stehende Palais eines kaiserlichen Prinzen durch eine starke Pa-
trouille abstreifen ; das Resultat war negativ. Glücklicher waren
*) Gegen Abend erzählten unsere Diener, die deutschen Soldaten hätten schon ihre
ganze Munition auf den einzigen Boxer verschossen ; sie wussten es gewiss, dass der Ge-
fangene alle Kugeln, die scheinbar in seinen Körper eingedrungen — ausgespuckt habe aod
noch immer frisch und munter sei. Man sieht, wie prompt die Boxerreclame su
verstand. — Der Gefangene entkam am 22. Juni, wurde jedoch auf der Flucht
193
einige Stunden später Deutsche, Franzosen und Italiener, indem
sie in einem von den Boxern eiligst geräumten Tempel nebst
einer Menge ihrer Abzeichen Schriften von documentarischem
Werthe vorfanden. Diese Papiere enthielten einen äusserst
detaillirten Actionsplan und, was späterhin von noch grösserer
Bedeutung, die Namen von hohen Persönlichkeiten, welche der
Gesellschaft des »J'hotuan« materielle Unterstützung zuwendeten.
Daneben befand sich auch eine Liste proscribirter Chinesen. So
viel über diesen fortan wohlgehüteten Fund verlautete, stimmten
die bisherigen Vorfallenheiten genau mit dem in Art eines Ka-
lenders verfassten Programm der Boxer.
Es erscheint nun aber an der Zeit, die Massnahmen kurz zu
besprechen, welche bisher zur Vertheidigung des Legationsviertels
getroffen worden waren.
Schon am 6. Juni hatten die Commandanten der verschiedenen
Detachements, unter denen der russische Schiffs-Lieutenant Baron
Raden als Aeltester fungirte,*) ihre erste Zusammenkunft abge-
halten, der in den nächsten Tagen noch zwei folgten. Es wurde
die Eventualität eines allgemeinen Angriffes durch die Boxer ins
Auge gefasst ; dass reguläres chinesisches Militär sich an einem
solchen betheiligen würde, glaubte man vorderhand nicht in Er-
wägung ziehen zu müssen.
Der ganze, die Legationen umfassende Complex zerfiel durch
den aus der Kaiserstadt kommenden, zwischen Tschienmen und
Hatamen die Mauer der Tartarenstadt in einem vergitterten Durch-
lass passirenden Canal naturgemäss in zwei Gruppen, deren west-
licher die holländische, amerikanische, russische und englische
Gesandtschaft angehörten, während alle übrigen in der östlichen
lagen ; innerhalb jeder Gruppe einigte man sich zu gegenseitiger
Unterstützung. Ein starker Angriff auf eine der Legationen sollte
<len benachbarten gleich durch eine Patrouille mitgetheilt werden
^d auf diesem Wege successive auf der ganzen Stellung in die
Gefechtsbereitschaft übergegangen werden.
Amerikanern und Russen fiel die Bewachung des westlichen,
Italienern und Franzosen, eventuell auch den Deutschen das Halten
^cs ostlichen Theiles der Legationsstrasse zu ; die Nordbrücke des
^ales hatten die Engländer, die östlich davon gelegene Kreuzung
^^ Tschangan-Strasse mit der Customs-Strasse die Oesterreicher-
*) Fregatten-Capitän von Thomann konnte damals noch immer hoffen, die Rück-
'^ nich Taku anzutreten und enthielt sich deshalb einer persönlichen Betheiligung
^ denBerathiingen; Linienschifis-Lieutenant Kollsur traf daher als österreichisch-unga-
"*llW Dttadiement-Commandant die Abmachungen.
r: Kimpfe in China. 13
194
Uncarn ^^^ vertheidigen. Letztere sollten, da sie auch die Be-
chung d^^ noch weiter abseits liegenden belgischen Legation
besorgten, d^rch eine Abtheilung des französischen Detachements
erstärkt xv^^rden. Die Deutschen übernahmen im Osten, die
A.merikanex' ^m Westen die Besetzung der Stadtmauer, russische
Posten bexv^*-^^^^^ ^^^ mittlere, beide Gruppen verbindende Brücke,
die Tapaner" unterhielten an den Zugängen des im Norden ihrer
GesandtscU^^^ gelegenen Suwang-Fu, später kurzweg Fu genannt,
Wachen und entsendeten Patrouillen durch das Gewinkel zwischen
dem V^ und dem Finanz-Inspectorat bis zur österreichisch-ungari-
' eben Legation. Späterhin, als Sir Robert Hart die fremdländischen
Ancestellten des Seezollwesens aus dem Nordosten der Stadt ein-
berufen (^^. J^^') ^^^ unter dem Commando eines seiner Beamten,
des ehemalig'e^ preussischen Officiers Ernst von Strauch militärisch
orcanisirt batte, übernahmen diese Herren die Bewachung der
/uffänge zum Finanz-Inspectorat und zu der vom Seezollwesen
unterhaltenen Post. Zu jener Zeit nahmen die Beamten der
russisch-chinesischen Bank auch an der Bewachung des Fusses
der Stadtmauer gemeinsam mit der amerikanischen Marine-
Infanterie Theil. Das deutsche Detachement stellte eine Wache
für die nordwestlich der k. und k. Gesandtschaft befindliche elek-
trische Centrale der Firma Siemens & Halske bei.
Ausser (lewehren verfügten die Detachements noch über drei
fahrbare vSchnellfeuerwaflFen, d. i. die englische Mitrailleuse älteren
Nordenfeldt-Systems, das amerikanische Maschinengewehr von
6-5 Millinieter Caliber und die italienische 37 Millimeter Schnell-
feuorkanone ; die Gewehr-Mitrailleuse des österreichisch-ungarischen
Uetachements wurde zuerst auf einem Holzsockel installirt, bis es
am V^' J^"^ gelang, auch für sie einen allerdings sehr gebrech-
lichen Handwagen zu adaptiren.
Am meisten exponirt war die belgische Gesandtschaft, deren
Insassen sich im Nothfalle auf die österreichisch-ungarische Lega-
tion zurückziehen sollten; dazu standen ihnen zwei Wege oflFen, die
Wahl zwischen diesen beiden hing natürlich von vorher nicht be-
stimmbaren Umständen ab.
I)i(^ Position der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft
war eine der wichtigsten und dort aller Wahrscheinlichkeit nach
auch der erste Angriff zu gewärtigen; zu ihrer Sicherung wurden
vom »^ Juni ab ausser dem Posten am Hauptthor in der Customs-
Strasst» noch zwei, die Nord- und Ostmauer abpatrouillirende
Wachen und ein Posten im 1. Stockwerk des vom Detachement
h«»wohnlen (iebäudes unterhalten, welcher das angrenzende Fu
und das schmale, an beiden Seiten abgesperrte Gasschen zwischen
diesem und der Ostmauer zu überwachen hatte. So lange die
Mitrailleuse nicht fahrbar gemacht war, stand sie auf einer Weg-
DSB Legation Bviortet mit Umgebung.
1-J40M
Cti)n***n(Ullt
kreuzung im Garten, von wo aus sie das Hauptthor und den grössten
Theil der ganzen Anlage hätte bestreichen können. Für den Fall,
als es den Boxern wider altes Erwarten doch gelingen sollte, in
überwältigender Ueberzahl einzudringen, war das Mannschafts-
18*
196
gebäude, in dem die Munition und Proviant auf 14 Tage verwahrt
lagen, als Rückzugs- und Vertheidigungspunkt ausersehen. In
dessen äusseren Bogengängen hatten wir mit Steinen, Erdsäcken,
Hängematten u. dgl. Schützenstände errichtet, in dem noch sehr
jungen Garten überdies unter thätigster Mithilfe der unermüdlichen
Frau von Rosthorn aus Draht und Netzen Annäherungshindernisse
improvisirt, um ungebetene Eindringlinge zu unfreiwilligem
»Kotow« zu zwingen und umso länger unter Feuer halten zu
können; in der Nordwest- und in der Nordostecke waren erhöhte
Schützenstände geschaffen worden, von wo aus man die Verlänge-
rung der Customs-Strasse gegen Norden und einen grossen Theil
der Tschangan-tsie beschiessen konnte.
Mit der Wache in der belgischen Legation war für die Nacht-
zeit — um die es sich zunächst handelte — eine Verständigung
durch Signalpatronen festgesetzt ; ansonst gingen häufig Patrouillen
hin und her. Auf Anregung des österreichisch-ungarischen Ge-
schäftsträgers dehnte die elektrische Centrale den Betrieb statt
wie früher nur bis Mitternacht nun bis zu Tagesanbruch aus.
Bis zum 13. Juni hatte sich zwar in der unmittelbaren Umgebung
des Legationsviertels, in dem jedoch der Zahl nach noch immer
die von Chinesen bewohnten Häuser vorherrschten, nichts direct
Alarmirendes zugetragen und das Einzige, was vielleicht kriege-
rische Zeiten voraussetzen liess, war das Vorüberziehen grösserer
chinesischer Truppenmengen ; mandschurische Bannerleute mit
ihren unhandlichen Dreimännerbüchsen, dann wieder Kansu- (Tung-
Fuhsiang-)Cavallerie und Infanterie und Wuwei-Truppen, die letz-
teren drei alle ganz modern bewaffnet, marschirten frühmorgens
und nachmittags in langen Reihen stets unter misstönendem Schalle
ihrer langen Trompeten vorbei und so mancher Schelm deutete
mit einem bezeichnenden Grinsen zuerst auf seine Waffe und dann
auf uns — es zuckte einen in den Fingern, dem Kerl eins auf die
scheckige Blouse zu brennen !
Inzwischen hatten wir Officiere nicht versäumt, uns über Weg
und Steg in der nächsten Nachbarschaft zu orientiren, was trotz
des im Allgemeinen erkennbaren Princips, dass Strassen, Gassen
und Gässchen einander unter rechtem Winkel schneiden, in Peking
nicht ganz so einfach ist, als es aussieht, da es auch eine Menge
Sackgassen gibt, in die zu gerathen unter Umständen ärgerlich
hätte werden können.
Der 13. Juni war ein richtiger Pekinger Sommertag; die
drückende Hitze wurde durch einen den fusshohen Staub auf-
wirbelnden Wind noch unleidlicher gemacht und man
197
förmlich, durch die bösen Nachrichten und das Ausbleiben von
guten, das heisst über die Fortschritte der Seymour-Colonne, ohne-
dies schon gespannt, nach einer Erfrischung, in welcher Form
immer — die flüssige damals noch ausgenommen, von welcher Art
es ja vorderhand genug gab.
Um 6V4 Uhr abends — die zur Erhaltung von physischer
Spannkraft unbedingt nothwendige Tennispartie hatte eben be-
gonnen — wurde ein vom amerikanischen Minister gesandter Brief
bei uns abgegeben; Inhalt eine kurze Meldung des Seecadetten
Erich Prochaska und ein Schreiben des von Dr. von Rosthorn
schmerzlich erwarteten Consulats-Secretärs Gottwald, beide datirt
Langfang, 12. Juni. Die erste Nachricht von der Seymour-Expedition!
Ersterer zeigte an, dass er sich mit 25 Mann der »Zenta« im
Zuge des Vice-Admirals selbst befand und man am 11. Juni bei
Lofa ein Scharmützel mit Boxern bestanden habe; die fernere
Bitte, man möge bei Ankunft des Zuges mehrere Karren zum
Transport von Proviant und dergleichen entgegenschicken, deutete
darauf hin, dass der Schreibende jedenfalls in Uebereinstimmung
mit allen anderen an der Expedition Betheiligten noch damit ge-
rechnet hatte, Peking zu erreichen.
Herrn Gottwald'sMittheilungen an seinen neuen Chef waren etwas
ausführlicher ; er erwähnte, dass dem Zuge, in dem er sich befand>
noch weitere fünf folgen würden, ferner dass am 11. Juni in Tientsin
1800 Mann Russen eingetroffen seien, das Scharmützel mit Boxern
und die Verzögerungen durch die Reparatur der Bahnstrecke.
Der Ueberbringer dieser heissverschlungenen Botschaften,
der 16jährige Sohn Fago des ersten Secretärs der amerikanischen
Gesandschaft, Mr. Squiers, Hess uns mit echtem Yankee-Phlegma
Zeit, das Schriftliche gehörig durchzusehen, bis er fortfuhr:
»Eben sind grosse Massen Boxer durch das Hatamen herein-
gezogen, in der Legationsstrasse herrscht ein furchtbares Gedränge,
die Leute machen viel Lärm; Mr. Pathig, Sie wissen, der Privat-
secretär Lihungtschangs, der sich bisher immer weigerte, das
Pekinger Haus Li's zu verlassen, glaubt, dass es heute doch los-
gehen werde, er will bei uns schlafen. Wenn Sie eine Antwort
nach Langfang schicken wollen, lassen Sie vSie vor 8 Uhr in
der amerikanischen Gesandtschaft sein, wir wollen zu der Stunde
einen chinesischen Läufer aussenden, ich muss aber sehen, dass ich
zurückkomme, sonst wird mir der Tumult zu arg. Da hören
Sie's schon.«
Und in der That — aus der Richtung von Hatamen drang schon
wüster Lärm her, in dem man vorderhand nur »Scha-scha« und
198
»Scha-u-scha-u« (Verbrennt sie!) unterschied; Kollaf setzte die
schrille Pfeife an und keine halbe Minute später standen wir an
unseren Posten. Von der Nordostecke aus, wo ich mit sieben Mann
auf die weiteren Ueberraschungen wartete, konnte man anfanglich
nur eine in eine Staubwolke gehüllte, brüllende, dichte Menschen-
menge erkennen, die sich vom Hatamen-Boulevard westwärts gegen
uns bewegte; auf ungefähr 500 Schritt erst nahm man in der
Abendsonne blitzende WaflFen, dann rauchende Fackeln und endlich
auch die untrüglichen rothen und orangefarbigen Abzeichen der
Boxer aus. Nun war's Zeit, und wenn mich auch die Rücksicht
auf die massenhaft mit- und zulaufenden unschuldigen GaflFer noch
ein paar Augenblicke zurückhielt, so galt's doch zu handeln —
die Kerle hatten an die Gerüste der im Bau befindlichen kaiser-
lichen Münze Feuer gelegt und kamen mit Triumphgeheul
näher — ein paar Salven, Wuthgeschrei und dann ein Gelaufe!
Mit auffallig raschem Verständniss zerstreute sich die Bande und
Hess die Schaulustigen allein zurück, die sich nun auch im bunten
Durcheinander in Sicherheit zu bringen suchten. — Nach einigen
Minuten tauchten viel näher an uns aus einem Hause wieder ein
paar rothe Turbane auf, verschwanden aber blitzschnell, als gleich-
zeitig drei bis vier Schüsse gegen sie fielen. In dem Gewühl nach den
ersten Salven konnte man nicht deutlich erkennen, was unsere Gewehre
ausgerichtet, sicherlich aber ganz Befriedigendes,*) nach der Eile
zu schliessen, mit der die ganze Horde verschwand. — Bald wurde
es in unserer Nachbarschaft ganz still, man sah nur mehr fried-
liebende Bürger, denen der Schrecken sichtlich noch in allen
Gliedern sass, aus den Häusern hervorkommen und im beschleunig-
ten Tempo ihre Wohnungen aufsuchen.
Der Brand hatte am Gerüste des Münzamtes nur wenig
Schaden gethan, das angrenzende Gebäude der chinesischen Bank
war durch unser Eingreifen von der Zerstörung bewahrt worden;
ein amerikanisches Missionsgebäude in der Nähe des Hatamen
stand in Flammen, die in der Legationsstrasse vordringenden
Boxer holten sich auch dort bei den Italienern und herbeigeeilten
Freiwilligen — zumeist Bew^ohner des Hotel Peking — blutige
Köpfe.
Angesichts des Eintrittes einer so ernsten Situation übernahm
Fregatten-Capitän von Thomann nun persönlich das Commando
über das Detachement.
♦; Ein in der Tschangan-Strassc wohnhaft gewesener, später nach Shanghai ge-
flüchteter chinesischer Beamter erzählte im »Shanghai Mercury«, dass die Boxer durch
das Feuer der Oesterreicher-Ungarn eine Menge Todte und Verwundete hatten.
199
Die belgische Gesandtschaft war diesmal nicht angegriffen
worden, dafür begannen die Boxer bald darauf im Norden der
Tartarenstadt ihr Zerstörungsvverk, das sich nach 10 Uhr nachts
durch grellen Feuerschein und durch die Entfernung gedämpftes
Geschrei anzeigte. Aus der Richtung, wo beides wahrzunehmen,
erkannte man, dass es die katholische Kirche zum heiligen Joseph,
das Tung-tang, sein müsse, das da überfallen wurde; ein Hilfs-
versuch war leider wegen der grossen Strecke Weges dahin aus-
geschlossen.
Beinahe im selben Augenblick, wo der Brand des Tung-tang
bemerkt wurde, rückten die Boxer wieder in grosser Zahl mit
brennenden Fackeln und unter dem unvermeidlichen Geschrei über
die nach Süden zu abfallende Strasse gegen die Legation vor, so
dass jene bald wie ein wogender Feuerstrom aussah. Das Detache-
ment war schon alarmirt und stand der grösste Theil desselben
mit der Mitrailleuse an der Strassenkreuzung. Um den Denkzettel
eindring'licher zu gestalten, befahl Fregatten-Capitän von Thomann,
die nur mit blanken Waffen ausgerüsteten Angreifer bis auf
50 Schritt herankommen zu lassen und erst dann das Feuer zu
eroffnen; so geschah es auch, und als dann einige Lagen in vsie
hineingeknattert hatten, entflohen die Boxer unter lauten Ver-
wünschungen nach Norden zurück. Eine Weile wurde noch zuge-
wartet, ob sie nicht wieder vorkämen, dann ging ihnen, als auf
das Schiessen hin auch 14 Mann Franzosen unter Aspirant Herber
und einige Zollbeamte herbeigeeilt waren, eine 12 Mann starke
Patrouille nach.
Zu unserem grossen Erstaunen fanden wir aber weder Todte
noch Verwundete, deren es gewiss so manchen gegeben haben
musste; einige mögen wohl in die nächsten Häuser weggeschleppt
worden sein, wahrscheinlich haben sich jedoch die Boxer begnügt,
ihre Fackeln auf die Strasse zu werfen, und rissen beim ersten
Schuss durch die beiderseits des Fahrdammes befindlichen tiefen
und breiten Gräben aus. Ein weiterer Erklärungsgrund mag auch
darin liegen, dass man in der irrigen Annahme, die Fackeln würden
hoch g'eschwungen, die Leute angewiesen hatte, unter die vordersten
Lichterreihen zu zielen, wodurch dann die Geschosse zu kurz fielen;
dieser übrigens verzeihlichp Irrthum hat auch die Geller verur-
sacht, welche die Lichtleitung beschädigten, die etwa 100 Schritt
von der Strassenkreuzung in sieben Meter Höhe den Weg
übersetzt.*)
*) Der Bericht des Timcs-Correspondenten Dr. Morrison über die Belagerung, welcher
sich durch seine böswiUigen Erfindungen und Verdrehungen bezüglich der Person des
200
Die mit noch brennenden, aus den bekannten Weihrauch-
stäbchen zusammengesetzten Fackeln übersaete Strasse wurde auf
etwa 1000 Schritt gegen Norden abgesucht, hiebei noch zwei durch
Seitengassen fliehende Boxer niedergeschossen, ausser einigen als
verdächtig aufgegriflFenen, bald aber als harmlos erkannten und
verwarnt entlassenen Chinesen jedoch keiner der Mordgesellen
mehr angetroffen; in einem Hause, dessen Bewohner man eilends
flüchten hörte, fand man einen grossen Haufen gebrauchsfertiger
Fackeln. Ungefähr 800 Schritt von der Legation stiess man auf
die schon halbverkohlte Leiche einer Chinesin, die an einem Hals-
band mit Kreuz und Muttergottesbild als Christin erkannt wurde;
Hände und Füsse waren gefesselt, und da weder am Kopf noch
an den unverbrannten Gliedern irgend eine Verwundung zu sehen
war, musste man annehmen, dass die Aermste lebendig ins Feuer
geworfen worden war. Auch in der Legationsstrasse hatten Italiener
und Franzosen nachts auf verdächtige Erscheinungen, jedoch mit
unbekanntem Erfolge geschossen ; der Rest der Nacht verlief ruhig.
So endete unsere ervSte Bekanntschaft mit den Boxern ; sie
hat uns keinen allzu hohen Begriff vom so sehr gerühmten Muth
dieser »himmlischen Soldaten«, wohl aber einen tiefen Abscheu
gegen ihre bestialische Mord- und Zerstörungswuth beigebracht.
Letztere wendete sich nun gegen die entlegenen, nicht vertheidigten
Missionen, die Fremden, Christen und fremdenfreundlichen Chinesen
gehörigen Häuser und sorgte dafür, dass uns fortan wochenlang
der schauerlich schöne Anblick gewaltiger Brände beschieden war.
Diesen fielen nach und nach die Häuser der Zollbeamten und der
französischen Dolmetscher-Eleven im Nordosten der Stadt, die im
selben Viertel gelegene ehemalige japanische Gesandtschaft, das
Nantang, die katholische Missionsanstalt mit ihrem Spital im Süd-
westen der Tartarenstadt, alle die europäische Artikel enthaltenden
Kaufläden, endlich auch der grösste Theil des reichen Handels-
Fregatten-Capitäns von Thoraann und des österreichisch-ungarischen Detachements über-
haupt als ein Cabinetstück perfid tendenziöser Journalistik darstellt, schliesst seine
hämischen Bemerkungen über die Abwehr des nächtlichen Angriffes mit dem gewagten
Ausspruche : »Dieses Fiasco habe nur geholfen, den Glauben der Boxer an ihre Unver-
wundbarkeit zu befestigen.« Nun sind aber die Boxer über Hals und Kopf geflohen und
haben nie wieder gewagt, ihre Unverwundbarkeit gerade gegen die österreichisch-
ungarischen Gewehrläufe zu erproben — Dr. Morrison findet vielleicht noch für diesen
Widerspruch der Thatsachcn mit seinem Apercu die chinesische ZauberformeL — Obige
Details wurden mit Absicht in so ausgedehntem Masse angeführt, und wenn sich später
an einzelnen Stellen ähnliche Längen finden, so möge der Leser sie entschuldigen, sie
sind die Antwort auf die unqualificirbaren Angriffe Dr. Morrison*s und seiner wenigen
Genossen.
201
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Skizze der österr.-ungar. Gesandtschaft.
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< Diener>RAame
K Ktkohe
B Brunnen
Qih Glashaus
Ol». Gärtnerhaus
w«. Wachzimmer
Häuser
vierteis in der Chinesenstadt und das äussere Wachhaus auf dem
Tschien-men*) zum Opfer.
*) Der am 16. Juni ausgebrochene Brand in der »Bücher«-, »Fächer«- und
»Laternen« -Strasse ergriff, durch Südwind getragen, auch das äussere als geheiligt anzu-
sehende Tschien-men und hat den Chinesen einen auf l^'a bis 2 Millionen Dollars ge-
Khatzten Schaden verursacht, die damit ihren Aberglauben und die Furcht vor den
Boxern bezahlten. Letztere hatten ursprünglich nur einige Läden mit europäischer Waare
angezündet und fertigten die ängstlichen Nachbarn damit ab, dass »ihr Feuer den Göttern
wohlgefaUig sei und wie eine Kerze nur nach aufwärts brenne« ; als aber auch ein Theater
Fener fing nnd die Besitzer mit schmutzigem Wasser Löschversuche anstellten, erklärten
die Boxerhänptlinge, nun hätten sie keine Macht mehr, der Feuergott sei durch die Besudelung
mit dem unreinen Inhalt der Siele schwer beleidigt und nehme Rache. Der Aberglaube
der Betroffenen war so gross, dass sie, anstatt die brandlegenden Boxer zu verjagen, über
die Leute thätlich herfielen, die das brennende Theater zu löschen versucht hatten.
202
Wenngleich am Morgen nach dem ersten Angriff die Nach-
barschaft des Legationsviertels ganz ruhig erschien, so wurde doch
Vorsorge gegen ein Einschleichen der Boxer getroffen und dem-
gemäss der Verkehr in und aus jenem durch verstärkte Posten auf
den Strassen unter scharfe Controle genommen ; Chinesen durften
die Zugänge nur gegen Vorweisung eines Passirscheines über-
schreiten, worein sie sich trotz mannigfacher anfanglicher Missver-
ständnisse bald fügten. Diese Passirscheine bestanden freilich zu-
meist nur aus Visitkarten oder ein paar Zeilen Fremder und mögen
auch des Oefteren missbraucht worden sein. Durch Maueranschläge
im Legationsviertel wurde die Benützung gewisser Strassen unter-
sagt und den friedlichen Einwohnern nahegelegt, sich bei Nacht nicht
ausser Hause aufzuhalten, und wenn durchaus nöthig, nur mit
einer Laterne auszugehen, aber ja nicht vor Wachen zu entlaufen,
wenn sie angerufen würden.
Am Vormittag begab sich der französische Detachement-
Commandant, Linienschiffs - Lieutenant Darcy, im Auftrage seines
Gesandten mit einer Patrouille nachdem noch rauchenden Tung-tang;
dort constatirte er, dass die Boxer die in die Kirche geflüchteten
christlichen Chinesen — angeblich 300 an der Zahl — massacrirt
hatten, nur wenige waren ihrem grausamen Wüthen entronnen.
Der greise Pfarrer Pore Dor^*) wurde vermisst ; kein Zweifel, dass
er seine Standhaftigkeit, bis zum letzten Augenblick als Troster
seiner Seelengemeinde auszuharren, mit dem Märtyrertode be-
siegelt hatte. Es ist daher kein Wunder, dass sich der Fremden
und der vSoldaten insbesondere eine gerechte Empörung bemäch-
tigte und sie trachteten, jeden Boxer, devSsen sie habhaft werden
konnten, sofort unschädlich zu machen. So Hess Freiherr von
Ketteier auf die Meldung, dass jenseits der Stadtmauer hinter der
deutschen Gesandtschaft ein grosser Trupp von ihnen eben ihre
Exercitien vor versammeltem Volke vornehme, gegen sie schiessen,
wobei sie sieben Todte und mehrere Verwundete verloren.
Am 14. wurde beobachtet, dass bedeutendere Massen chine-
sischen Militärs aus der Stadt gegen Süden abmarschirten ; ein
Gerücht ging um, dass Russen — offenbar die im Brief Herrn
Gottwald 's erwähnten — von Tientsin entlang des Peiho in Vor-
rückung und schon auf der Hälfte des Weges angelangt seien.
*) Seine arg verstümmelte Leiche wurde später in einiger Entfemang von der
Kirche aufgehängt vorgefunden. Pere Dot€ hatte wiederholte AufTorderungen, sich ins
Peitang oder in die französische Gesandtschaft zurückzuziehen, stets abgelehnt und oft
geäussert, in getreuer Pflichterfüllung sein Leben zu opfern, erscheine ihm der
Abschluss seiner I^ufbahn als Missionär.
später abends empfing der englische Gesandte vom Vice-
Admiral Seymour wieder eine Nachrichl; dieser zufolge war die
Colonne am Morgen noch immer in Langfang gewesen und hatte
nebst den Schwierigkeiten, die Bahn herzustellen, auch mit Mangel
an Wasser und Lebensmitteln zu kämpfen. Trotzdem sprach der
Führer der Expedition noch immer die Hoffnung aus, am 15, Anting
zu erreichen. Diese Botschaft war die letzte directe von dem Entsatz-
Corps; obzwar sie im Zusammenhalte mit den Ereignissen in
Peking keineswegs als sehr ermuthigend angesehen werden konnte.
verfehlte sie doch nicht, eine günstige Wirkimg auf die Ein-
geschlossenen auszuüben — einer der wenigen vorbeitreibenden
Strohhalme I
Nachtsüber verstärkten die Franzosen unsere Stellung an der
Strassenkreuzung. bei der es übrigens in der ersten Hälfte der
Nacht ziemlich still blieb; nach 9 Uhr begann zwar wieder im
Norden derselbe Fackelzug, wie in der Nacht vorher, jedoch an-
scheinend unter geringerer Betheiligung, auch schwenkte er, auf
ungefähr 300 Schritte mit einer Gewehrsalve empfangen, westwäna
ah und wendete sich den englischen Posten zu, die den zu-
gedachten Besuch ebenfalls ohne Anstrengung abwiesen.
Hingegen erhob sich mit Einbruch der Nacht ein kaum be-
schreiblicher Tumult in der Chinesenstadt; dort tobten die wahr-
scheinlich durch die Schüsse der Deutschen aufgeregten Boxer-
[nassen. Das Geschrei «Scha^scha!« und -.Scha-u — Scha-u!» schwoll
zuT .Stärke des Orcanes an und klang drohend genug — es mussten
wohl Zehntausende sein, die dort wütheten; dazu noch grellen
Feuerschein auf mehreren Seiten, eine wahre Hollennacht! Zwar
wussten wir die hohe Mauer und die geschlossenen Tbore zwischen
uns und der einem Paroxysmus verfallenen blutdürstigen Menge,
auch eine deutsche Wache und ungefähr 200 Mann bisher gut-
gesinnter Truppen des Prinzen Tsching auf dem Wall — wie
aber, wenn sich die Thore öffneten? — Ich glaube nicht, dass damals
auch nur einer der Fremden Schlaf gefunden hat, ~~ Plötzlich —
e» mochte ''il Uhr sein — stieg nordöstlich von uns eine rothe
Signalpatrone auf. die belgische Legalion war angegriffen worden;
Geschrei und Gewehrschüsse aus derselben Richtung zeigten uns
an, dass die Boxer von der kleinen Wache gut empfangen worden.
Augenblicklich ging, nein flog Kollaf mit je sechs Mann unserer Leute
und Franzosen zur Unterstützung ab; als Freiwilliger schloss ich
mich an. nur sehr erstaunt, was mein Freund laufen konnte.
Durch das finstere Wirrsal verödeter Gässchen stürmte die kleine
Schaar vorwärts; Kollaf kannte sich genau aus und führte uns
V
.- - :.- I-eiration. die besonders leicht zu
..- :. .r: Alles ruhigf gfefunden, geg-en die
-. . - 1^. .'.rvard. Als wir athemlos ankamen,
^ - - -.r'Ier in voller Flucht, zwei mussten
- >---": .irhkeit glauben. Unser brav(»r See-
^; 'r Sache famos gemacht, die Rande
s--. • .i.»>> J^ie nicht die Feuerbrände hinein-
• . <:.*.vrr4 abgegeben; die Herren von der
• ^ . :'r.r:stliche Diener hatten erfolgreich
-, ...-> :•- :>i*d wie in der Nacht vorher: die
- ' . ' \:t Fackeln, aber vier Todte zwischt»n
~ '.•".j: spuren. Noch war einiges (lelaufe
-;ron, rasch wurden die betreffenden
- .' r.ichem leisem Klopfen — geöffnen und
* . ^: r. beisammen; zu je vier oder fünf
: r. zusammengebunden, wanderten sit^
^. .-.-.:: und am folgenden Tage nach einem
:^s:t^ Polizeistube. Da man ihnt^n jedc^ch
: ..:< vorwitzige Neugierde und verfrühte
;.:: /.orstörung der belgischen Li^gation
.....-.,. sie als Warnung, künftig früher
.-- 0 v^triemen mit, dit» ihntni di<^ PcMtvSche
. ^ —> verursacht hatte.
: Darcv war auf die Schüsse zu unserem
cn und unzufrieden, dass auch s<Mno
• - .j^vnommen: von seinem Standpunkte hatte
. ■-,< Schicksal der beknschtm Gesandtschaft
. .. .- unsere Angelegt»nheit. er mochte el^cn
\:.;:r.^sen noch nothwendiger brauchen würde
- ->renz war noch rascher v(»rgessen als ent-
<.>-.^ Illieb nach dem misslungenen Ueberfall
- -- Ml \lles still; der betäubende Lärm jenseits
.-.* <ich erst gegen Alorgt-ngrauen. Als er
.... Sprachkundige auch die herzzerreissenden
.^... an denen sich — weiss (lott aus welch
."i^r Zorn der Erretter von Dvnastie und
■■-,- l.Y Tuni, schitMi es fast, als c;b sich dii*
^-'-.en Elemente in d^r nächtlichen Lärmorgie
. _ »- -niiittag ging ruhig hin. An unserer Strassen-
nur wenige chinesische Passanten blicken
205
und befolgten willig die Weisungen hinsichtlich des einzuschlagenden
Weges; die würdevollen, sonst aufgeblasenen Herren in der
kleinen Polizeistube an der Ecke gegenüber der Legation zeigten
sich, durch Dr. von Rosthorn's befehlendes Auftreten und die
unmittelbare Nähe fremder Soldaten eingeschüchtert, äusserst
dienstbefliessen und thaten Alles, was man verlangte. Die Kulis,
welche uns mit Trinkwasser aus einem einige hundert Schritt ent-
fernten Brunnen in der Tschangan-Strasse und mit Eis versahen,
waren fast die einzige regelmässig wiederkehrende lebendige
Staffage in dem Stilleben; ein kleiner Obst- und Kuchenhändler
an der anderen Strassenecke verschwand an diesem Tage und
überliess unseren Wachposten sein winziges Häuschen, die darin
Schutz vor der glühenden Sonne fanden. Dieses langsame Auf-
hören des sonst so regen Verkehrs bedeutete für unsere Dol-
metscher — zwei des Pidgin-Englisch nur sehr wenig mächtige
Boys — besonders aber auch für Herrn von Rosthorn eine wohl-
thätige Entlastung; er war in den letzten Tagen gar zu oft um
seine hilfreiche Intervention angegangen worden, wenn sich der
wachehabende Officier gar nicht mehr mit den Chinesen ver-
ständigen konnte. Wenn sich solche Verlegenheiten nur ein- bis
zweimal im Tage einstellen, mag es hingehen, aber das war wohl
zehnmal öfter geschehen und dadurch die Zeit und Geduld des
Geschäftsträgers, der Alles in einer Person vereinigte — Reprä-
sentant einer Grossmacht, Secretär, Interpret und Rathgeber in
hunderterlei kleinen Angelegenheiten des täglichen Lebens —
schon ungebührlich in Anspruch genommen. Wie ganz anders standen
hierin die übrigen Gesandtschaften mit ihrem zahlreichen Stabe
an Beamten und Studenten*) da, der ihnen erlaubte, überallhin
sprach-, landes- und stadtkundige Personen zu delegiren!
Wie ausserordentlich wichtig und gerade unter den ange-
deuteten Verhältnissen auch schwierig die » Sprachenfrage c an
einem so exponirten Posten wie dem unseren war, wo ein Missver-
ständniss gar leicht fatale Folgen nach sich ziehen konnte, bedarf
gewiss keines besonderen Hinweises.
Aber auch in anderer Beziehung als in militär-polizeilicher
bot gerade auch unser Posten viel Interessantes : wir hatten vollauf
Gelegenheit, als Erste das Elend in seinen erschreckendsten Formen
kennen zu lernen, welches die ruchlosen boxerischen Hände über
die chinesischen Christen gebracht hatten. Wie viele Weiber und
*) England, Frankreich und Russland lassen bei ihren Legationen in Peking die
Anwärter auf Consulats- und diplomatische Posten in China einige Jahre im Chinesi-
schen unterrichten.
206
Kinder, altersschwache Greise kamen nicht bei unserer Linie herein,
um Schutz und Hilfe zu erflehen, nachdem sie, von Haus und Hof
vertrieben, mit knapper Noth oft nur wie durch ein Wunder das
nackte Leben gerettet ! Die meisten unter ihnen hatten mehr denn
eine böse, von Messer und Speer oder Brand herrührende Ver-
wundung und ganz unauslöschlich ist uns Allen der Anblick nament-
lich eines dieser Aermsten geblieben. Drei Tage nach dem Massacre
im Tungtang schleppte sich ein hochbetagter Mann zu uns heran,
kaum noch fähig, von Weitem sein Halskettchen mit dem Crucifix
zu zeigen ; Kopf, Schultern, Arme und Hals waren durch beiläufig
ein Dutzend Hiebe buchstäblich zerfleischt, der ganze Oberkörper
mit geronnenem Blut und Staub bedeckt, in den tiefen Fleisch-
wunden schon Würmer!*)
Am 15. Juni war das Suwangfu, um das sich später so heisse
Kämpfe abspielen sollten, als Zufluchtsort für die christlichen
Chinesen erwählt und auf Andrängen einiger Gesandten, vor-
nehmlich des japanischen, von seinem Besitzer, dem Prinzen Su,
ein grosser Theil des aus mehreren geräumigen Tempeln, Höfen
und Gärten bestehenden Complexes auch eingeräumt worden;
dort lagerten die unglücklichen Flüchtlinge, schliesslich gegen 3000
an der Zahl, unter Aufsicht der Missionäre, dicht zusammen-
gedrängt, die Kranken und Verwundeten gewartet von den Aerzten
der Fremden und unermüdlichen Krankenpflegerinnen aller christ-
lichen Bekenntnisse, voran die katholischen Klosterfrauen. In der
Nacht vom 14. auf den 15. Juni war das Nantang zerstört, viele
der nach dem 5. Juni dorthin geflüchteten Christen ermordet, der
Leiter der Anstalt, Pere d'Addosio, jedoch noch rechtzeitig gerettet
worden; am 15. nachmittags befreiten Deutsche und Engländer
im Verein mit Freiwilligen, unter denen sich auch unser Lands-
mann Wihlfahrt befand, die eingeschlossenen Ueberlebenden und
brachten sie ins Legationsviertel. Dabei hatte es wieder einen
Zusammenstoss mit Boxern und auf Seite letzterer einige Todte
gegeben.
Die verschiedensten Gerüchte circulirten, doch überwogen
die günstigen. Ein kaiserliches Edict sollte ergangen sein, welches
den Unwillen über die beklagenswerthen Gewaltthaten der auf-
rührerischen Räuber und gewisser, mit ihnen verbündeter, übel-
gesinnter Volksschichten ausdrückte, strenge Bestrafung der Misse-
thäter und von drei saumseligen höheren Beamten, darunter der Polizei-
präsident Tschungli, anordnete. Dann hiess es wieder, die Russen
*) Der Greis genas vollständig und wurde allgemein als ein neuer
Beweis der Zähigkeit gezeigt, welche der gelben Race überhaupt eignen ist«
seien so nahe, dass sie noch abends einziehen würden — die
Colonne Seymour jedoch noch immer bei Langfang-. — Der belgi-
sche Gesandte M. de Joostens hatte im Laufe des Tages sein
Archiv in die österreichisch-ungarische Gesandtschaft bringen
lassen und kam gegen S Uhr abends selbst mit seinen Herren
und der Wache dahin, da er die Aufgabe des kleinen Detachements
der »Zenta« nicht länger durch die Bewachung auch seiner Legatton
erschweren wollte; Herr von Rosthorn drang aber in ihn. sich
durch solche Erwägungen nicht leiten zu lassen, sondern die Frage
nur von dem Standpunkte aus zu betrachten, ob er die Sicherheit
seines Hauses durch die kleine Wache, die ihm auf jeden Fall
zur Verfügung bleiben würde, als gewährleistet ansehen könne.
Augenblicklich liege auch gar kein Grund zur Befürchtung vor,
dass die Abcommandirung der acht Mann für unsere Gesandlschaft
eine Verlegenheit bilden würde.
Der belgische Minister kehrte daraufhin mit seiner Escorte
und begleitet von Dr. von Rosthorn zurück; während seiner Ab-
wesenheit war schon an ein Nebengebäude Feuer gelegt worden,
das die Matrosen nun rasch erstickten — sonst wurde Alles ruhig
vorgefunden. Die Nacht verlief bis auf einige dem Uebereifer der
Posten zugeschriebene Schüsse bei Amerikanern und Italienern
ganz ruhig, ein schon nachmittags im Westen der Stadt ausgebrochener
Brand verlosch allmählich.
Samstag den 16. Juni notificirte das Tsungli-Yamen das am
jtorta^e erschienene kaiserliche Decret den fremden Gesandten;
208
der der Fremdensache anscheinend günstige Inhalt, der bisher nur
auf mündlichem Wege bekannt geworden war, erfuhr eine wichtige
Ergänzung durch die Anfrage des Yamens, welches die geeignet-
sten Aufstellungen für die zum Schutze des Legationsviertels aus-
ersehenen Truppen des unter Yunglu'sißefehl stehenden Wuwei-Corps
wären. Auf diesen Punkt wurde selbstverständlich gar keine Antwort
ertheilt, auf nicht officiellem Wege liess man aber die Chinesen
wissen, dass sie sehr gut thäten, ihre Truppen überhaupt so weit als
möglich von den Linien der Fremden zu halten. Ob das Aussprechen
dieses Wunsches daran schuld war oder nicht, so blieben doch
mit Ausnahme der Stadtmauer und der Nordbrücke über den Canal
chinesische Truppen thatsächlich in gehöriger Entfernung von den
Aussenposten der Fremden; auf dem zweitgenannten Punkte wurden
am 18. Yunglu's Soldaten den Engländern gegenüber aufgeführt,
verhielten sich aber noch ruhig.
Der Wortlaut des ganzen Decretes machte allerdings einen
bestechenden Eindruck, enthielt er doch zum erstenmale Aus-
drücke wie »Boxer-Briganten« und ordnete ausserdem die Zerstörung
aller in und ausser der Stadt errichteten Altäre an, womit nur jene
der Boxer gemeint sein konnten, deren mysteriöser Nimbus hiedurch
am schwersten getroffen worden wäre; wäre — denn durch die
bisherigen Erfahrungen mit kaiserlichen Enunciationen und ihren
Folgen war die Ansicht nur zu gerechtfertigt, dass auch diesmal
nur schöne Worte, aber keinerlei Thaten beabsichtigt waren.
Allerdings fehlten auch noch jetzt nicht die unverbesserlichen
Optimisten, welche die im Decrete ausgesprochenen freundlichen
Vorsätze als bare Münze nahmen.
Von den Russen keine Spur, über Seymour nur vage Gerüchte
aus chinesischer Quelle, dass seine Colonne noch immer nicht weiter-
gekommen sei ; dagegen wurden wieder mehr Zuzüge von chinesischem
Militär und hauptsächlich Soldaten Tung-Fuhsiang's beobachtet.
— Vormittags betheiligte sich LinienschiflFs-Lieutenant KoUaf mit
15 Mann an einer von Amerikanern, Engländern und Japanern
unternommenen Razzia gegen Boxer in einem unweit unserer
Gesandtschaft gelegenen Taoistentempel ; geängstigte Nachbarn
hatten das Versteck verrathen. Die Thore wurden gewaltsam
geöffnet und nun begann für die überraschten Boxer ein aussichts-
loser Verzweiflungskampf; Kollaf kam dabei als einer der ersten
Eingedrungenen ins Handgemenge und verschoss die ganze
Ladung seines Revolvers. Kein einziger der »himmlischen Soldaten«
entkam, im Tempel selbst zählte man 38 Todte, im Vorhof noch
einige weitere; auch wurden dort fünf Gefangene gemacht» <
209
chinesischen Polizei wanderten; von den Fremden wurde kein
einziger verwundet, trotzdem die Boxer bei ihrem Erscheinen
Speere und Messer nach ihnen warfen. Der Mehrzahl nach w^aren
es junge, unreife Leute. Man konnte wohl eine reiche Beute an
plumpen Waffen, Abzeichen und Amuleten sammeln, fand auch
eine Wagenladung Brandfackeln, einige Lebensmittel, jedoch keine
gravirenden Schriften. Die ganze, kaum 20 Minuten währende
Affaire lockte zahlreiche Neugierige herbei, die sich aber in respect-
voller Entfernung und ungewöhnlich still hielten; vielleicht dämmerte
doch einigen von ihnen, dass es mit dem Boxerzauber nicht ganz
geheuer war.
Gegen Mittag brach in der Chinesenstadt das verheerende
Feuer aus, das, wie schon angedeutet, bald auch das äussere Thor
und Wachhaus des Tschien-men ergriff.
Nachmittags erschienen im Auftrage von Sir Robert Hart
dessen Stellvertreter Mr. Bredon und Herr von Strauch bei
Fregatten- Capitän von Thomann, um hinsichtlich gewisser Even-
tualitäten seine Entschlüsse zu erfragen, die dann auch für die
Vertheidiger des Zollinspectorates massgebend sein sollten.
Damit war die wichtigste Frage berührt, die uns schon seit
Tagen intensiv beschäftigt hatte.
Blieben die Unruhen auf Angriffe der Boxer beschränkt, deren
Bewaffnung eine primitive war, so konnte man die Legation auch
gegenüber einer noch so grossen Ueberzahl erfolgreich vertheidigen ;
anders, wenn reguläres chinesisches Militär zu offenen Feindselig-
keiten überging. Im letzteren Falle war es klar, dass der Vortheil
guten militärischen Geistes, besserer Disciplin und rationellen
Gebrauches der Waffen unter den bestehenden, rein localen Ver-
hältnissen nicht ausreichen würde, um nur halbwegs organisirten
Angriffen mit Feuerwaffen, aus Gewehren und Geschützen, geschweige
denn einer nicht zu verhindernden längeren Cernirung zu wider-
stehen.
Die Lage der Gesandtschaft war eben zu ungünstig; sie konnte
von allen vier Seiten gleichzeitig angegriffen werden und in diesem
unvermeidlichen Falle hätten die 30 Mann Besatzung — die frühere
Evacuirung der belgischen Gesandtschaft und Einziehung der
dortigen Wache als selbstverständlich vorausgesetzt — trotz der
Verstärkung durch eine Mitrailleuse für die Vertheidigung des
Vierecks von 480 Schritt Umfang nicht ausgereicht.
Vor Allem hätten die Zugänge, d. i. die Verlängerung der
Customsstrasse gegen Nord und die Tschanganstrasse im Osten
und Westen vertheidigt werden müssen; dafür kam jedoch
Wintarlnlder: Kämpfe in China. 14
210
wegen der beschränkten Zahl der Vertheidiger, die es auch ganz
unmöglich gemacht hätte, die geschlossenen Häuserreihen zu
beiden Seiten ersterer zu besetzen, nur die Strassenkreuzung
in Betracht; ein dort errichtetes Reduit, aus dem man gegen
Westen, Norden und Osten hätte feuern können, hätte schon
in Anbetracht dessen, dass man es nur aus Ziegeln in ganz provi-
sorischer Manier auszuführen vermocht hätte, nicht lange gehalten
werden können. Nun steigt aber der Stadttheil im Norden so an,
dass das Reduit oder Blockhaus, wie man es nennen will, eine
unausführbare Höhe hätte haben müssen, um seine Besatzung zu
decken; zur Herstellung von Horizontaldeckungen fehlte jegliches
Material. So, wie die Dinge lagen, hätte also eine Barricade an
der Strassenkreuzung nur einen Werth gegen offen auf beiden
Strassen vorrückende Gegner gehabt, gar keinen aber gegen die
aus dominirender Höhe erfolgende Beschiessung. Es blieb also
nur die Vertheidigung des Complexes innerhalb der Umfassungs-
mauer. Dieser konnte von Norden her ebenfalls eingeschossen
werden, im Osten überhöhte das dicht angrenzende prinzliche Fu
die Mauer und auch die Gebäude so, dass man plongirendem Feuer
ausgesetzt gewesen wäre; ausserdem stand mit Sicherheit zu
erwarten, dass von dieser Seite her Brände hereingeworfen würden,
gegen die man machtlos gewesen wäre ; im Süden schloss sich ein
Gewinkel chinesischer Häuser an, deren Bewohner erwiesenermassen
boxerisch gesinnt waren und die ihren Freunden nur zu gerne
behilflich gewesen, uns auszuräuchern, während unsere Aufmerk-
samkeit durch das Gefecht gebunden. Im Westen konnte sich, nur
durch Strassenbreite von uns getrennt, der Gegner unbehelligt in
dem hoch ummauerten Raum des Prinzengrabes festsetzen und uns
beschiessen. In das Häusergewirr südlich von uns war gar kein
Einblick möglich, ebensowenig in den Raum hinter der Mauer an
der Westseite der Customsstrasse.
Uns im Vorhinein durch Zerstörung des prinzlichen Fu im
Osten und der chinesischen Häuser im Süden etwas freieren Aus-
blick wenigstens nach zwei Seiten hin zu schaffen, ging ebenfalls
nicht an, denn erstens durften wir, solange keine offenen Feind-
seligkeiten bestanden, doch nicht selbst Boxer spielen und dort
Feuer legen und zweitens hätten wir, abgesehen von der eminenten
Gefahr, dass die Brände auf die Legationsgebäude überspringen
würden, damit nicht unser Ziel erreicht, denn die überbleibenden
Mauern niederzureissen, fehlte uns die Handkraft — die um Hab
und Gut gekommenen Nachbarn hätten gewiss nicht mitgeholA»«-
Die Bauart der drei Haupthäuser mit ihren luftigen Bc'
211
war auch die denkbar ungeeigcnetste und hätten wir Tausende und
Tausende von Erdsäcken haben müssen, um sie nur gewehrschuss-
sicher zu machen — von Geschützfeuer, mit dem wir doch unbe-
dingt rechnen mussten, überhaupt zu schweigen. Dazu kam noch,
dass ausser unserer durch den verschärften Wachdienst ohnedies
überanstrengten Mannschaft gar keine Arbeitskräfte und überdies
auch nur Werkzeuge in absolut ungenügender Art und Zahl — je
eine Haue und Schaufel des Gärtners, eine grössere und eine
kleinere Hacke, Hammer, Zange etc. nur aus dem Haushalte von
Frau von Rosthorn, ein paar Schraubenzieher für unsere Gewehre
— zur Verfügung standen und last not least die Brunnen in der
Gesandtschaft nur sehr wenig und noch dazu nicht trinkbares
Wasser enthielten.
Während also einerseits unüberwindliche materielle Verhält-
nisse die Versetzung der Gesandtschaft in vertheidigungsfahigen Zu-
stand verwehrten, drängte sich die Frage auf, ob es möglich sein werde,
mit den übrigen Gesandtschaften in Verbindung zu bleiben — und
hier lag die grösste Schwierigkeit. Einmal auf den Raum innerhalb
der Umfassungsmauern beschränkt, konnten wir jeden Augenblick
unbemerkt abgeschnitten werden und wären dann gezwungen
gewesen, uns den Weg zu den nächsten Fremden, d. i. ins ZoU-
inspectorat oder, weil dieses vermuthlich auch nicht mehr gehalten
sein würde, in die französische Gesandtschaft zu erkämpfen — auf
einer geraden, offenen Strasse wieder von allen vier Quadranten
beschossen und angegriffen. Schon die Wasser-, in zweiter Linie
auch die Proviantfrage hätte aber binnen Kurzem den Rückzug
unvermeidlich gemacht, ob er dann überhaupt noch möglich gewesen
ohne Unterstützung unserer Nachbarn, die dann wahrscheinlich selbst
auch sehr bedrängt waren, konnte Niemand wagen guten Gewissens
zu bejahen; im Gegentheile war vorauszusehen, dass die Räumung
der Legation während eines im Gange befindlichen Gefechtes oder
auch nur nach einigen Tagen, w-ährend deren sich unsere Gegner
unbehelligt in unserem Rücken festsetzen konnten, mit der Auf-
reibung der Handvoll Leute enden müsse.
Dann wäre aber das Opfer an Menschenleben umsonst gebracht
gewesen; die Legationsgebäude waren einfach nicht haltbar und das
Interesse der Allgemeinheit konnte gefördert werden, wenn ihre
Besatzung noch rechtzeitig jene des enger zusammenhängenden
Haupttheiles des Fremdenviertels verstärkte. Die zu vertheidigende
Linie wurde dadurch um ein Erhebliches kürzer, während anderer-
seits die Situation der aufgegebenen Gesandtschaft den Chinesen
in den folgenden Kämpfen keinen offensiven Werth darbot.
14*
216
dass derlei doch nur mehr ein ganz gewöhnliches bedeutungsloses
Vorkommniss sei.
Die Nacht und der ganze folgende Tag, 18. Juni, wurden
durch keinerlei Rencontres gestört — aber auch von dem mythischen
russischen Entsatz kam kein Lebenszeichen. Wie der Director der
chinesischen Bank mittheilte, hatten ihm eingeborene Confidenten
aus Tientsin berichtet, dass auch dort bereits schwere Unruhen
ausgebrochen seien — >wenn ich die Botschaft recht verstanden
habe«, schloss Mr. Houston seine nur für den männlichen Theil
der Fremdengemeinde berechneten Mittheilungen, »so geht's dort
noch viel ärger zu als hier in Peking«.
Das Ereigniss des Tages war der neuerliche, im kaiserlichen
Auftrage erfolgte Besuch dreier chinesischer Minister und eines
weiteren hohen, im Rufe der Beliebtheit bei Hofe stehenden
Beamten beim englischen Gesandten, mit dem, obgleich er nicht
Doyen des diplomatischen Corps war — diese Würde trug der
spanische Gesandte Don Bernardo de Cologan — die Chinesen
doch gegenwärtig am meisten verkehrten, weil der von Vice-Admiral
Seymour befehligte Entsatz ihrer Meinung nach hauptsächlich aus
Engländern bestand.
Unter vielen Betheuerungen des Bedauerns über die Ruhe-
störungen in Peking, die von nun an jedoch gewiss verhindert
werden würden, erkundigten sie sich angelegentlich nach der wirk-
lichen Stärke der Colonne Seymour, wo sie augenblicklich stehe,
und sprachen wieder den Wunsch aus, man möge die fremden
Truppen zur Beruhigung des V'olkes doch nicht weiter als Huang-
Tsun, etwa 18 Kilometer von Peking, kommen lassen. Sir Claude
konnte seinerseits nur schon öfter Gesagtes wiederholen: »Die
Truppen seien nicht in feindlicher Absicht, sondern nur um die
Regierung im Schutze der Fremden und in der Unterdrückung
der aufrührerischen Unruhestifter zu unterstützen, gegen Peking
entsendet worden.« Als hierauf ganz natürlich die Sprache auf
den Widerstand kam, den die Expedition durch die Boxer erfahren
hatte, baten die] Chinesen, dies doch nicht der Regierung zur
Last legen zu wollen — die Antwort, dass man letzteres gewiss
nicht thun werde, solange sich reguläre Truppen von den Feind-
seligkeiten ferne hielten, zwang den Sendungen des Hofes die
vorsichtige Einwendung ab, dass man doch bedenken möge, wie
schwer es den commandirenden Officieren sei, das Ueberlaufen
einzelner Soldaten zu den Boxern zu verhindern! Fast zur
selben Stunde kämpften solche einzelne Ceberläufer — einige
Tausend stark — bei Langfang gegen die Fremden!
217
Die Ansicht Sir Claude's, dass die Gewalthaber den Vertretern
der Friedenspartei im Tsungli-Yamen das harmlose Verg^nügen
überliessen, mit den Fremden noch zu verhandeln, während die
Dinge schon ihren >richtigen« Lauf genommen, ist jedenfalls nicht
anfechtbar.
An diesem Tage hatten wir zum erstenmale erfahren, wie
Peking bei Regen aussehen kann, bald standen auf den Wegen
und im Garten tiefe Pfützen, die Strassengräben drohten überzu-
laufen, kurz ein desperates Bild. Die empfindlich kühle Nacht ver-
lief ganz ruhig, nur hatten wir am Morgen des 19. Juni den Ver-
druss, constatiren zu müssen, dass bis auf zwei alle übrigen
chinesischen Diener, und was am schmerzlichsten, auch unter Mit-
nahme der kostbaren, für den Gebrauch vor dem Wagen unent-
behrlichen Maulthiere verschwunden waren. Da der Gärtner, ein
höchst intelligenter und beherzter Japaner, ebenfalls schon acht
Tage vorher von seiner Gesandtschaft als Freiwilliger reclamirt
worden war, blieben wir fortan sozusagen auf uns allein ange-
wiesen, ein Ersatz für die Flüchtlinge war nicht für schweres Geld
aufzutreiben — die Ratten hatten das sinkende Schiff verlassen!
Bisher war man nicht sehr erstaunt, noch weniger aber beunruhigt
gewesen, dass auch so manche chinesische Familie ihren Wohnsitz
innerhalb des Legations vierteis verlassen hatte und weggezogen
war, dies ging ja Alles auf Rechnung ihrer Furcht ; nur in einem
Falle beklagte man einen Abgang dieser Art: Hsü-tung, Erzieher
des Kronprinzen Pu-tschun und einer der einflussreichsten und
thätigsten Beschützer der Boxer, war, angeblich durch einen Passir-
schein der französischen Gesandtschaft gedeckt, in einen anderen
Stadttheil gezogen und dadurch ein unter Umständen werthvoller
Geisel den Händen der Fremden entschlüpft.
Der geschäftliche Verkehr in unserem Bereiche hatte natür-
lich langsam aufgehört und dadurch war es auch nicht leicht ge-
wesen, einen genügenden Vorrath an Lebensmitteln — die von
Bord der »Zenta« mitgebrachten Conserven nicht gerechnet — für
Wenigstens 14 Tage aufzustapeln. Von Tientsin kam am 19. Juni
noch ein Courier herauf, der berichtete, von Boxern überfallen und
seiner mitgeführten Briefschaften beraubt worden zu sein, und
Weiter aussagte, die Colonne Seymour könne, von vorne und im
R-ücken eingeschlossen, in dem ganz von Boxern beherrschten
-Lande nicht mehr vorwärts; diese schlimmen Nachrichten wurden
jedoch dflf Allgemeinheit einstweilen vorenthalten.
Wiewohl durch die letzten 16 Tage schon genügend vorbe-
ireitet, sich nichts Guten zu versehen, glaubten aber doch die Ge-
218
sandten ihren Augen nicht trauen zu dürfen, als sie nachmittags
vom Tsungli-Yamen identische, vom 19. Juni, 4 Uhr nachmittags
datirte Noten nachstehenden Inhaltes empfingen: »Die Admirale
haben durch den Doyen des Consular- Corps in Tientsin am 18. Juni
vom Vicekönig die Uebergabe der Taku-Forts verlangt und mit
Gewaltanwendung gedroht ; die chinesische Regierung erblickt
hierin einen casus belli*) und demgemäss werden die Gesandten
aufgefordert, Peking binnen 24 Stunden unter chinesischer Escorte
zu verlassen.«
Es war also bitterer Ernst und eingetreten, was kein Mensch
bisher für denkbar gehalten hatte ; die chinesische Regierung warf
in ihrer selbstüberschätzenden Verblendung ganz Europa, den Ver-
einigten Staaten und Japan den Fehdehandschuh hin!
In den ersten Augenblicken machten die Gesandten kein Hehl
daraus, dass sie den entschiedenen Schritt der Admirale als vor-
eilig verurtheilten ; bei ihrer Unkenntniss, wie nahe die gänzliche
Unterbindung jeden Verkehres zwischen der See und dem Inneren
gewesen, ist diese Wallung nur zu erklärlich!
In einer improvisirten Conferenz der Minister wurde der
Abzug nach Tientsin über Tungtschan beschlossen, trotzdem man
sich der beinahe unüberwindlichen Schwierigkeiten, innerhalb der
gewährten Frist die Transportmittel für die ganze Fremden-
gemeinde, d. i. über 900 Personen, wovon mehr als 200 Frauen
und Kinder, aufzutreiben, wohl bewusst war; die Stimmen, welche
sich gegen die Vertrauenswürdigkeit der versprochenen chinesi-
schen Escorte erhoben, drangen einstweilen noch nicht durch.
Dr. von Rosthorn theilte uns diesen ßeschluss mit und demzu-
folge begannen die Vorbereitungen für die Reise, die mangels
anderer Beförderungsmittel zu Fuss zu bew^erkstelligen war; er
selbst war jedoch ebensowenig wie die meisten Militärs, die aber
nicht gefragt wurden, für den Abzug und unternahm noch spät
abends bei den Gesandten Englands und Russlands Schritte, um
eine gemeinsame Action des ganzen diplomatischen Corps ein-
zuleiten.
Vielleicht Hess sich noch Zeit und damit Vieles gewinnen, wenn
man der chinesischen Regierung vorstellte, dass die Aufforderung
zur Uebergabe der Taku-Forts — ihre seitherige Einnahme durch
die Fremden glaubte man annehmen zu können — ganz ohne Vor-
wissen der diplomatischen Vertreter erfolgt sei, und auf die Mög-
*) Nach anderer Ucbersetzung: Die Kriegserklärung. Das Datunf der Uebcr-
reichung der Forderung haben die Chinesen jedenfalls absichtlich um iwei Tage tpiter
angesetzt, als sie thatsächlich erfolgte.
219
lichkeit hinwies, sobald eine Verständigung zwischen Gesandten
und Admiralen wieder hergestellt sein werde, unter gewissen Be-
dingungen zu einem Arrangement zu kommen. v.Rosthorn vermochte
die zarten Bedenken des russischen Ministers gegen einen solchen
Handel nicht zu beseitigen, weshalb auch Sir Claude Macdonald seine
bereits gegebene Zustimmung zurückzog, und kehrte gegen 1 1 Uhr
nachts von seinen erfolglosen Gängen zurück ; die Minister sendeten
aber dessenungeachtet und ohne Vorwissen des österreichisch-
ungarischen Geschäftsträgers noch in der Nacht eine vom Doyen
unterfertigte Note an das Tsungli-Yamen. In dieser wurde zwar
der Entschluss, Peking zu verlassen, mitgetheilt, gleichzeitig jedoch
auf die Unmöglichkeit hingewiesen, die Abreise binnen 24 Stunden
ohne Beihilfe der chinesischen Regierung zu organisiren, nach den
Massnahmen (der Chinesen) gefragt, welche zum Schutze der Ab-
ziehenden getroffen würden, und endlich verlangt, dass man die
auf dem Wege gegen Peking befindlichen Detachements (Seymour's
Colonne) vom bevorstehenden Abzug der Fremden verständige,
damit sie sich mit den Ministern vereinigen können. Den Schluss
bildete das Ansuchen um eine Zusammenkunft mit den Prinzen
des Yamens um 9 Uhr vormittags des 20. Juni behufs mündlicher
Verhandlung aller dieser Fragen.
Der Morgen letzteren Tages brach an, ohne dass vom Yamen
irgend eine Antwort eingetroffen wäre — an und für sich ein sehr
grober Verstoss gegen die gewöhnlichste Courtoisie im Verkehre —
das in der französischen Gesandtschaft versammelte diplomatische
Corps sandte daher um 7 Uhr morgens eine zweite Depesche an
das Tsungli-Yamen, in der das Verlangen gestellt wurde, den Ge-
sandten eine Verständigung mit den Admiralen zu ermöglichen.
Als Zweck dieser Verständigung wurde angegeben, die Admirale
wissen zu lassen, dass nach Ansicht des diplomatischen Corps die
Ankunft der erwarteten Verstärkungen der Legationswachen die
Sicherheit der Fremden in Peking genügend verbürge und somit
die Taku-Forts zurückgegeben werden könnten.*)
Da das Yamen noch immer keine Antwort gab, erschien es
jedoch mehr als zweifelhaft, ob die Prinzen um 9 Uhr die fremden
Minister empfangen würden ; der deutsche Gesandte erklärte, sich
mit seinem Dolmetsch, Herrn Cordes, dorthin begeben zu wollen,
*) Officicller Bericht des französischen Gesandten ddo. Peking, 28. August 1900.
In der Darstellung Sir Claude Macdonald's geschieht dieses Briefes keiner Erwähnung,
man sieht jedoch aus dem Rapport M. Pichon's, dass die Idee Rosthom's doch durch-
gegriffen hat. von Rosthom erwähnt diese rweite Note nicht eigons, weil er erst nach
, ihrer Abtendang, nm 8 Uhr, Kenntniss von dem Meeting erhielt und hinging.
220
da er seinen Besuch in einer eigenen Angelegenheit zu dieser
Stunde angesagt habe, und bestand ungeachtet der Vorstellungen
seiner Collegen, namentlich M. Pichon's, die ihn auf die sichtliche
Gefahr, über unsere Linien hinauszugehen, aufmerksam machten,
auf der Ausführung seines Vorhabens. Bei der Gelegenheit wollte
er auch eine Auskunft wegen des Empfanges des gesammten
diplomatischen Corps einholen.
Ungefähr um 8% Uhr passirten Baron Ketteier und Herr
Cordes in ihren Sänften die Barricade bei der österreichisch-unga-
rischen Gesandtschaft, ersterer schickte fünf Seesoldaten, die er
als Escorte mitgenommen, von dort zurück und setzte seinen Weg,
nur von zwei Mafus begleitet, fort. Kurze Zeit darauf kam einer
der letzteren im Galopp zurück und berichtete ganz verstört, der
Minister sei am Hatamen-Boulevard durch chinesische Soldaten er-
schossen, der Dolmetsch schwer verwundet worden!
Herr von Rosthorn eilte mit dieser Unglücksbotschaft in die
französische Legation zurück, wo noch die meisten Gesandten ver-
sammelt waren. Der deutsche Detachement-Commandant Ober-
lieutenant Graf Soden brach allsogleich mit 20 Mann nach der
Stätte auf, wo das abscheuliche Attentat vorgefallen, musste sich
aber, von allen Seiten angeschossen und da die Sänfte mit Baron
Ketteier an dem vom Mafu bezeichneten Punkte nicht mehr zu
sehen war, wieder unverrichteter Dinge zurückziehen.
Herr Cordes war inzwischen schwer verwundet in der ameri-
kanischen Mission zunächst dem Hatamen angelangt und gab, als
er nach einer schweren Ohnmacht wieder zu sich gekommen und
in die deutsche Gesandtschaft transportirt worden war, folgende,
nur auszugsweise wiederholte, die ganze Niedertracht des An-
schlages immerhin aber kennzeichnende Darstellung. »Wir hatten
eben den Hatamen-Boulevard erreicht, als aus einem kleinen Polizei-
haus ein Mandschu-Soldat von rückwärts an die erste Sänfte heran-
trat und unmittelbar darauf durch deren Seitenfenster einen Schuss
abgab; entsetzt hatten meine Kulis die mich bergende Sänfte zu
Boden gestellt und war ich aufgesprungen, als ein zweiter Schuss
mich in die Hüften traf. Obwohl stark blutend, lief ich, von Ge-
wehrschüssen verfolgt, durch die nächste Gasse, hinter mir zwei
mit Lanzen Bewaffnete her; fast am Ende meiner Kräfte, sah ich
mich um und erhob dabei einen mir in der Hand gebliebenen
Theil des Sänften verschlusses, was meinen Verfolgern genügfte,
um von mir abzustehen. Bald darauf fiel ich, der Bewusstlosigkeit
nahe, an der vSchwelle einer der amerikanischen Missionen nieder»
Freiherr von Ketteier muss in den Kopf getroffen worden und auo»
blicklich todt gewesen sein, denn ich habe weder einen Laut von
ihm ßfehört. noch eine Bewegung wahrgenommen.*
Aus der Erzählung des nur mit so knapper Noth dem Tode
Entronnenen ging klar hervor, dass der Ueberfall durchaus nicht
das Werk eines auf eigene Faust handelnden Soldaten, auch nicht
ein Act von Boxern gewesen, sondern jedenfalls auf höhere Ver-
anlassung als ein verächtlicher Mord in Scene gesetzt worden war.
Die Gesandten, welche eben eine neuerliche Note, die dritte
seit Empfang der Aufforderung, Peking zu verlassen, redigirt
hatten, waren durch die Hiobsbotschaft ganz consternirt und
schickten, noch bevor sie Herrn Cordes' Aussage kannten, in der
allerdings sehr schwachen Hoffnung, dass ihr College vielleicht
doch noch am Leben sei, eine schriftliche Anfrage nach dem Ver-
bleib des deutschen Ministers an das TsungU-Yamen ab.
Den deprimirenden Eindruck des neuesten Ereignisses auszu-
malen, würde schwer fallen; welcjie Aussichten eröffneten sich aber
für unsere bevorstehende Reise nach Tienlsin. durch ein in wildem
Aufruhr gegen alle Fremden befindliches Land, dessen Regierung
vor nichts mehr, auch nicht vor dem infamsten Bruch des Völker-
rechtes zurückschreckte! Wenn schon in der Hauptstadt dieses auf
seine Jahrtausende alte Culiur pochenden Reiches nicht einmal
mehr der Vertreter eines der mächtigsten Herrscher vor hinter-
listigem Meuchelmord sicher war. was sollten erst wir von der
angekündigten Escorte erwarten? Wir machten uns gegenseitig
kein Hehl aus unseren düsteren Vorahnungen und waren darauf
gefasst. draussen im freien Felde einen letzten Verzweiflung.'i-
kampf auszufechten. der nur mit unserem Untergang, aber wenig-
sten.s mit den Waffen in der Hand, enden konnte.
Unsere Vorbereitungen wären einfach genug gewesen: Pro-
viant und Munition auf ein paar Karren verladen, alles Uebrige
musste preisgegeben werden, aber da fehlten uns eben die Maul-
thiere! Nach vielen fruchtlosen Versuchen gelang es endlich, ein
Maulthier für einen unserer Wagen und einen zweiten bespannten
Karren aufzutreiben; beides verdankten wir dem Zuvorkommen
des* Attaches der belgischen Gesandtschaft Herrn Merghelinck.
Noch bevor die Transportmittel zugesichert waren, liess Fre-
galten-Capitän von Thomann die Leben.smittel für den achttägigen
Marsch — solange würde man mit der ganzen Colonne wohl bis
Tientsin brauchen — in die französische Gesandtschaft schaffen;
Jedermann rausste das Mitzunehmende aufs Aeusserste beschränken,
waa man eben selbst tragen konnte. Einige Sorge bereitete auch
\ schwache Handwagen unserer Mitrailleuse. die natürlich mit-
224
gestehen, werde auch den Fremden Schutz angedeihen
lassen. Die Gesandten mögen nicht selbst ins Yamen
kommen, weil der Weg dahin nicht sicher, aber sich schrift-
lich eingehend über die Absichten ihrer respectiven
Regierungen äussern, von denen man sich chinesischer-
seits im Voraus schmeichle, dass sie friedliche seien. Der
Wortlaut des Schriftstückes machte zweifellos einen guten Ein-
druck.
Nachdem M. Pichon, sich auf die Ansicht Sir Robertos stützend,
den unverhofften günstigen Umschwung der Dinge auseinander-
gesetzt, fügte er hinzu, dass man nun umso eher beruhigt in
Peking bleiben und die weitere Entwicklung abwarten
werde! Umso eher? Ja, war denn nicht der Exodus be-
schlossen worden?
Zu dieser vorgeschrittenen Stunde erst erfuhren wir,
die bis zum letzten Augenblick unsere Pflicht als äusserster isolirter
Vorposten erfüllt hatten, dass sich die Gesandten nach dem
Abgang vonDr. vonRosthorn aus der französischen Gesandt-
schaft anders besonnen und die Entscheidung getroffen
hatten, lieber in Peking zu bleiben, als sich der offenen
Gefahr eines Massacres unterwegs auszusetzen!
Kein Mensch hatte unserer gedacht, so sehr war Jedermann
von seinen eigenen Sorgen erfüllt gewesen, so selbstverständlich
erschien allen Eingeweihten der neue Entschluss!
Als sich endlich dieses in mancher Beziehung so fatale —
Missverständniss — wir wollen deshalb gegen Niemanden Steine
werfen — gelöst hatte, kehrten wir sogleich in die kaum verlassene
Gesandtschaft zurück.
vonThomann's erster Befehl war, auf den Gartenmauern nur die
nothwendigsten Posten aufzustellen und alle disponiblen Hände
zum Wiederaufbaue unserer Barricade zu verwenden — ein Theil
der Leute war mit der schwer fortzubringenden Mitrailleuse und
den Karren, die bei der französischen Barricade nicht so leicht
durchkommen konnten, zurückgeblieben.
Kaum wurden jedoch die ersten Ziegel wieder geschichtet,
so prasselte aus dem oberen Stadtviertel jenseits der Tschanganstrasse
ein Hagel von Geschossen auf uns nieder, die wir ganz deckungs-
los auf der Strasse standen! Nur zu gut erkannten wir die aus
Oesterreich importirten Gewehre an ihrem scharfen Knall, aus allen
Häusern, vorne und von weiter seitwärts, also auf 30 — 100 Schritt
Entfernung, schössen die wohlverborgenen Soldaten Tung-Fiihsiang''8
— wie mir scheint, hatte der Reigen- noch einige Minuten •
225
4 Uhr begonnen. Das chinesische Militär war zu offener Feind-
seligkeit übergegangen.
Da gab's keine Zeit zu verlieren und so wurde, das Feuer
erwidernd, der für diesen Fall beschlossene Rückzug angetreten;*)
als wir endlich die französische Barricade erreicht hatten, konnte von
dort aus sogleich die Antwort auf den Ueberfall beginnen. Matrose
Petrovac, einer der Posten auf der Umfassungsmauer, fehlte —
kam jedoch unmittelbar, nachdem sein Abgang erhoben worden,
mit einem Weichschusse durch beide Oberschenkel an und wurde
als erster Verwundeter den sachkundigen Händen des Arztes in
der französischen Legation, M^decin Major Dr. Jean Matignon,
übergeben.
Das Ehepaar von Rosthorn war auf dem Weg durch den Stall-
tract und dann auch durch die Customsstrasse glücklich aus dem
Kugelregen zurückgekehrt — die Freude, wieder auf unserem Grund
und Boden zu stehen, hatte nicht fünf Minuten gedauert!
So also sah der eben wieder angekündigte Schutz durch
die chinesische Regierung aus? Gut denn, dass wir es wussten,
von jetzt an standen wir im Krieg, allerdings in einem fast aus-
sichtslosen, aber dafür waren auch alle Rücksichten bei Seite zu
werfen, und wenn den Chinesen daran lag, uns Fremde sammt und
sonders auszurotten, so sollten sie sich's ein Stück Arbeit kosten
lassen!
*) Viele bisherige fremdländische Berichte, voran wieder der famose aus Dr. Morrison's
Feder und ein von Sir Claude Macdonald in seiner Eigenschaft als »Obercommandant«
der Vertheidigung an den Marquis Lansdowne gerichteter Rapport vom 24. December
1900 ignoriren das Factum gänzlich, dass das österreichisch-ungarische Detachement
▼on dem Beschlüsse, in Peking zu bleiben, erst erfuhr, nachdem es die Legation ver-
lassen und seine eigene Barricade zerstört hatte, und kommen auf dieser Basis zu ganz
falschen Schlüssen. Wie frivol aber speciell der zweite, auch dem englischen Parlamente
▼orgelegtc Bericht verfasst wurde, zeigt Folgendes: Sir Claude schildert — ausfuhrlich in
seinem Sinne — die Ereignisse am 20. Juni nachmittags und schreibt unter dem 21. Juni
wörtlich Nachstehendes: »Die österreichisch-ungarische Gesandtschaft wurde stark ange-
griffen: ein französischer Seesoldat (!) wurde getödtet und ein Oesterreicher verwundet
hinter der österreichischen Barricade; dies führte zum Rückzug der Oesterreicher
auf die französische Legation, wodurch die ganze Ostseite des grossen Blocks der Zoll-
gebäade preisgegeben wurde, die bis dahin durch Freiwillige des Seezolldienstes gehalten
worden waren.« Datum, Bestand der Barricade, der Umstand, dass auch noch Franzosen an
der Vertheidigung dieser nicht mehr bestandenen Barricade theilgenommen haben, Ursache
des Rückzuges der Oesterreicher-Ungarn, endlich, dass das Finanzinspectorat noch besetzt
gewesen, das Alles ist absolut unrichtig. Es muss dem Leser überlassen bleiben, sich
daraus ein Bild zu machen, welcher Werth solchen o f f ic i eilen Berichten zukommt. Kann
es da noch wnndemehmen, wenn Mitkämpfer aus dem englischen Lager — d. h. solche
▼eiBchiedener Nationen, die in der englischen Gesandtschaft ihr Wissen sammelten — in
ihren »Selbtterlebten« eine noch kühnere Phantasie entwickeln ?
UlBlwkalder: Kämpfe in China. 15
Nun waren wir in Peking hcimatslos; das österreichisch-
ungarische Detachement zog' als Verstärkung der franzosischen
Garnison, freudig begrüsst, in diese Gesandtschaft ein und nahm
gleich an dem Feuergefecht von der Barricade aus iheil. Dr. von
Rosthorn trat als Freiwilliger der Besatzung bei. nur Frau von Rost-
horn musste dem allgemeinen Beschlüsse Rechnung tragen un<
ebenso wie alle übrigen Frauen vorderhand in die englische G<^
sandtschafl übersiedeln.
Dort fanden sich alle Minister, bis auf den italienischetii
Marchesc Salvago Raggi. und tiie beiden Geschäftsträger von
Deutschland und Oesterreich-Ungarn. die gesammten Zollbeamten,
nichtkatholischen Missionäre, die fremden Professoren der chinesi-
schen Universität, dia
wenigen Angestellten
der beiden Banken und
Kaufleute mit ihren
Familien und treuge-
bliebenen chinesischen
hii^nern zusammen, so-
weit der männliche
Theil es nicht vorzog,
bei der Verlheidig^ung
ili;r respectiven Lega.-
tionen mitzuwirken.
Die britische Ge-
sandtschaft eignete sich
vermöge ihrer Ausdeh-
nung, namentlich aber^
ihrer vorth eilhaften, relativ geschützten Lage und der Stärke ihrep
Umfassungsmauern und Gebäude am besten zu diesem Zwecke; sie
bot von allen in Frage kommenden Niederlassungen einzig wirk*
liehen Schutz, so dass sie als Centrum und gleichzeitig letztei
Rückzugspunkt erwählt wurde.
Dort wurde auch unter der segensreichen Leitung des deutschen
Stabsarztes Dr. Carl Velde. dem ausser Erfahrungen auf den
Schlachtfeldern Thessaliens eine im Laufe eines mehrjährigei
Aufenthaltes in Peking en.vorbcne eingehende Kenntniss der fiii
die.sen Ort typischen Verhältnisse zu Gebote stand, ein Spita]
eingerichtet, das nur zu bald an Ueberfüllung litt: glöcklirh^rwei'
fehlte es überhaupt nicht an Aer^icn. Dr. P' " ."
Gesandtschaft. Dr. Lippett vom amerik.n
Dr. Coltmaii von der Pekinger Universität.
227
russischen und japanischen Gesandtschaften, einer von der franco-
belgischen Bahngesellschaft, sie Alle stellten sich zur Verfügung
und fanden an geistlichen und Laien-Krankenpflegern, letztere
Damen aus den Legationen, und auch Sanitätsmannschaften ein-
zelner Detachements nimmermüde Helfer.
Der grösste Theil des Proviantes, das entbehrliche Gepäck
und die Reservemunition wurden gleichfalls successive in der eng-
lischen Gesandtschaft deponirt. Naturgemäss brauchte es einige
Zeit, bis das Alles einigermassen in Ordnung kam, und es ist sicher-
lich kein geringes Verdienst des praktischen angelsächsischen Sinnes,
dass durch das Zusammenwirken von Specialcomit^s für Verpflegung,
Unterkunft, sanitäre Massnahmen, Fortification, Lösch wesen, Chinesen-
departement u. s. w. trotz der eingetretenen Uebervölkerung des
kleinen Complexes für das Zusammenleben so verschiedener Ele-
mente leidliche Verhältnisse geschafften wurden.
Der Versuchung widerstehend, in weitere Details dieses ganz
eigenartigen, manchmal den Vergleich mit einem Jahrmarkt her-
vorrufenden Lagers aller Nationen einzugehen, sei nur im Allge-
meinen bemerkt, dass es im Besitz fast aller materiellen Hilfs-
mittel stand und dort auch ein Ueberfluss an relativ unbeschäftigten
geistigen Mitarbeitern herrschte.
Von den Gesandtschaften östlich des Canals waren am 20. Juni
nachmittags die italienische, die französische und die deutsche
besetzt; die japanische und spanische bedurften, durch die vor-
genannten und das Fu gedeckt, keiner Vertheidiger, so dass
die japanischen Matrosen und Freiwilligen unter Oberstlieutenant
Shiba die Zugänge zum Fu und zum Theil dieses selbst besetzen
konnten.
Von den weiteren, im Besitze Fremder befindlichen Gebäuden,
d. i. ein japanisches Hotel, das der Firma Jardine, Matheson
und Co. gehörige Haus, der alte Peking-Club, die Filiale der Hong-
kong- und Shanghai-Bank, das Kaufhaus Kierulff^ und Hotel de
Pekin, war nur mehr das letztgenannte bewohnt. Dieses mit der
französischen Gesandtschaft durch zwei Breschen in der Mauer
letzterer direct verbunden, bildete nicht nur durch die in ihm er-
liegenden Vorräthe eine Hilfsquelle von grosser Wichtigkeit, sondern
barg in seinen Besitzern, dem Schweizer August Chamot und seiner
Gattin, einer gebürtigen Amerikanerin von ausserordentlicher Kühn-
heit und Energie, zwei für die Geschicke der Eingeschlossenen
providentielle Persönlichkeiten.*) Die amerikanische Mission beim
♦) Um diese beiden Personen, deren Verdienste nicht genug gewürdigt werden
dem Leser vorzustellen, brauche ich nur den Ausspruch von Linienschiflfs-
15*
223
Hatamen, welche von einem Piket der Legationswache unter Captain
Hall besetzt gewesen, war um Mittag evacuirt worden.
Westlich des Canals waren die holländische Gesandtschaft,
die russo-chinesische Bank und das Kaufhaus Imbeck schon
geräumt oder noch in der Räumung begriflfen. Die englische,
russische und amerikanische Gesandtschaft stellten, durch einige
Strassenbarricaden verbunden, ein zusammenhängendes Ganzes dar.
Von der gänzlich isolirten nordlichen Mission, dem Peitang,
waren bis inclusive 17. Juni im Allgemeinen günstige Nachrichten
eingelaufen; die Garnison, 30 französische Matrosen unter -Linien-
schiflFs-Fähnrich Henry und 11 italienische unter Lieutenant Olivieri,
hatte im Vereine mit den Missionären und 400 mit Lanzen bewaff-
neten Christen bereits zwei grössere AngriflFe von Boxern erfolg-
reich abgeschlagen.
Dank der Voraussicht des Bischofs Msgr. Favier wusste man
sie mit Lebensmitteln auf einige Wochen versorgt — war es schon
vor dem 19. nicht räthlich erschienen, die Einwohnerschaft des
Peitang in das Legationsviertel übersiedeln zu machen, so hatten
es die Ereignisse in den letzten 24 Stunden ganz und gar aus-
geschlossen ; beklommenen Herzens musste man sich darein fügen,
die dort Eingeschlossenen, im Ganzen an 3000 Menschen, allein
ihrem Schicksale zu überlassen.
Bevor wir in der Erzählung weitergehen, dürfte es am Platze
sein, die Kräfte der Vertheidiger — nach Gesandtschaften gruppirt
— zu recapituliren.
Lieutenant Darcy in seinem Buch »La Defense de la L^gation de France« anzuführen
und zu ergänzen:
». . . Chamot wusste Pferde, Maulesel und Getreide zusammenzubringen in einer
Menge, um damit alle eingeschlossenen Fremden und 3000 chinesische Christen zwei
Monate lang zu ernähren. Er entdeckte Mühlsteine und richtete damit yier Zimmer des
H6tels als Mühlen ein. Wie hat er das gethan? Das ist noch für Viele eine ungelöste
Frage und insbesondere für mich. Aber es ist nicht zu leugnen, dass ohne ihn die
chinesischen Christen noch vor der Ankunft der Truppen Hungers gestorben wären.
Seine wunderbare Thätigkeit, seltene Intelligenz, sein Muth und Kaltblut, seine Energie
Hessen ihn alle Schwierigkeiten überwinden. Müller, Bäcker, Koch, Erbauer von Barri-
caden und Krdwerken, Führer der Kulis etc. etc. — Chamot war das Alles, hat während
dieser Belagerung Alles besorgt und Alles aus eigenem Antrieb, ohne um die Meinung
oder den Rath von irgend Jemanden zu fragen. Diejenigen, die am wenigsten
gerne seine unschätzbaren Eigenschaften anerkannten, zauderten nicht,
sich an ihn zu wenden, wenn sie sich in Verlegenheit befanden.« Ich fuge
noch bei, dass Frau Chamot ihrem Gatten nie von der Seite wich, an seiner Seite
in den Barricaden kämpfte und dabei noch immer Zeit fand, tausenderlei kleine
Dienste im Verborgenen zu leisten, von denen man annahm, sie wären Ton ihrem
chinesischen Personale ausgeführt worden, kurzum in jeder Beziehung mit ihrem Manne
wetteiferte.
229
Officiere Mann
Englische Gesandtschaft: 3
79
Russische
Amerikanische
79
53
(Marine-Infanterie und
3 Matrosen)
1 Nordenfeldt-Mitrailleuse
(davon 7 Kosaken, der Rest
Matrosen)
(davon 3 Matrosen, der Rest
Marine-Infanterie)
I Gewehrmitrailleuse
Deutsche »
Französische »
Franzosen
Oesterreicher- Ungarn
Italienische Gesandtschaft:
1
3
5
1
50
45
30
28
Japanische
(Fu)
4
25
I . Gewehrmitrailleuse
1 37 Millimeter Schnell
feuerkanone
Zusammen 21
389
Hiezu kamen noch an Freiwilligen*) etwa 50 vorläufig in der
englischen Legation concentrirte, 5 in der französischen Legation
und 17 Japaner; in Summa zur Vertheidigung der ganzen, rund
3^4 Kilometer messenden Linie 482 Mann, 1 kleincalibrige Schnell-
feuerkanone, 1 altartige Mitrailleuse und 2 Maschinengewehre.
Schon diese Zahlen allein zeigen, dass man sich in einer recht
prekären Lage befand. Verschlimmert wurde sie aber noch durch
die Beschränktheit verfügbarer Munition. Oesterreicher-Ungarn
und Amerikaner waren am besten versehen, d. i. 500**) Patronen
per Gewehr, ausserdem konnten wenigstens erstere auch die
Dotation der Mitrailleuse, 4000 Schuss, nöthigenfalls für die Gewehre
verwenden. Dann kamen Franzosen mit circa 350, Engländer mit
ungefähr 250, Deutsche mit 220 ; seitens der japanischen Matrosen
liegt keine verlässliche Angabe vor, doch sollen sie nur etwa
*) Hier siud nur jene FreiwiUigcn genannt, die wenigstens mit Kugelgcwehren
bewaffnet waren; als späterhin Gewehre von Todten und Verwundeten frei und solche
>on gefaUencn Chinesen erbeutet wurden, konnten noch mehr waffenfähige Männer
bewaffnet werden, so dass im Ganzen rund 100 Civilpersonen als Combattanten auftraten.
**) Die Zahlen beziehen sich auf das Datum des Eintreffens des Detachements ;
der Munitionsverbrauch vom 13. Juni angefangen, an und für sich unbedeutend, spielte
ximsoweniger eine Rolle, weif er gerade nur die am besten versehenen Nationen betraf. Die
X<.ussen hatten ein Geschütz in Tientsin gelassen, die Munition — DO Schuss — war
^ber nach Peking gekommen; die kleine italienische Kanone war mit 70 Patronen dotirt.
Ausserdem befanden sich in der englischen Gesandtschaft etwa 70 Pfund altes Pulver,
^ic viel Patronen die Freiwilligen besasscn, ist nicht genau bekannt.
230
120 Schuss per Gewehr gehabt haben; die Italiener besassen 90,
die Russen sogar nur 60 Patronen per Mann.
Die stricteste Oekonomie mit diesen unersetzlichen Vorräthen
war somit geboten.
Ueber die Stärke unserer Gegner, nur vom regulären Militär
sprechend, fehlen heute noch zuverlässige Daten; man schätzte
ihre Zahl auf 15.000 Mann, die Palasttruppen nicht eingerechnet.
Wie viele Boxer auf ihrer Seite standen, entzieht sich vollends
der Beurtheilung. Von den regulären Truppen führte die Hälfte
moderne kleincalibrige Gewehre, der Rest Einlader des älteren
Systems Mauser. Hinsichtlich der Artillerie der Chinesen waren
wir insoferne ganz auf Vermuthungen angewiesen, als wir Stück-
zahl und Caliber nicht kannten, wohl aber wussten wir, dass
moderne Hinterlader vorhanden waren. —
Die Chinesen setzten — einmal im Zuge — das Feuer von
der Nordseite des Legationsviertels aus den Häusern östlich der
Nordbrücke und aus der Kaiserstadt fort und richteten es gegen
die französische Barricade, das Fu und die englische Gesandt-
schaft.
Als erstes Opfer fiel, durch einen Kopfschuss tödtlich getroflfen,
der französische Matrose Julard; bei Sonnenuntergang vSah man
von der englischen Gesandtschaft aus, wie Mr. Huberty James, Pro-
fessor an der Pekinger Universität, von drei Tung-Fuhsiang-Reitern
verfolgt und angegriffen wurde. Sein Geschick war insoferne ein
besonders tragisches, als er kurz vorher noch zu einem letzten,
allerdings hoffnungslosen Verständigungsversuche seine Hilfe
geboten hatte. Wie der englische Gesandte berichtet, ersuchte
Prinz Su, durch den Ausbruch der Feindseligkeiten erschreckt,
den zufällig im Fu bei ihm w^eilenden Mr. James, an Sir Claude
die Botschaft zu überbringen, dass nach seiner Ueberzeugung noch
jetzt die Einstellung der Gewaltmassregeln erreicht werden könnte,
wenn er dem Hofe die beruhigende Versicherung zu überbringen
in der Lage wäre, dass die fremden Mächte keine Theilung Chinas
beabsichtigen. Mr. James eilte damit in die englische Legation
und erhielt vom Gesandten die Zusicherung im Namen von Gross-
britannien, Sir Claude glaubte auch bezüglich der übrigen Nationen
das Nämliche behaupten zu können; Prinz Su brach sofort nach
der Kaiserstadt auf, wo er aber mit seinem Vermittlungsantrage
kein Glück gehabt zu haben scheint. Mr. James dürfte im Ver-
trauen auf seine perfecteKenntniss des Chinesischen der Versuchung
erlegen sein, mit den Soldaten ausserhalb des Fu unterhandeln zu
wollen; man sah ihn zwar nicht fallen, doch besteht kein Zweifd
231
darüber, dass er ein grausames Ende gefunden hat — sein Leich-
nam wurde auch später nicht gefunden.
Bei der französischen Barricade ging's äusserst lebhaft her.
Unsere Gewehrmitrailleuse war dort aufgefahren worden und
that vorzügliche Dienste, ihr kugelfester Schild gab einen aus-
gezeichneten Beobachtungspunkt, wenn ihn auch so mancher Schuss
mit einem Geräusche wie von einem Hammerschlage traf. Volle
36 Stunden währte dort das Feuer auf unsere Stellung, bald
schwächer, bald stärker; erwidert wurde es nur dann, wenn sich
Chinesen sehen Hessen.
Während man allseits an der Verstärkung der Barricaden
arbeitete, waren unsere Gegner nicht müssig und legten rings um
uns Feuer, vorderhand noch in weiterem Umkreise, bald aber
kamen sie näher und näher; in der Nacht zum 21. Juni brannten
die holländische und belgische Legation, sowie die amerikanische
Mission beim Hatamen nieder.
Die erste Nacht in der französischen Gesandtschaft war ver-
gleichsweise noch ruhig; die beiden Detachements wechselten im
Dienste an der Barricade, zu der man durch eine Bresche in der
Nordmauer und auf einem kleirfen Umwege durch einige enge
Gässchen fast ganz gedeckt herankonnte — nur das letzte unge-
schützte Stück musste rasch durchlaufen werden. Die Barricaden-
besatzung war stark genug, um auch gegen die japanische Stellung
und durch die enge Gasse bis an die Stadtmauer Sicherungs-
patrouillen auszuschicken, und so durfte sich die Hälfte der Lega-
tionsbesatzung einige Ruhe gönnen; dass von Nord, Nordwest und
sogar aus Südost, wahrscheinlich vom Hatamen her, des Oefteren
Kugeln über den Garten pfiffen, that dem wohlverdienten Schlummer
keinen Abbruch. Bis spät in die Nacht hinein herrschte aber in
den zahlreichen Gebäuden ein reges Treiben, die nach der eng-
lischen Gesandtschaft übersiedelten Familien hatten noch Manches
holen zu lassen und so campirten die Neuankömmlinge einstweilen
im Fremdenpavillon, in der Capelle und ich mit den Matrosen der
»Zenta« im Nordstalle; einige Störung bereiteten nur Pferde, die
sich losgerissen hatten und nun, wo ihre Wärter sie nicht mehr
betreuten, nach ihrem besten Wissen und Erinnern Futter suchten.
Der halbe 21. Juni verging mit dem Transport der Reservemuni-
tion, des Proviants und Gepäcks in die englische Gesandtschaft
und um sich ein bischen einzurichten, d. h. es wurden einige weitere
Schützenstände an der Nordmauer und dann noch einige Lager-
stätten für die Leute improvisirt. Ihre Verpflegung übernahm
Chamot, wodurch wir einer grossen Sorge überhoben wurden;
232
Officiere und Freiwillige etablirten in dem Hause des beurlaubten
ersten Secretärs, Baron D'Anthouard, eine Messe, deren Tafel in
den ersten Wochen dank den von Mr. und Mme. Pichon gross-
müthig überlassenen Vorräthen an Conserven und Getränken im
ganzen Fremdenviertel sogar in dem Ruf besonderer Leckerheit
stand — nicht ganz mit Unrecht. Das Schönste daran war aber
der freudige Geist einer sich rasch entw^ickelnden herzlichen
Kameradschaft; Darcy wollte durchaus nicht präsidiren und um
jeden Preis Rosthorn oder Thomann diese Ehre überlassen. Herber,
dieser bei aller Tüchtigkeit und Entschlossenheit so überaus
bescheidene junge Mann erschöpfte sich in Aufmerksamkeiten für
die Anderen, Dr. Matignon, von stets sprühender Laune, fand an
Pelliot, der das zuweilen undankbare Amt eines »chef de gamelle«
übernommen, in chinesischen Fragen einen stets schlagfertigen
Widerpart, Professor Gie^ter von der Pekinger Universität fiel da
oft mit dem Gewicht seiner Erfahrungen als Autorität ein, sogar
Hauptmann Labrousse, auf dem Wege von Tongking nach Sibirien
in Peking abgeschnitten, machte dem Geist des Hauses Concessionen
und trat aus seinem herben Ernst heraus; Veroudart und Feit, zwei
angehende Dolmetsche der Gesandtschaft, überraschten uns bei
jeder Gelegenheit durch ihre treffenden Bemerkungen über die
kleinen und grossen Vorfälle intra et extra muros.
Späterhin kamen noch mehr Freiwillige, Franzosen, Belgier
und ein Italiener hinzu, die wir alle noch kennen lernen werden;
das würdigste Präsidium erhielt die kleine Messe aber erst, als
Frau von Rosthorn am 26. Juni wieder in die französische Gesandt-
schaft übersiedelte.
Am Vormittag waren Soldaten und Boxer in grosser Zahl
über die verlassene österreichisch ungarische Legation hergefallen,
offenbar um sie gründlichst zu plündern; unter ein scharfes Feuer
genommen, bis sie das Thor in der Customsstrasse erreicht hatten,
entzogen sie sich bald unserer Sicht und suchten sich dann einen
anderen Ein- und Ausgang, denn nur Wenige wagten es, beute-
beladen wieder durch den Haupteingang abzuziehen, und von diesen
büssten mehrere ihren Vorwitz. Für uns bedeutete das eine harte
Probe, sozusagen ohnmächtig zusehen zu müssen, wie all das
Zurückgelassene nun in solche Hände fiel, während wir selbst es
nur zu sehr entbehrten.
Gleichfalls am Morgen hatten die Chinesen auch die englische
Gesandtschaft beschossen und richteten jetzt vereinzelt und wohl-
verborgen auch gegen die Gebäude der italienischen hegaAon.
Feuer. In der Nähe des Hatamens, nahe dem Fusse der Stadt*
233
plünderten Boxer das verlassene Haus eines Amerikaners; die
deutsche Wache gab Feuer auf sie ab und vertrieb sie mit Ver*
lust von einem Dutzend Todten.
Um 3 Uhr wurde unser erster Gefallener im Garten zwischen
Ministerhaus und Fremdenpavillon begraben. Die Ceremonie ging
in aller Stille vor sich — die Salve gaben draussen die Chinesen ab!
Nachmittags beobachteten wir von der Barricade aus, dass
gerade von Westen her auf die österreichisch-ungarische Gesandt-
schaft ein ziemlich lebhaftes Gewehrfeuer unterhalten wurde;
Japaner meldeten, dass letzteres von chinesischen Soldaten, die
hinter den Mauern des Prinzengrabes zu sehen seien, herrühre. Wir
standen vor einem Räthsel : sollten die Fremden doch Parteigänger
in den Reihen des chinesischen Militärs haben ? So wenig glaubhaft
dies erscheinen mochte, so bestärkte sich diese Annahme gegen
Abend dadurch, dass ein äusserst lebhaftes Gewehrfeuer in der
Nähe der italienischen Barricade hörbar wurde, das jedoch nicht
den Italienern galt. Der deutsche Posten auf der Mauer stellte fest,
dass Tsching-Truppen vom Hatamen aus mit Gewehren und Wall-
büchsen auf Boxer schössen, welche die am Vormittag durch die
Deutschen gestörte Plünderung des Hauses fortsetzen wollten.
Was nützte uns aber diese verschämte Theilnahme eines
Theiles der chinesischen Truppen an unseren Geschicken, wenn
wir seine Stellungen nicht kannten, uns mit ihm auch nicht zu ver-
ständigen vermochten und kaum wussten, wie die Tsching-Truppen
aussahen? — Unter diesen Umständen bildete das Ganze eher
einen Nachtheil für uns, umsomehr, als die verlorenen Schüsse
unserer Parteigänger uns selbst gefährdeten; jedenfalls wurde
man nur unsicher und verlor die besten Gelegenheiten, einen guten
Schuss anzubringen durch das Scrutinium, ob man nicht am Ende
einen gutgesinnten Beschützer vor sich habe.
Nach Sonnenuntergang flammte unsere v^erlassene und ge-
plünderte Legation, kurz darauf das angrenzende alte Fu auf — ein
Anblick, der uns das Herz zusammenschnürte! Das war aber nur
der Anfang, denn noch vor Mitternacht brannten auch schon die
chinesische Bank, das Münzamt und näher gegen uns zu das
Finanzinspectorat, die gegenüberliegende chinesische Post und
mehrere weitere Häuser, uns mit Qualm einhüllend; es war ein
schauerliches Bild, das jedoch die Chinesen zu lautem Triumph-
geschrei begeisterte. Dazu schössen sie wieder einmal wie toll von
der Nordseite her — Alles schien darauf hinzudeuten, dass sie,
durch das Fortschreiten ihres Zerstörungswerkes ermuthigt, zu
einem gewaltsamen Angriff übergehen würden. Doch kam's nicht
234
dazu — beim grellen Feuerschein nahm man nur hie und da ein
paar über die Strasse eilende Boxer oder Soldaten aus, denen man
gleichwohl nachschoss, nur um zu zeigen: wir wachen!
Spät am Abend hatte Darcy, um dem auf die Dauer nicht
haltbaren Zustande ein Ende zu machen, dass kein einheitlicher
Oberbefehl bestand, den übrigen Detachement-Commandanten den
Vorschlag gemacht, Fregatten - Capitän von Thomann das Ober-
commando zu übertragen, und diese hatten ihre Zustimmung aus-
gesprochen; Thomann nahm die ihm zugedachte Aufgabe an und
sollte am kommenden Tage das Ganze erst organisirt und den
Ministern mitgetheilt werden, einstweilen erwählte er nur Labrousse
und mich zu seinen Adjutanten.
Ueber Verlangen der englischen Gesandtschaft entsendete das
deutsche Detachements abends zwölf Mann Verstärkung dahin ab,
die 2 Tage in der englischen und russischen Legation verblieben.
Am Morgen des 22. Juni rückten die Chinesen von Nordosten,
Osten und Südwesten her vor und beschossen die französische
Barricade, die italienische und die amerikanische Stellung äusserst
lebhaft ; der Brand in der Customsstrasse hatte im Laufe der Nacht
immer weiter um sich gegriffen und standen die Häuser vor der
erstgenannten Barricade bereits in hellen Flammen. Ihn eindämmen
zu wollen, war, ganz abgesehen von dem nach Sonnenaufgang ver-
stärkt aufgenommenen Gewehrfeuer unserer Gegner, ganz aus-
geschlossen; um 6V4 Uhr brannten die Häuser zu beiden Seiten
unserer Barricade, endlich letztere selbst, die ja nur aus mit Stein
und Erde gefüllten Holzkisten bestand, so dass die Mitrailleuse
und die Leute von dort bis nahe an die Ecke von Cusstoms-
und Legationsstrasse zurückgezogen werden mussten. Aus der
Deckung hinter den brennenden Häusern hervor schössen die
Chinesen immer heftiger; in diesem Augenblick war die Stellung
der Italiener schon sehr unangenehm geworden, da sie in der
Legationsstrasse in der Front und von Norden in der linken Flanke
angegriffen wurden. Bis 7 Uhr früh hatten sie auch schon zwei
Verwundete. Eine französische Patrouille ging westlich der bren-
nenden Häuser bis zu dem noch nicht völlig niedergebrannten
Finanzinspectorat vor und stellte fest, dass in letzteres ebenfalls
schon Tung-Fuhsiang-Soldaten und Boxer vorgerückt waren. Von
Südwesten her, d. i. vom Wachhause auf dem Tschien-men, er-
öffneten die Chinesen Geschützfeuer gegen die amerikanische und
gegen die deutsche Legation — dort waren die Truppen des
Prinzen Tsching also gewiss schon durch andere ersetzt wordeo:
hingegen blieb die chinesische Besatzung des Hatamen rel«*
235
thätig, dafür brannten in dem Block unter jenem schon mehrere
Häuser und wurde von jener Seite gegen die deutsche Wache am
Fusse der Mauer gefeuert.
In dieser Situation — es mochte 8'/4 Uhr geworden sein — kam
der deutsche Detachement-Commandant mit der Meldung zu Thomann,
dass die Amerikaner nach durch einen Soldaten überbrachter Mit-
theilung* hart bedrängt seien und ihre Stellung räumen müssten;
eben wurden auch einige Verwundete von der italienischen Barricade
zurückgeschafft, deren Besatzung sich obendrein gegen in den
Häusern zu ihrer Rechten verborgene Boxer zu wehren hatte.
Thomann sandte die mit den Verwundeten gekommenen Italiener
allsogleich zurück und Hess erstere durch Franzosen und unsere
Leute in die Ambulanz des Dr. Matignon bringen. Wenn die
Amerikaner thatsächlich ihren Posten räumten, so war damit die
Trennung der West- und Ostgruppe besiegelt, denn dann war
jeden Augenblick zu gewärtigen, dass die Chinesen längs der
Stadtmauer und auf dieser vorrückend, die südliche und die mitt-
lere Brücke über den Canal besetzten und so die Verbindung ab-
schnitten. Ehe von Thomann noch Zeit hatte, selbst an die Stelle zu
eilen, von der eine so bedenkliche Meldung eingelaufen war, er-
schien Graf Soden wieder jenseits der Strasse und rief herüber,
die Amerikaner hätten bereits geräumt und er könne unter diesen
Umständen auch nicht mehr seine Gesandtschaft halten. Damals
fegte bereits ein solcher Kugelregen über die Legationsstrasse,
dass Soden, dessen hervorragende Kaltblütigkeit wir noch kennen
lernen werden, nicht mehr über die Strasse herüberkam, sondern
an die Mauer gegenüber der französischen Gesandtschaft gelehnt,
seine Meldung erstattete, auch hatte fast im selben Moment die
italienische Barricade Feuer gefangen. Die bestimmte Mittheilung
Soden's gestattete keinen Zweifel und somit war weiter kein
Moment zu verlieren ; so Hess von Thomann das verabredete Signal
zum Rückzug auf die englische Gesandtschaft geben, dem folgend
die Detachements der Ostgruppe sich auf jene zurückzogen, wobei
einer unserer Leute, Matrose Bernardis, durch einen Schuss ins
Bein verwundet wurde.
In der englischen Legation, die bisher nur wenig beschossen
worden war, kamen gleichzeitig mit den Detachements der Ost-
gruppe auch das amerikanische und das russische an, als es sich
herausstellte, dass die dem deutschen Officier zweimal überbrachte
Und von ihm wiederholte Meldung über die Lage bei den Ameri-
kanern durchaus nicht zutreffend und viel zu übertrieben gewesen
'War! Amerikaner und Russen waren im Gegensatz zu der Meldung,
236
dass erstere bereits ihre Position geräumt hatten, erst zurückge-
gangen, als die Ostgruppe verlassen wurde.
Inzwischen hatte sich SirClaude Macdonald von
den in seiner Gesan dt Schaft anwesenden Ministern das
Obercommando übertragen lassen, die, wie M. Pichon
in seinem Tagebuch schon unter dem 20. Juni erwähnt,
dort ein höheres Comit^ für die Vertheidigung unter
Leitung des englischen Gesandten zu formiren be-
schlossen hatten.
Fregatten - Capitän von Thomann fand den Augenblick nicht
passend, um, gestützt auf die seinerseits gänzlich unbe-
einflussteWahl durch die Officiere, Recriminationen hie-
gegen zu erheben und die durch naheliegende innere Gründe zu
erklärende, seltsame Action der die englische Gastfreundschaft
geniessenden Minister anzufechten, sondern nahm die Erklärung
Sir Claude's einfach zur Kentnniss.*)
*) Dies der wahre Sachverhalt, den der englische Gesandte und seine Gefolg-
schaft so drehen, um für die Uebernahme des Obercommandos durch Sir Claude einen
anderen als den thatsächlichen Grund, wie oben geschildert, vorzuschieben. Deshalb ver-
schweigen alle von ihm inspirirteu Quellen geflissentlich, dass der Gedanke, England
die Oberleitung zukommen zu lassen, schon am 20. Juni in der englischen Legation ge-
boren w^urde. Die Thatsache, dass die Lage bei den Amerikanern übertrieben gefahrlich
geschildert wurde, was allein den Rückzug veranlasste, wollen die anglophilen Bericht-
erstatter durch die Angabe entkräften, dass die Meldung von einem »unverantwort-
lichen« Amerikaner und zwar Thomann directe gemacht wurde, während es in Wirk-
lichkeit eine Ordonnanz, ein amerikanischer Soldat gewesen ist, der Graf Soden die höchst
alarmirenden Meldungen überbrachte, was Graf Soden dem Schreiber dieser Zeilen
späterhin noch mehrmals wiederholte. — Es ist auch absolut unrichtig, da.ss die Be-
trauung Sir Claude's mit dem Obercommando die Zustimmung aller diplomatischen
Vertreter fand, denn weder der deutsche noch der österreichisch-ungarische Geschäfts-
träger haben jemals eine solche erthcilt, es sei denn, dass Sir Claude aus dem Umstände,
dass diese beiden Herren die hierarchische Stufe des »Ministers« allerdings noch nicht
erreicht haben, nur auf dem Wortlaute beharren wolle, dass alle fremden »Mini.ster« in
Peking ihn in seiner Function bestätigt haben. — Welcher Art die Führung des »Ober-
commandos« vom 22. Juni an gewesen ist, wird der Leser selbst noch des Oefleren lu
beurtheilen Gelegenheit haben und auch erkennen, dass die Commandanten der einzelnen
Dctachements vollauf für sich das Recht beanspruchen können, den Erfolg nur ihrem
sich aus dem gewöhnlichen bon sens ergebenden Zusammenwirken, nicht aber der »Leitung«
zuzuschreiben. — Eine alle Punkte der englischen Darstellung umfassende Wider-
legung kann hier, so leicht und verlockend die Sache auch wäre, aus Gründen der Deli-
catesse nicht gegeben werden, aber nur um zu zeigen, wie nothwendig sie gegenüber
einer gewissen, selbst vor der Construction von Scandalen nicht zurückschreckenden
Reclame-Kichtung erscheint, sei Folgendes erwähnt: Im Spätherbst 1901 wurde in Earl's
Court /u London eine grosse Spectakel-Pantoraime »Die Belagerung der Gesandtschaften
in Peking« aufgeführt, in der Sir Claude als heldenhafter Retter in einer durch Thomann
geschaffenen Panik auftritt. Das Sensationsbcdürfniss ist nicht wählerisch in
friedigung, aber jeder andere hätte selbst dagegen Einsprache erhoben, sich WM*
237
Der erste Befehl des neuen Obercommandanten für die
Detachements der Ostgruppe lautete, das Fu zu besetzen. Während
letzteres aber noch begangen wurde, um die besten Stellungen zu
ermitteln, folgte bald von jedem der Minister der schriftliche Be-
fehl an sein Detachement, unverzüglich wieder die eigene Gesandt-
schaft und die zugehörigen Posten zu besetzen, der auch sogleich
ausgeführt wurde.
Alle, bis auf die italienische, welche bereits ein Raub der
Flammen geworden, wurden auch thatsächlich wieder in Besitz ge-
nommen, so dass nun auch Marchese Salvago in der englischen
Gesandtschaft Aufenthalt nehmen musste; die Chinesen hatten zu
unserer grossen Freude und Verwunderung ihren Vortheil nicht
erkannt, wiewohl die ganze Position beiläufig eine halbe Stunde
ihrer Vertheidigung ganz entblösst geblieben war. Man dürfte in
der Annahme nicht fehlgehen, dass sie diesmal das Opfer ihrer
eigenen Ideen von Lärmtaktik gewesen sind ; die Hornsignale zum
Rückzug hatten in ihnen wahrscheinlich ganz nach ihrem Sinne
den Glauben erweckt, dass die Fremden sich zu einem Angriffe
vorbereiteten. Einige kleinere Abtheilungen von ihnen, die sich
schliesslich, durch die Stille doch ermuthigt, in die Nähe der
Legationen gewagt, wurden rasch vertrieben.
Der Verlust der italienischen Legation war leider nicht mehr
gutzumachen, doch bedeutete er für die Gesammtheit keinen
ernsten Schaden; auch sie hätte binnen Kurzem geräumt werden
müssen.*)
Ihre nun freigewordene Besatzung blieb einstweilen über
Auftrag des italienischen Ministers, der nun auch in das höhere
der Wahrheit in den Olymp hinaufjohlen zu lassen. Der russische Detachements-Comman-
dant bewegt sich in seinem Berichte ganz im englischen Fahrwasser, was die Kenner der
Verbältoisse nicht überrascht, und übertri£Pt die englischen sogar durch die falsche Be-
hauptung, die Officiere hätten Sir Claude am 26. Juni das Obercommando übertragen. Diese
Darstellung ist aber im Allgemeinen so fehlerhaft — sie lässt z. B. die österreichisch-unga-
rische und die italienische Gesandtschaft erst am 16. Juli räumen, die Russen die
Lehrmeister der Deutschen in der Benützung von Barricaden sein u. s. w. — dass man
iich ernstlich fragen muss, ob es möglich sei, dass ihr Verfasser thatsächlich in Peking
gewesen.
*) Dass Nieasand gerne seine Stellung aufgibt, ist zu begreiflich und daher die
MisstimmuDg der Italiener ganz erklärlich. Die Räumung ihrer Legation wäre aber
dringend nothwendig geworden, wie ein ein&ches Rechenexempel zeigt. Die Vertheidigungs-
^'e wurde durch ihre Evacuation um ein gattes Stück, etwa 0*3 Kilometer verkürzt und
abgerundet und gleichzeitig die Besatzung der neuen Linie um 29 (die Verwundeten
^^ 22. Juni abgerechnet, 26) Mann verstärkt. Nun konnte aber die verkürzte
^i^ der verstärkten Garnison nur mit Mühe gehalten werden — wie hätte es im
^« ausgesehen? .
238
Comit6 für die Vertheidigxing eintrat, in der deutschen Gesandt-
schaft; endlich fand aber dieser Rath, dass das Fu durch die
Japaner und christlichen Chinesen, verstärkt durch einige Eng-
länder, doch nicht zu halten sein würde, und so wurde das italie-
nische Detachement am 23. Juni früh als ständige Garnison
dorthin gelegt.
Der japanische Militär- Attache, Oberstlieutenant Shiba, über-
nahm die Vertheidigung des als Deckung der Ostgruppe gegen
Norden und der englischen Gesandtschaft gegen Osten äusserst
wichtigen Platzes und leitete sie in heroischer Weise.
Die Linie französische — deutsche Gesandtschaft war nun die
äusserste im Osten und auf ihr spielten sich die heissesten, mit
einer bei Chinesen ganz unglaublichen Zähigkeit fortgeführten
Kämpfe ab ; in gemeinsamen Fragen auf dieser so eminent wich-
tigen Linie blieb Fregatten-Capitän von Thomann Entscheidender.
Die Legationen waren kaum wieder besetzt, als die Chinesen mit
erneuerter Heftigkeit den Feuerangriff aufnahmen; glücklicher-
weise gaben sie ihr Gewehrfeuer höchst unregelmässig, dafür aber
um so verschwenderischer ab. War ihr Zielen auch nicht zu
fürchten, so stellten die bei der enormen Schussanzahl doch un-
vermeidlichen Zufallstreffer eine nicht zu unterschätzende Gefahr
dar, gegen die man sich mit allen Mitteln sichern musste. Besser,
wenngleich auch nicht sehr rationell, verwertheten sie schon an
diesem Tage ihre auf der Stadtmauer in der Nähe des Tschien-men
aufgestellten Geschütze, die sie gegen die amerikanische und die
deutsche Gesandtschaft spielen Hessen; einige 7*5 Centimeter Gra-
naten und Shrapnels fanden ihren Weg auch zu uns in die fran-
zösische Gesandtschaft, wo sie aber nur an Dächern und Baum-
kronen Schäden anrichteten. Unsere Stellung genoss überhaupt
als Sammelpunkt verlorener Geschosse aus allen Richtungen eine
besondere Begünstigung ; was gegen Amerikaner und Russen weit
im Westen vermeint war, schlug ein, nicht minder zahlreich kamen
solche Grüsse, die das Fu im Nordwesten verfehlt hatten — von
Norden her über Osten bis Südosten war das Blei wohl für uns
bestimmt gewesen. Vorderhand konnten wir all das nur von den
Dächern, der Nordmauer und aus der Deckung der vor dem
Haupteingang befindlichen monumentalen Steinlöwen erwidern;
die Mitrailleuse war beim Rückzug in die englische Gesandtschaft
havarirt worden, und als sie dort zwei unserer Leute reparirt hatten,
ereignete sich beim Rücktransport ein ähnlicher Unfall an ihrem
gebrechlichen Wagen, dessen Behebung die ganze folgende Nacht
beanspruchte.
239
Mittags stellten unsere Gegner auf kurze Zeit ihr Feuer ein,
um es dann wieder bis zum Abend fortzuführen.
Die Verluste des Tages waren nicht unerheblich ; bei den
Deutschen 1 Todter, 1 Schwerverwundeter, Italiener 3 Verwun-
dete, Russen 1 Schwerverwundeter, Franzosen und Oesterreicher
je 1 Verwundeter, Engländer 1 Todter, Amerikaner 2 Verwundete
— und dabei waren die Chinesen nodh relativ weit! Wenn dies im
gesteigerten Verhältnisse zu ihrer Annäherung so weiter ging,
konnten wir allerdings nicht lange aushalten.
Am Abend wurde Alles für den Bau neuer Barricaden in
der Legations- und in der Customsstrasse vorbereitet; die hiefür
in Betracht kommenden Punkte lagen nur weniges östlich, respec-
tive nördlich des Schnittpunktes der beiden Strassen, also nahe der
Südostecke der französischen Gesandtschaft. Sie weiter vorzu-
schieben ging deshalb nicht, weil sonst die Barricaden aus den
bereits zerstörten Häusern heraus flankirt worden wären. Um sie
mit den wenigen christlichen ("hinesen, die man erhalten konnte,
in der Nacht wenigstens provisorisch herzustellen, musste wieder
zu dem »Kisten «-System gegriffen werden, das allerdings seine
Nachtheile schon erwiesen hatte; die Barricade in der Legations-
strasse erhielt eine Rückendeckung und wurde von Franzosen,
die andere von den Leuten der »Zenta« besetzt. Die Arbeit verlief
beinahe ungestört, wiewohl es keine kleine Mühe kostete, die Angst
der Kulis zu überwinden.
Zur Sicherung wurden von der gemischten Besatzung der
französischen Legation auch in der Verlängerung der Customs-
strasse zum deutschen Posten am Fusse der Mauer Wachen bei-
gestellt.
Um den Verkehr zwischen den beiden Vertheidigungsgruppen
gegen das Feuer der Chinesen aus dem Norden von der Mauer
der Kaiserstadt zu sichern, erbauten in derselben Nacht die Eng-
länder und ihre Missionäre ein leichtes Ziegelparapet auf der
mittleren Brücke und quer über den fast ganz trockenen Canal
eine aus Karren, Balken und Steinen zusammengesetzte Barricade
zwischen dem bereits befestigten Haupteingang in die englische
Gesandtschaft und dem Fu, so dass nur die kleine Strecke auf
beiden Böschungen ohne directen Schutz blieb. Eine zweite Ver-
bindung wurde durch Breschen in den Trennungsmauern zwischen
Rötel und japanischer Gesandtschaft hergestellt; von letzterer
führte der Weg durch das Fu zum Canal.
Hier mag gleich erwähnt werden, dass wir schon in den
ersten Tagen den Mangel an grösseren Werkzeugen als Infanterie-
240
spaten recht sehr empfanden ; das Ausheben von Erde machte bei
der grossen Härte des Bodens viele Schwierigkeiten, besonders
aber dort, wo es unter feindlichem Feuer geschehen musste,
brauchte es länger als zulässig. Aus diesem Grunde musste man
sich anderweitig zu behelfen suchen ; Ziegel für zwei angefangene
Neubauten waren in der Legationsstrasse vorhanden und sonst
nahm man zu Erdsäcken seine Zuflucht. Nun scheuten zwar die
Frauen weder die Mühe noch irgendwelche Opfer an ehedem sorg-
sam verwahrten Stoffen und in der englischen Legation wetteiferten
eine Menge klappernder Nähmaschinen mit den feindlichen Ge-
wehren um die Palme im Lärmen, aber das Alles genügte kaum
den sich stets erneuernden Anforderungen. Tischwäsche, Vorhänge
und kostbare bunte Seidenstoffe wurden zu Säcken verarbeitet,
deren Füllung an einem geschützten Punkte vor sich gehen konnte.
Wunderlich genug sahen die Häuser von aussen aus, deren Fenster
auf diese Art verbarricadirt waren, doch erwies sich diese Art
Befestigung äusserst vortheilhaft.
Unsere Gegner, unter denen wir nur mehr wenige, dafür aber
schon mit modernen Gewehren betheilte*) Boxer erkannt hatten,
denn wie es sich einmal nicht mehr um das Morden Wehrloser
handelte, überliessen sie gerne dem regulären Militär den Vortritt
— unsere Gegner also Hessen uns bis Tagesanbruch des 23. Juni
Ruhe, um die dringendsten Herstellungen auszuführen. Noch in
den ersten Morgenstunden fand eine bis ins Finanzinspectorat
vorgedrungene Patrouille unsere unmittelbare Nachbarschaft un-
besetzt und constatirte, dass von den Gebäuden der österreichisch-
ungarischen Gesandtschaft nur mehr das Attach^haus so ziemlich
unverletzt stehen geblieben war.
Um 7 Uhr morgens begann die Beschiessung von Neuem,
als Einleitung crepirte ein Shrapnel von Südwesten kommend im
Hofe, ohne aber Jemanden zu verletzen ; der aufgefundene Zünder-
körper zeigte Tempirung 1*4 Secunden**) — recht gut calculirt für
einen Chinesen !
Das Feuer wurde bald allgemein; unsere Mitrailleuse wan-
derte auf Ersuchen der Russen zu ihrer Barricade und blieb dort
bis abends in Action, während die italienische Schnellfeuerkanone
vom Nordstalle der englischen Legation die chinesischen Deckungen
*) Unter den nach dem Entsatz saisirten Papieren Tschangli's fanden sich aus-
führliche Ausweise über Gewehre und Munition, welche den Boxern aus den Regie-
rungsarsenalen verabfolgt worden sind.
**) Die meisten in der Folge aufgefundenen Tempirringe wiesen Zeit«, nur weniir*
Distanzscalen auf.
r
im Nordosten wirksam beschoss. In unserer Xähe rückten die
Chinesen stetig vor, zum Theil die halb verkohlten Ueberreste der
italienischen Barricade als Deckung benützend, zum Theil in den
niedergebrannten Häusern der beiden von uns bestrichenen Strassen.
Das Zerstörungswerk schien ihnen aber noch zu wenig vorge-
schritten und 50 legten sie wieder in den noch stehenden oder erst
halbverfallenen Gebäuden Feuer ; ein frischer nördlicher Wind trug
die Flammen prasselnd in das Gewinkel an der Nordseite der
französischen Gesandtschaft, die kleinen Häuschen schwanden wie
Zunder und das Flugfeuer kam über die Mauer herüber, so dass
Darcy die ihr zunächst stehenden alten Bäume fallen liess, um den
anstossenden Stall zu sichern. Hinter der italienischen Gesandt
Schaft ging die japanische Bank in Flammen und Rauch auf, gegen-
über ersterer fiel das grosse, palastartige Haus Hsü-tung's dem-
selben Schicksale anheim. Dazu feuerten die Chinesen wieder
lebhaft und unsere auf erhöhten Punkten und hinter den Barri-
caden postirten Schützen konnten, durch die dichten Schwaden
beifrsenden Rauches und den Funkenregen arg belästigt, kaum viel
erwidern; ähnlich erging es auf der Westgruppe, wo die('hineBcn
nachmittags das Hanlin in Brand steckten. Diese alte chinesische
Hochschule barg in ihren ausgedehnten Räumen äusserst werth-
volle historische Documenle. die ältesten Druckwerke und zuge-
hörigen Platten : aus diesem Grunde hatte man auch gehofft, dass
die Chinesen, deren Respect vor allem Geschriebenen ja bekannt
ist,*) davor zurückschrecken wurden, Hand daran zu legen. Eitle
Hoffnung, denn diesmal schien ihnen auch dieses Opfer nicht zu
gross, um den Fremden Schaden zuzufügen. Glücklicherweise ge-
lang es den Engländern, das Uebergreifen der Flammen über die
Trennungsmauer abzuwehren, und legten sie nun selbst in das
Hanlin eine Wache, die aus dem bisher neutralen Complex später-
hin grossen Vortheil ziehen konnte.
Alles in Allem verlief der Tag ziemlich glimpflich; KoUaf
wurde nachmittags durch einen seichten Schuss in den rechten
Oberschenkel verwundet, liess sich aber dadurch nicht abhalten,
Dien.Ht zu thun, von den Engländern wurde ein Freiwilliger blessirt.
Gegen Abend entstand in der Dependance des Hotels ein Schaden-
feuer, das jedoch von den Leuten der drei Detachements der Ost-
gruppe gedämpft wurde, obgleich die Chinesen nicht verfehlten, die
Brandstätte heftig zu beschiessen. Gleichzeitig hatte sich ein Trupp
1 Nichli Geschriebenes od« Gedruckt« darf .ils Atifall »edorrn grben; eigeae
Oc»dbi'hir(«o lai»cn H«le vun Schriften irnd Büchern »uf .ler suaise saronieln und
dam TvilrrenDcn. [ti Peking eiisliren mehrere solche «l.iteratur-Cretnalorien".
WlnwilEiUn; Klmpfn in Chiiu. Itf
242
Boxer, jedenfalls mit der Absicht, Feuer zu legen, an die Rück-
seite der deutschen Gesandtschaft zu schleichen gewusst, floh
aber, von der Wache aufmerksam empfangen, mit Zurücklassung
einiger Todter.
Das Wichtigste blieb, dass die Chinesen bisher auf der Stadt-
mauer keine Fortschritte zu machen verstanden hatten.
Die Nacht wurde eifrigst ausgenützt, um unsere Barricaden
auszubauen, wobei man in der Customsstrasse durch die fort-
dauernden Brände und gelegentlich auch durch Gewehrfeuer be-
lästigt wurde; besonders unangenehm war der Geruch von ver-
brannten Leichen, allerdings insoferne auch eine Genugthuung, als
er darauf schliessen Hess, dass unser Feuer bisher gute Wirkung
gethan habe. Doch nützten auch unsere Gegner die Dunkelheit
gut aus und bei Tagesanbruch machten wir die Entdeckung, dass
sie die Ueberreste der italienischen Barricade beträchtlich ver-
stärkt und sich so eine günstige Angriffsposition geschaffen hatten.
Im Zwielicht wurden ausserhalb der Stadtmauern zwei Raketen
steigen gesehen — konnten sie unter diesen Umständen eine andere
Deutung denn als Zeichen vom Herannahen eines Entsatzes finden?
Am 20. Juni hatten wir uns im Stillen allerdings auf acht, zehn ja
vielleicht im Aeussersten auf 14 Tage gezwungenen Wartens gefasst
gemacht, und nun — wir zählten ja erst den 24. Juni — kam uns
dieses Zeichen etwas früh vor, aber wie gerne hätten wir unseren
Schätzungsfehler eingestanden !
Lange Zeit war uns aber nicht beschieden, um alle Für und
Wider abzuwägen. Um 5 Uhr morgens entspann sich bei der
französischen Barricade im Osten ein äusserst lebhaftes Feuer-
gefecht, so dass die von den Leuten der »Zenta« bestrittene Thor-
wache zur Verstärkung abgesendet wurde; gleich darauf hörte
man wieder von allen Seiten scharfes Feuer. Die französische Ge-
sandtschaft wurde aus Ost und Nord intensiv beschossen, an den
zwei Barricaden wurde ebenfalls hitzig gefeuert und auch die
Wache im Verbindungsgässchen zur Mauer war schon mit den
im südöstlichen Häuserblock vorrückenden Chinesen ernstlich im
Gefecht, so dass die ganze Besatzung vollauf beschäftigt war.
Nach 7 Uhr morgens nahm das Feuer auf der Stadtmauer
immer mehr zu und kam von Westen her auffallig näher; end-
lich gegen 8 Uhr morgens erschien Soden und theilte mit, dass
die Chinesen auf der Stadtmauer trotz Feuers der Amerikaner und
aus den oberen Stockwerken der westlich gelegenen Gebäude der
deutschen Gesandtschaft schon bis zur Höhe des Canals vorge-
drungen seien. »Ich muss gegen sie vorgehen und bitte up
Stärkung'« schloss der dt-utschc Officier . Thomann detachirte un-
venveilt Bcyneburg mit acht Mann seiner Leute und erhielt von
den Franzosen weitere sieben Mann für denselben Zweck.
Von letzteren übernahmen fünf die Bewachung der Aufstiegs-
rampe, die übrigen zwei und vier Mann unseres Detachements be-
setzten das halbverfallene Wachhäuschen auf der Mauer, um den
Angreifem den Rücken gegen das Hatamen zu freizuhalten; Boyne-
bürg mit vier Mann schloss sich der aus 20 Seesoldaten bestehenden
Sturmcolonne Soden's an. Diese kleine Schaar rückte anfanglich
ohne ernstlichen Widerstand vor. doch ermannten sich die Chinesen
— Tung-Fuhsiang-Soldaten — bald und eröffneten ein wüthendes,
glücklicherweise aber fast ausnahmslos zu hoch gehendes Feuer;
Soden liess dieses erst kurz erwidern und ging dann mit Hurrah!
zum Sturm über. Das imponirte den Chinesen dermassen. dass sie
eilends sich zurückzogen — in vier Absätzen wurden sie ins Tschien-
men zurückgeworfen, wobei sie zwar einige Verwundete noch weg-
schleppen konnten, dagegen aber 30 — 10 Todte liegen Hessen. Bis
oberhalb der amerikanischen Gesandtschaft vorgedrungen, kehrte
Soden, durch den von unten aufsteigenden dichten Rauch ver-
hindert, die gegnerische Stellung zu beurtheilen, wieder um und
liess auf dem Rückweg den Gefallenen Gewehre und Munition
abnehmen; von seinen eigenen und unseren Leuten war wunder-
barerweise Niemand verwundet worden. Die Wache im Osten hatte
inzwischen mit der chinesischen Besatzung des Hatamen einige
Schüsse gewechselt, was genügte, um diese am Vordringen zu
Verhindern; nun übernahmen wieder die Deutschen diesen Posten.
Die erbeuteten Gewehre waren zu unserer Ueberraschung
meist Mannlicher-Carabiner Modell 1891 und ältere 11 Millimeter
Mauser-Hinterlader, sämmtliche jedoch trugen den Stempel der
Fabrik Steyr; mit ihnen und der den Todten abgenommenen Munition
wurden die Freiwilligen ausgerüstet, den ersten Carabiner erhielt
Herr von Rosthorn, der ihn fortan ausgezeichnet führte!
Der kühne Vorstoss*) hatte also nebst seinem Hauptzweck,
auf der Mauer Luft zu machen, auch noch eine höchst willkommene
Vermehrung unserer Wehrmittel erreicht; er war jedoch kaum
beendet, so wurde die Besatzung der französischen Legation zur
Verstärkung des Fu in Anspruch genommen. Zehn Franzosen und
sehn Oesterreicher-Ungarn unter Seecadet Mayer gingen allso-
gleich dahin und blieben den ganzen Vormittag dort, wobei einer
Franzosen schwer verwundet wurde. Zur selben Zeit machten
•J Dms '
^TBchw eigen
214
die Engländer auf der Südwestseite einen Ausfall, bei dem es
ihnen zwar gelang, die Chinesen aus ihrer nächsten Nähe hinter
ihre Barricaden zu vertreiben, in welchem sie aber durch die
schwere Verwundung von Captain Halliday und einem Seesoldaten
einen fühlbaren Verlust erlitten.
Die Amerikaner versuchten vormittags, unterstützt durch die
Deutschen, auf der Mauer festen Fuss zu fassen; während sie an
der ihrer Gesandtschaft zunächst gelegenen Aufstiegsrampe eine
Barricade erbauten, rückte Captain Myers, der auch das Maschinen-
gewehr seines Detachements auf die Mauer hatte schaffen lassen,
von dem von Deutschen besetzten Posten aus vor. Anfanglich ge-
wann die gemischte Abtheilung auch ohne Verluste rasch an
Terrain; in der Nähe der Rampe angelangt, wurde sie aber von
übermächtigem Gewehr- und Geschützfeuer aus dem Wachhause des
Tschien-men und den chinesischen Barricaden ostlich davon fest-
gehalten und musste endlich, da ein Sturm auf das starke Gebäude
unmöglich war, gegen Mittag den Versuch aufgeben, nachdem ein
Amerikaner gefallen und einer schwer verwundet war.
Inzwischen war die Stellung auf der Mauer gegen das Hatamen
zu durch eine leichte Barricade unter Leitung von Labrousse
etwas befestigt worden.
Kurz vorher hatte dieser Officier mit zwei amerikanischen
Soldaten, die die Unternehmungslust zu einem kleinen Abstecher
verleitet hatte, in einem Hofe nahe dem Fusse der Stadtmauer
eine Abtheilung Chinesen überrascht; fast ohne Gegenwehr wurden
sie — insgesammt 22 Mann — niedergeschossen, wobei Labrousse
über keine andere Waffe als seinen Revolver verfügte. Die deutsche
Wache auf der Mauer unterstützte, durch das nahe Schiessen auf-
merksam geworden, mit einigen Schüssen die rasche Execution.
Der französische Officier eilte in der Annahme, dass die ange-
troffene Abtheilung nur die Vorhut einer stärkeren sein könne,
in die Gesandtschaft, um Succurs für die Besetzung des Gässchens
zu holen. Von der Besatzung, die eben noch 20 Mann ins Fu
detachirt hatte, konnten nur einige Freiwillige abgehen, denen ic
mich anschloss; es erfolgte zwar kein Angriff mehr, dafür käme
wir zurecht, um die neue Beute, 11 Millimeter Mauser sammt Munitio
zu bergen. Die Chinesen lagen in Gruppen, wie sie der Schrecx
zusammengeballt hatte, übereinander — in einer Ecke allein "1
auf einem Knäuel — einer lebte noch und erhielt einen Gnad
schuss.
Vormittags fanden wir in einem verlassenen Haus
der französischen Gesandtschaft einige Säcke Reis und Me*
245
wir mit Beschlag belegten und tagsdarauf unserem in der eng-
lischen Legation erliegenden eisernen Vorrath einverleibten.
Zu Mittag trat eine Pause ein; bis dahin hatte das Feuer an
und gegen die Barricaden fast ununterbrochen gedauert.
Nachdem die Deutschen den Amerikanern sechs Mann Ver-
stärkung beigestellt hatten, ersuchten sie nun ihrerseits um die
Ueberlassung unserer Mitrailleuse, die von Thomann mit zwei
Mann sogleich hinüberschaffen Hess.
Die Besetzung der Stadtmauer durch die Amerikaner war
für den Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, in Aussicht ge-
nommen worden ; entgegen dieser Abmachung versuchte der ameri-
kanische Detachement-Commandant aber schon um 4'/^ Uhr nach-
mittags neuerdings den Aufstieg. Eine grosse Menge Erdsäcke
und Kulis waren bereitgestellt worden, um von der Aufstiegs-
rampe aus sogleich eine provisorische Deckung quer über die
Stadtmauer errichten zu können, unter deren Schutz eine festere
Barricade aus den die Krete der Mauer bedeckenden grossen Back-
steinen erbaut werden sollte.
Die Chinesen entdeckten jedoch das Vorhaben und eröffneten
ein wüthendes Feuer aus Gewehren und Schnellfeuerkanonen; die
Deutschen sandten den Amerikanern zehn Mann Verstärkung, und
da ein Vorgehen der Besatzung des Hatamen zu besorgen war,
ging ich mit sechs Franzosen und sechs von unseren Leuten auf
die Ostseite der Mauer ab. Einigemale kamen zwar Chinesen vom
Hatamen vor, doch zogen sie sich, durch unser Feuer vertrieben,
eilends wieder zurück und begnügten sich, uns vom Wachhause
aus zu beschiessen. Die in aller Eile aufgeworfene Barricade und
das verfallene Häuschen boten zwar gegen Osten genügenden
Schutz, hingegen waren wir im Rücken den zahlreichen Weit-
schüssen vom Tschien-men her schutzlos ausgesetzt — es musste
unbedingt eine Rückendeckung geschaffen werden.
Im Augenblick meines Abgehens auf die Mauer kam einer
der deutschen Freiwilligen mit der Meldung in die französische
Ciesandtschaft gelaufen, dass die Chinesen beim Canalgitter ein-
drängen; von Thomann sandte unverzüglich den Seecadetten
Boyneburg mit zehn Mann an die angeblich bedrohte Stelle, doch
stellte sich das Ganze als ein Irrthum heraus, worauf die kleine
Abtheilung zur Verstärkung der Ostbarricade auf die Mauer
rückte.
Das Feuergefecht beim Tschien-men wurde mit grosser Heftig-
keit bis zu Sonnenuntergang weitergeführt ; diesmal gelang es aber
den Amerikanern doch, ihre Stellung zu behaupten und sie noth-
246
dürftig gegen Westen zu decken. Wie zu erwarten, hatten die
Chinesen auch auf den übrigen Punkten wieder heftig angegriffen
und wurde an unseren beiden Strassenbarricaden und im Fu wieder
bis Sonnenuntergang heftig gekämpft. Gegen letzteres hatten die
Chinesen, durch die umliegenden Häuser gedeckt, heranzukommen
vermocht und sogar schon eine Bresche in die äussere Mauer ge-
schlagen, Japaner und Italiener warfen sie zwar zurück, doch
musste neuerlich eine Verstärkung von fünf Franzosen hingesendet
werden, von der ein Mann fiel.
Erst nach Sonnenuntergang trat einigermassen Ruhe ein und
konnten die von der Garnison der französischen Legation ausge-
sendeten Verstärkungen tourweise eingezogen werden. Die Barri-
caden auf der Mauer wurden nachtsüber wesentlich verstärkt, auch
eine neue am Fusse derselben errichtet und für die von Franzosen
und Oesterreicher-Ungarn beigestellte Wache in dem dahin führen-
den Gässchen eine Deckung geschaffen.
Schon an diesem Tage machten wir die bittere Erfahrung,
dass wir von der scharf bedrängten Ostlinie wohl fortwährend um
Unterstützungen und Verstärkungen angegangen wurden, die trotz
der Bedrohung von drei Seiten auch gerne beigestellt wurden, so
lange es irgendwie möglich war, unsere bescheidenen Anforderungen
um Arbeitskräfte und Werkzeuge hingegen stets auf Schwierig-
keiten stiessen.
Sir Claude hatte mit Unterstützung der protestan-
tischen Missionäre alle Kulis fast ausschliesslich für die
weitere Befestigung der ohnedies von Hause aus unver-
gleichlich grössere Sicherheit bietenden englischen Ge-
sandtschaft mit Beschlag belegt und gab nur für die
Amerikaner, Russen und das Fu Kräfte ab; über die
Lage auf der Ostlinie war er gar nicht orientirt und
brachte ihr, trotzdem er doch die Oberleitung der ganzen
Vertheidigung zu führen behauptete, so wenig Interesse
entgegen, dass er während der ganzen Belagerung nur ein
einzigesmal, als das Feuer bereits eingestellt war, am
17. Juli — also erst nahezu vier Wochen nach der Ueber-
nahme des Obercommandos — in der franzosischen Ge-
sandtschaft erschien, um sich durch den Augenschein über
die Situation zu informiren. Und doch war dies das erste
und exponirteste Vorwerk der ganzen Stellung — davon,
ob man sie zu halten vermöchte, hing die Behauptung*
aller übrigen Stellungen östlich des Canals ab, sie hielt
die Verstösse der Chinesen auf und in der franzos'^
247
Gesandtschaft kämpfte man für das Leben der in die eng-
lische Geflüchteten!
So auch an diesem Abend; wären nicht Chamot und Pere
d'Addosio gewesen, so hätten wir gar keine Kulis bekommen —
die Infanterie-Spaten unserer Leute, die irrthümlich mit dem Ge-
päck in der englischen Legation deponirt worden waren, hatten
auch schon Liebhaber gefunden und waren im Augenblick, wo
wir sie verlangten, nicht mehr zu finden!
Nachtsüber fielen nur wenige Schüsse, gegen 12 Uhr wurde
eine kurze Fusillade beim Fu hörbar, die Brände in unserer
nächsten Nähe dauerten fort und bedrohten neuerdings die Barri-
cade in der Customsstrasse, so dass dort bis 10 Uhr nachts schwer
gearbeitet werden musste, um letztere zu sichern.
Am 25. Juni setzten die Chinesen bei Sonnenaufgang den all-
gemeinen Angriff, wenngleich weniger heftig als am Vortag, fort.
Um 8 Uhr hielten die Commandanten der Detachements unter
Vorsitz Thomann's — Sir Claude war erkrankt — auf der Stadt-
mauer eine Besprechung hinsichtlich der zu ihrer Behauptung noth-
wendigen Massnahmen ab. Das Einfachste und Radicalste wäre
freilich die Wegnahme und Besetzung der grossen Wachhäuser
auf dem Hata-men und Tschien-men gewesen, dazu reichten aber
die vorhandenen Kräfte nicht aus ; man musste sich also begnügen,
das schon besetzte Stück, welches beiläufig ebenso lang wie das
Legationsviertel war, durch die beiden Barricaden zu halten. Die
westliche sollte von Amerikanern und Russen, die östliche mit
vierstündiger Ablösung von Deutschen, Franzosen und Oesterreicher-
Ungarn vertheidigt werden.
Da die Chinesen im Tschien-men ein 7 Centimeter Geschütz
und eine einpfündige Schnellfeuerkanone gerade, während die
Versammlung abgehalten wurde, gegen die erstgenannte Barricade
spielen Hessen, so wurde auf Antrag Thomann's der Versuch
unternommen, sie durch die italienische Kanone zum Schweigen
zu bringen.
Boyneburg mit zehn von unseren Leuten löste daher eine
gleiche Anzahl Italiener im Fu ab, welch letztere ihren 37 Milli-
meter auf die Mauer brachten. Die Chinesen entzogen gleich
nach dem ersten Schusse ihre beiden Geschütze der Sicht, die Ge-
schosse der italienischen Schnellfeuerkanone (Stahlgranaten mit
Bodenzündern) erwiesen sich aber in ihrer Sprengwirkung zu schwach,
um dem massiven Thurmgebäude etwas Ernstliches anzuhaben;
zudem waren im Ganzen nur mehr 40 Patronen vorhanden, so dass
man eine Fortsetzung des Probeschiessens aufgeben musste. Beide
248
italienische Vormeister wurden verwundet, die Kanone wieder in
die englische Legation geschafft.
Nach dem Fehlschlagen des Versuches erübrigte nur mehr,
die Barricade selbst so weit zu verstärken, um sie auch gegen
Geschütze zu sichern; aus letzteren eröffneten übrigens die Chinesen
unmittelbar nach dem Zurückziehen des italienischen Geschützes
wieder ihr Feuer gegen die amerikanische und deutsche Gesandt-
schaft. Mittlerweile hatte sich unten der Kampf wieder sehr
lebhaft gestaltet.
Im Fu fiel Matrose Dettan, kaum dass er seinen Posten an
einem Schiessloch eingenommen hatte, durch einen Kopfschuss. Im
Osten der französischen Gesandtschaft setzten sich Soldaten und
mit Gewehren bewaffnete Boxer in den Ruinen der niederge-
brannten Häuser fest, indem sie aus dem leichtbeweglichen Material
Barricaden aufwarfen; gut gedeckt begannen sie nun auf etwa
oO Meter Entfernung einen wahren Hagel von Geschossen gegen
die Dächer des Ministerhauses und gegen die Krete der aus Back-
stein erbauten, an ihrem oberen Ende ungefähr 60 Centimeter
dicken Umfassungsmauer zu schleudern. Von unserer Barricade
aus vermochte man ihnen nicht beizukommen und so musste man
sich entschliessen, trotz der eminenten Gefahr, Schützen auf die
Dächer und an die Mauer zu placiren, denen es nach einiger Zeit
gelang, die neuen Belästiger mit bedeutendem Verlust zurückzu-
treiben. Darcy selbst mit seinem ältesten Unterofficier Le Gloanec
und Gi(^ter befanden sich unter den glücklichen Schützen, die
schliesslich aber entdeckt wurden ; Le Gloanec's Mütze wurde durch-
löchert, als er dem Befehl seines Officiers sich zurückzuziehen
zögernd folgte.
Eine Pause trat nach Mittag ein, während der wir unsere zwei
Todten, Dettan von der »Zenta« und Corselin vom «d'Entrecasteaux«
gemeinsam zur letzten Ruhe betteten.
Wieder versuchten die Chinesen sich in dem Winkel zwischen
italienischer Gesandtschaft und Customsstrasse festzusetzen, aber
durch die frühere Erfahrung gewitzigt, suchten sie nach Verstecken
und feuerten einstweilen noch nicht. An den Barricaden war's
ziemlich ruhig, die Gelegenheit daher günstig und so unternahmen
wir, Franzosen, die Zentagruppe und der hiezu eingeladene Graf
Soden mit zehn seiner Leute von der Legationsstrasse aus einen
Vorstoss in die Ruinen der italienischen Gesandtschaft und ihre
Umgebung. Es gelang uns, die Gegner zu überraschen, eben als
sie unsere Barricaden zu beschiessen begannen, 20 bis 30 von ihnfw*
fielen, der Rest entfloh; unsererseits wurde nur ein Deutsc
249
linken Auge und ich durch einen Splitter ins rechte Auge leicht
verwundet — wir beide haben damit einen billigen Tribut erlegt !
Sicherheitshalber steckten wir noch zwei Häuser zwischen der
italienischen Gesandtschaft und der Customsstrasse, in deren Dach-
räumen wir einige verspätete Chinesen vermutheten, in Brand, wo-
durch wir auch mehr Schussfreiheit nach dieser Seite gewannen.
Der einzige materielle Verlust war das Bajonnett des Steuergasten
Baj^ljan, das ihm ein Chinese vom Gewehrlauf riss, als der Unterofficier
sich bei einem Fenstergitter vorbeugte ; die Freude des Bezopften
dauerte aber nicht eine Secunde, denn eine Kugel machte ihr ein
Ende und BaSljan holte sich in einer der nächsten Nächte die Waffe
sammt dem daran befindlichen Porteep^e zurück.
Wir waren kaum von der Expedition zurückgekehrt, die in
dem Gewinkel, wo man sich gegenseitig kaum unterstützen konnte,
leicht böse Folgen hätte haben können, als auch schon wieder ein
Auftrag vom Vertheidigungs-Comite vorlag, ständig 20 Mann ins
Fu zu legen; nun war dieses augenblicklich aber gar nicht ange-
griffen und daher redigirte Darcy ein verständlich mit Thomann
und Rosthorn eine ablehnende Antwort, in der er auf die Wichtig-
keit der französischen Legation als Schlüsselpunkt der ganzen
Stellung, die Verzettelung ihrer Besatzung durch Wachen an und
auf der Stadtmauer und endlich darauf hinwies, dass letztere überhaupt
numerisch gar nicht so stark als jene anderer Punkte sei.
Inzwischen harrte unserer eine neue Ueberraschung : ein
athemloser Bote überbringt die Nachricht, dass die Chinesen
auf kaiserlichen Befehl das Feuer auf die Fremden eingestellt
hätten ! Kaum glaublich, dennoch hat es damit seine Richtigkeit —
Gewehre und Geschütze schweigen.
Auf der Nordbrücke war ein grosses Placat aufgestellt und
von der englischen Gesandtschaft aus mit Fernrohren abgelesen
worden : «Auf kaiserlichen Befehl ist das Feuer gegen die Fremden
einzustellen, die Truppen sollen letztere beschützen, ein Brief an die
^linister folgt« — die sofort entstandene Legende fügte hinzu, dass
Boxer und Tung-Fuhsiang-Soldaten als Feinde zu behandeln seien.
Was hatte dies Alles zu bedeuten? Sollte am Ende wirklich
•^chon ein Entsatz vor den Thoren sein und dessen Erscheinen in
^en chinesischen Machthabern Reue über ihren Aberwitz hervor-
grerufen haben ? — Der Brief war zwar noch nicht übergeben, aber
^ver mochte noch daran zweifeln, dass sein. Inhalt nur ein Einlenken
^n vernünftigere Bahnen sein würde!
Schon befasste man sich mit Gedanken über die nun zweifel-
los bevorstehenden Verhandlungen, in die man wohl erst eintreten
250
würde, nachdem die Chinesen eine Präliminarsühne durch Aus-
lieferung der Rädelsführer, des Prinzen Tuan in erster Linie, ge-
leistet haben würden.
Man wartete und wartete, von der Mauer herab wurde der
Anmarsch grösserer chinesischer Truppenmengen aus Südost und
Südwest berichtet, die aber nach einigen auf sie abgegebenen
Schüssen ohne Erwiderung Halt machten; auch das erschien als
ein gutes Zeichen.
Am östlichen Ende der Legationsstrasse sah man eine grosse
Menge Tung-Fuhsiang-Leute mit schweren Bündeln nach Norden
abziehen, über die Nordbrücke passirten unbehelligt zwei Mandarine
mit Truppen — aber von dem versprochenen Brief keine Spur.
Es wurde Abend und damit wieder Zeit, an die Verstärkung
unserer Befestigungen zu denken; die Chinesen Hessen uns auch
Ruhe dazu und der Brand der zwei Häuser, den wir diesmal selbst
gelegt hatten, spendete uns Licht genug an den beiden Barricaden.
Erst um Mitternacht und um 1 Uhr unterbrachen einige Gewehr-
salven die Stille; auf dem Ostflügel trat bald wieder Ruhe ein,*)
die auch den ganzen Vormittag des 26. Juni anhielt. Morgens be-
gaben sich von Rosthorn und Kollaf mit einer Patrouille unserer
Leute in die Customsstrasse, fanden sie verlassen und gingen
bis in unsere Gesandtschaft, von der sie allerdings nur mehr die
rauchgeschwärzten Mauern vorfanden ; im Norden wurden chinesi-
sche Soldaten gesehen, verhielten sich aber ruhig. Ebenso verödet
und still sah es in den Ruinen beiderseits der Customsstrasse aus,
als wir sie nachmittags durchstreiften. Aber welche Verwüstung!
Viele Leichen gefallener Soldaten, Boxer und sonstiger Chinesen
lagen da in unserer nächsten Nähe, manche schon von Hunden
benagt und unter der heissen Sonne bereits in Fäulniss ; trotz diesem
wahrlich nicht appetitreizenden Anblick Hessen sich unsere Leute
doch nicht die Gelegenheit entgehen, ein paar Hühner zu fangen,
die ins Hospital geschickt wurden. Wieder fand eine Beerdigung
bei uns statt ; der zwei Tage vorher im Fu verwundete französische
Matrose Quemeneur war in der Nacht gestorben und wurde neben
seinen vorausgegangenen Kameraden im Garten begraben.
Keine Spur von dem angekündigten Briefe an die Minister,
dafür auch keinerlei Anzeichen vom erhofften Herannahen eines
*) Sir Claude berichtet für diese Nacht, dass ein ungemein heftiges Feuer bis
^»egen Tagesanbruch auf die Westgruppe abgegeben wurde und er von Darcy Verstär-
kungen verlangt habe, die aber wegen des heissen Engagements nicht gegeben werden
konnten. Hier liegt ein offenbarer Irrthum vor; eine solche Requisition kam in dieser
Nacht ebensowenig in die französische Gesandtschaft, als diese heftig angegrifien
Entsatzes. Frau von Rosthorn übersiedelte in die französische Ge-
sandtschaft. Gepäck beschwerte sie allerding:s nicht.
Nach 3 Uhr beg-ann wieder das Feuer an der Westseite,
wo die Chinesen im Laufe der Nacht in der Leg-ationsstrasse auf
kurze Distanz von der amerikanisch-russischen Barricade eine neue
erbaut hatten.
Später zogen eine Menge Truppen vom Hatamen -Boulevard
gegen Süden herab; anfänglich Hess man sie, noch immer in Er-
wartung der versprochenen Nachricht, ungehindert passiren, als
sie sich aber in dem Viertel südlich der Legation sstrasse zwischen
Hatamen und unserer Linie, ihre Banner aufsteckend, festsetzten,
kamen wir doch zur Ueberzeugung, dass der ganze Truc mit dem
Placat nur ein Mittel gewesen sei. um ungestört Truppenverschie-
bungen vornehmen zu können, und schössen auf sie.
Sie zögerten nun auch nicht länger, sondern antworteten
sogleich mit einem lebhaften Feuer, in das nun von beiden Thoren
her auch Geschütze einfielen — der Kampf war im schönsten Gang,
wie 24 Stunden vorher. Vom Hatamen her summten Vollkugeln
aus den plumpen alten chinesischen Geschützen, vom Tschien-men
moderne Granaten und von drei Seiten p6ffen Gewehrprojectile in
allen Tonarten um und zwischen uns durch, Gitter fiel von einer
solchen verirrten Kugel in der Schulter verwundet.
Auf der Mauer ging's ebenso lebhaft her; Captain Myers, der
nun mit Bravour schon 48 Stunden auf seinem gefährlichen Posten
ausgehalten, war endlich übermüdet und so übernahm ich es auf
Ersuchen Sir Claude'a, ihn fiir einige Stunden in der Nacht ab-
zulösen.
Die Chinesen schienen diesmal in der Dunkelheit einzubringen,
was sie in den Tagesstunden versäumt hatten, und feuerten nach
Sonnenuntergang wie wahnsinnig von allen Seiten. Der Weg zur
amerikanischen Gesandtschaft über die Legation sstrasse und mittlere
Brücke wurde continuirlich mit Geschossen überschüttet, so dass
mich die Posten auf der Westseite nicht weiter lassen wollten; in
der amerikanischen Gesandtschaft angelangt, musste ich einige
Minuten warten, um auf die Mauer zu kommen. Von der Rück-
seite zur Rampe war ein vertiefter Weg ausgehoben und Im
Westen mit Erdsäcken gedeckt worden; er war noch nicht voll-
endet und die Chinesen suchten das mit einem unausgesetzten
Feuer zu verhindern. Die Arbeitspartie sollte eben abgelöst werden
Und so musste ich warten; auch die Aufstiegsrampe stand unter
dem Feuer, erst in halber Höhe war man gedeckt. Die Barricade
oben hatte im Laufe des Tages grosse Fortschritte gemacht und
252
widerstand nunmehr den unablässig darauf schlagenden Geschossen
vortrefflich, auch bestand schon eine Rückendeckung gegen die
Langschüsse vom Hatamen. Myers machte mich mit der Umgebung
bekannt : vor der Barricade — also nach Westen zu — erweiterte
sich die Mauer zu einer breiten Bastion, deren gegenüberliegende
etwa 50 Meter entfernte Grenze sich in den Händen der Chinesen
befand ; dort hatten sie ebenfalls eine mächtige Barricade erbaut,
hinter der sich in einigem Abstände das mächtige Wachhaus des
Tschien-men erhob. Auf der Bastion wucherte, wie überall auf der
Mauer, domiges Gestrüpp und dieses begünstigte ein Heran-
schleichen Einzelner ungemein. Man musste also sehr auf der Hut
gegen eine derartige Eventualität sein. 14 Amerikaner, 5 Russen
und ebensoviele Engländer bildeten die Wache auf unserer Seite,
verstärkt durch das amerikanische Maschinengewehr. Um mit
Munition zu sparen, hatte Myers Befehl gegeben, erst zu feuern,
wenn die Chinesen vorrücken sollten. Soweit seine Uebergabe;
Mr. Cheshire befand sich mit einem Chinesen ebenfalls auf der
Mauer, in Erwartung der Rückkehr eines der manchen mit Nach-
richten nach Tientsin ausgesendeten chinesischen Boten. Aber auch
in dieser Nacht blieb die Leine, an der der Bote oder seine Brief-
schaften den Weg zu uns nehmen sollten, unberührt und wurde
vor Tagesgrauen wieder aufgeholt. Das Gewehrfeuer dauerte die
ganze Nacht, ab und zu mischte sich auch der Einpfünder des
Tschien-men darein; am stärksten wurde es in der Zeit von 1 bis
3 Uhr. Zu dieser Stunde versuchten die Chinesen wieder auf allen
Punkten ihr Glück. Myers verbrachte die Nacht oben, den wenigen
Schlaf noch manchmal unterbrechend. Am lästigsten fiel der ent-
setzliche Geruch chinesischer Leichen, die von den Kämpfen am
24. herstammend, nun schon 60 Stunden dort lagen. Die ostTvärts
liegenden hatte man ohneweiters über die Mauer in die Chinesen-
stadt geworfen, aber zu jenen vor der Barricade zu gelangen, war
unter dem Feuer unmöglich. Die amerikanische Barricade war
zwar nicht sehr glücklich angelegt, weil sie, auf der schmalen Stelle
der Mauer erbaut, von den Chinesen, welche die ganze Breite der
vorspringenden Bastion ausnützten, überflügelt werden konnte,
doch hatte man am 24. abends froh sein müssen, überhaupt einen
festen Punkt gewonnen zu haben.
Myers, in dem ich einen alten Bekannten von Hongkong her
gefunden, tauschte mit mir seine Ansichten : »wir gehörten alle in
die englische (xesandtschaft, dort könne man vsich kräftig wehren«
— aber meinen Einwand Hess er doch gelten, dass uns dort
Menge der Chinesen über den Kopf wachsen müsste. S'
die Nacht unter fortwährendem Geknatter und Klatschen auf-
schlagender Geschosse, wir feuerten keinen Schuss ab — einmal
war's mir. als ob ich in dem Gestrüpp eine Beweg^ung sähe, aber
das erwies sich als Täuschung. Bei Tagesanbruch schien sich der
Furor der Chinesen etwas besänftigt zu haben und sogleich wurde
weitergebaut, Mr. Squiers*) schickte einen frischen Gang Kulis
mit Werkzeugen und ein tüchtiges Frühstück für die Amerikaner
herauf. Gegen B Uhr, als es ganz ruhig geworden, trat ich den
Rückweg in die französische Legation an, wo mich keine erfreu-
lichen Neuigkeiten erwarteten.
Einer unserer besten Leute, der allezeit muntere und kampf-
lustige Badurina-PeriC, war auf der Stadtmauer durch einen Kopf-
schuss getödtet worden und Seecadet Mayer hatte die Leiche nur
unter grossen Fährlichkeiten herabbringen können; dies die Ein-
leitung der Nacht, in der die Strassenbarricaden und die Gesandt-
schaft selbst conlinuirlich aus nächster Nähe und äusserst heftig
beschossen wurden. Wieder war, und diesmal um 1(J Uhr, gerade
als das Feuer am ärgsten, eine Verstärkung von 5 Mann für die
englische Gesandtschaft verlangt worden, die aber nicht beigestellt
werden konnte.
Die Ruhe in den Morgenstunden dauerte nicht lange; schon
um 9 Uhr drangen die Chinesen an der Ostseite der französischen
Legation wieder entschieden vor. Während die beiden Strassen-
barricaden nicht nur von vorne, sondern nunmehr auch schon von
der Seite her heftig beschossen wurden, wiederholte sich dn^
schon am 25. Juni beobachtete Manöver unserer Gegner, indem
sie, durch stehengebliebene Mauern gedeckt, neue Barricaden in
den Ruinen und diesmal sogar eine an der Nordostecke der Ge-
sandtschaft quer über die Customsstrasse aufwarfen. Vergebens,
dass der eine oder der andere weggeschossen wurde, Thüren,
Tische, Balken erschienen aus sicherem Hinterhalte vorgeschoben
und dann flogen Ziegel und Erde so lange nach, bis auf wenige
Meter von unserer Mauer eine Deckung fertig war. Die Arbeit
konnte kaum gestört werden, denn von weiter rückwärts beschossen
die Chinesen unaufhörlich die Dächer und Mauern, so dass unsere
dort postirten Schützen sich kaum mehr decken konnten. Einmal
mit ihren Barricaden fertig, gaben unsere Feinde aus der nächsten
Linie ein maschinell massiges Gewehrfeuer gegen die Umfassungs-
mauer ab, offenbar in der Absicht, sie langsam zu zerstören; was
*) Die t(*chtE und wiikücli ausierordcnllich thitige Hand Sir Claadc's während
der gaaiea BeUgcning, war es ihm eio Leichtci, lui die Weilbairicade sxaf dci Mauer
AHM ea erhallen, wn-. une versagt blieb.
254
sie hiebei an Munition verbrauchten, ist schwer zu schätzen, muss
aber enorm gewesen sein.
Die Besatzungen unserer eigenen Barricaden waren verstärkt
worden und hatten die undankbare Aufgabe, hinter stündlich mehr
und mehr zerschossenen Deckungen auszuharren — zum Schusse
kamen die Leute wenig, denn nur selten wurde der Kopf, die
Schulter oder der Arm eines Chinesen sichtbar; dazu fegten vom
Westen her wieder die Amerikanern und Russen vermeinten Lang-
schüsse die ganze Legationsstrasse ab. Sehr hitzig ging's auch im
Block südöstlich von uns zu, wo wieder ein Brand wüthete und
Labrousse so hart bedrängt wurde, dass er zeitweise die kleine
Barricade am Fusse der Mauer räumen musste. Auf letzterer hatten
die Chinesen in der Nacht etwa 200 Meter westlich vom Hatamen
eine Angriffsbarricade errichtet und beschossen von dort die
unserige ; um 10 Uhr vormittags glaubten sie, wahrscheinlich durch
die sparsame Feuerabgabe unsererseits irregeführt, den Moment
zum Vorgehen gekommen. Damals stand gerade die österreichisch-
ungarische Wache unter Quartiermeister Carl Raschka im Dienste;
froh, die Kerle endlich frei zu Schuss zu bekommen, liess dieser
kaltblütige Unterofficier sie auf circa 300 Schritt herankommen
und erst dann Salvenfeuer abgeben, vor dem die einige Hundert
zählenden Zopfträger mit Zurücklassung vieler Todter eilends Kehrt
machten.
Zugleich mit der Beschiessung von Ost und Südost suchten
die Chinesen uns durch Anlegen von Feuer in den noch immer nicht
ganz verzehrten Häusern nördlich der Gesandtschaft auszuräuchern;
nicht genug daran, gingen zur selben Zeit die Häuser gegenüber
dem Hauptthor plötzlich in Flammen auf.
Zu Mittag wurde das Feuer etwas schwächer, hörte aber
speciell gegen die Ostmauer nicht auf; Le Gloanec, der älteste
Unterofficier der Franzosen, der wieder das Dach erstiegen, fiel
durch einen Kopfschuss — gleich darauf erhielt sein Nachfolger
eine Kugel in die Hüfte.
Kurz nach 1 Uhr nahmen die Chinesen das Feuer wieder
mit erneuerter Heftigkeit auf, und während wir von Nord, Ost
und Südost her Gewehrfeuer bekamen, vom Tschien-men aus Ge-
schütz mit Shrapnels beworfen wurden und es an drei Stellen
in unserer nächsten Nähe brannte, forderte der englische Minister,
wieder ahnungslos, wie es bei uns stand, 20 Mann Verstärkung!
Die Antwort konnte wohl nicht anders als ablehnend lauten.
Nach 2 Uhr wurde es etwas stiller, die Hitze musste auch
den Chinesen zu arg geworden sein.
• 9 St^birBiUnd.
256
Gerade Zeit genug, um Le Gloanec, der uns schon seit den
Nächten an der Barricade vor der österreichisch-ungarischen Le-
gation als ein Muster von Pflichtgefühl und Ruhe bekannt und
lieb war, zusammen mit dem jungen Badurina ins Grab zu legen.
Während noch P^re d'Addosio sein Gebet sprach, fing das Ge-
knatter um 3Vs Uhr von Neuem an, die Chinesen waren an der
Nordostecke schon dicht unter der Mauer, die, von oben continuir-
lich beschossen und von unten mit Brechwerkzeugen bearbeitet,
vielleicht nicht mehr lange halten mochte. Von unserer Barricade
war ihnen nicht mehr beizukommen, ihre eigene deckte sie zu gut
und für den Versuch, die gegnerische Deckung mit Gewehrsalven
zu zerstören, reichte unsere Munition nicht aus; immerhin ver-
wehrten aber die acht Mann von der «Zenta« hinter der Barricade
einstweilen noch unseren Gegnern die Customsstrasse zu über-
schreiten. Während uns an der Ostmauer also nur mehr die Gassen-
breite, ja an der Nordostecke nur mehr die Dicke der Mauer von
den Chinesen trennte, rückten diese in der Legationsstrasse zu
beiden Seiten immer dichter an die dortige, von Franzosen besetzte
Barricade heran. Das Feuer währte bis 6 Uhr und schon oft hatten
wir geglaubt, wenn drüben besonders laut »Scha-Scha!« geschrieen
wurde und die Trompeten ertönten, dass nun endlich doch der
Anlauf erfolgen müsse — dann wären die Barricaden wohl im Nu
verloren gewesen.
Das trat nun zwar nicht ein, aber wieder kam eine An-
forderung um Verstärkung für das Fu; diesmal erschien jedoch
M. Pichon selbst in seiner Gesandtschaft, und als er die Lage mit
eigenen Augen sah, erkannte er, dass viel eher wir Veranlassung
hätten, eine Verstärkung anzusprechen.
Unter Ausdrücken des Dankes für die bisherige zähe Ver-
theidigung und mit den besten Wünschen für unser ferneres Be-
stehen eilte er in die englische Legation zurück, um Sir Claude
und das übrige Comite eines Besseren zu belehren.
Im Fu hatten die Chinesen zwar vormittags eine Mauer durch-
brochen und waren in einen der äusseren Höfe eingedrungen, doch,
von den Japanern heiss empfangen, alsbald zurückgewichen; das
von ihnen gelegte Feuer äscherte zwar einen kleinen Tempel ein,
doch war damit kein allzu grosser Schade entstanden — die stehen-
gebliebene restliche Mauer wurde mit Schiesslöchern versehen,
aus denen man den Ausblick auf ein nunmehr viel freieres Feld
hatte. Nachmittags unternahmen auf Vorschlag des italienischen
SchifiFs-Lieutenants Paolini Italiener und Japaner mit Unterstützung
aus der englischen Gesandtschaft einen Ausfall an der ^
257
und vertrieben ihre Angreifer auf einige Zeit wenigstens aus ihrer
unmittelbaren Nähe. Die amerikanische Gesandtschaft war vor-
mittags ziemlich energisch angegriffen worden, nach Angabe Sir
Claude's waren sogar 200 Boxer, vom Militär aufgestachelt und
gedrängt, offen gegen die Barricade vorgegangen — aber nur so
lange, bis das Fallen einiger von ihnen in den übrigen Zweifel an
ihrer Unverwundbarkeit hervorgerufen. Der Tag hatte wieder
Opfer genug gekostet, aber noch besassen wir wenigstens die
Strassenbarricaden und das Stück Stadtmauer; von Sonnenunter-
gang an wurde auch wieder der Posten am Fusse der Mauer be-
setzt und sein Blockhaus verstärkt.
Noch während der Dämmerung versuchten die Chinesen
wieder einen Vorstoss vom Hatamen; diesmal war die Reihe an
BaSljan, der dieselbe Taktik wie sein Kamerad am Vormittag be-
folgte und die Angreifer zurückwarf, bevor er die Wache an die
Deutschen übergab.
Der Ostbarricade auf der Stadtmauer haftete, abgesehen
davon, dass sie mangels Arbeitskräften nicht so solide ausgebaut
werden konnte wie die amerikanisch-russische, noch ein anderer,
schwerwiegender Nachtheil an. Während die zur letzteren führende
Aufstiegsrampe unmittelbar hinter der amerikanischen Gesandt-
schaft, respective den mit diesen verbundenen und leicht besetzt
zu haltenden Chinesenhäusern lag, so dass nur ein kurzer, etwa
15 Schritt langer gedeckter Weg herzustellen war, um ungefährdet
die Rampe zu erreichen, konnte man zur Ostbarricade entweder
nur durch das schmale, die Verlängerung der Customsstrasse
bildende Gässchen oder die deutsche Gesandtschaft beim Hinter-
thor verlassend, über eine etwa 100 — 150 Schritt lange, dem Feuer
von zwei Seiten ausgesetzte Strecke gelangen, deren Sicherung
durch Schutzwehren schon wegen ihrer relativ grossen Ausdehnung
mit den verfügbaren Kräften nicht durchführbar war; hiezu kam
ferner, dass es sehr fraglich war, wie lange das erwähnte Gässchen
noch gehalten werden könnte.
In der Nacht Hess von Thomann, da man sich schon darauf
gefasst machen musste, auch die Häuser gegenüber der französi-
schen Gesandtschaft in der Legationsstrasse in die Hände der Chinesen
fallen zu sehen, vor dem Hauptportal ein Blockhaus aus Ziegeln
erbauen, von dem aus man gegen Osten und Süden bis Südwest
Feuer abzugeben vermochte. Frau von Rosthorn half unermüdlich
und frohester Laune bis spät nach Mitternacht beim Baue mit —
ein so anfeuerndes Beispiel, dass sogar die wenigen vor Anstren-
gung und Angst schon ganz stumpfen Kulis noch ein Letztes auf-
latlHÜder: Kämpfe in China. 17
258
boten, um die Ziegel rascher von Chamot's Neubau herbeizu-
schleppen.
BaSljan hatte sich, als es ruhig geworden, freiwillig erbeten,
eine Recognoscirung auszuführen, wie weit oder nahe die nächsten
•chinesischen Posten ständen; lautlos wegschleichend blieb er un-
gefähr eine halbe Stunde aus, meldete aber dann, dass die Chinesen
sich hinter die italienische Gesandtschaft zurückgezogen, in den
herwärts liegenden Häuserruinen jedoch zahlreiche Barricaden mit
der Front nach Westen errichtet hätten.
Solche nächtliche Schleichgänge führte der brave Unter-
officier mit grosser Geschicklichkeit in der Folge noch mehrere
aus, wobei er sich schliesslich nicht mehr enthalten konnte, auf
dem Rückwege den einen oder den anderen Chinesen zur Strafe
für seine Unachtsamkeit » mitzunehmen a, d. h. niederzuschiessen;
wie werthvoll seine Nachrichten für uns waren, geht wohl schon
daraus hervor, dass unsere Gegner bald nur mehr wenige Schritte
von uns standen und von ihnen herüberdringende Geräusche oft
genug falsche Alarme bei uns verursacht hätten, wären eben nicht
BaSljan's aufklärende Meldungen vorgelegen.
Am 28. Juni wiederholten sich die Angriffe von allen Seiten;
das Fu wurde im Nordosten mit Geschützen bombardirt, in unserer
Nähe, d. i. im Häuserblock südöstlich von uns bezogen chinesische
Truppen stabile Lager. Die aufgesteckten Banner zeigten, dass
wir dort Truppen der Generale Ma und Lih, Unterführer Tung-
Fuhsiang's, vor uns hatten ! Fünf Franzosen und fünf Oesterreicher-
Ungarn wurden zur Verstärkung des italienischen Postens im Fu
ständig dahin entsendet, da die Italiener bereits durch schwere
Verluste geschwächt waren ; hingegen versprach »das Centralcomit^
der internationalen Vertheidigung«, wie es sich zur Abwechslung
an jenem Tage nannte, keine weiteren fallweisen Anforderungen
an die Garnison der französischen Legation zu stellen. Ein Versuch,
die Chinesen aus den östlich von uns gelegenen Häuserresten zu
vertreiben, musste aufgegeben werden, da sie bereits vermocht hatten,
sich dort sehr stark zu verschanzen; so konnten wir also die langsam
fortschreitende Zerstörung der Ostmauer, auf welche unsere Gegner
seit dem frühen Morgen wieder unermüdlich ihr Gewehrfeuer ab-
gaben, nicht aufhalten.
Gegen 1 Uhr nachmittags trat eine kleine Pause ein, die
benützt wurde, um nochmals gegen die italienische Gesandtschaft
vorzudringen und bei dieser Gelegenheit eine Kiste mit Munition,
die man am Morgen in einem Hofe gesehen hatte, wegzunehmen:
die Chinesen waren jedoch auf der Hut und die kleine
259
musste sich mit einem tödtlich Verwundeten, dem französischen Ma-
trosen CoUas, zurückziehen. Letzterer erlag binnen wenigen Stunden.
Bald darauf wurde das Feuer wieder ungemein heftig; trotzdem
die Deutschen am Vormittag in dem südostlichen Häuserviertel
vorgegangen waren und dem Posten am Fusse der Mauer etwas
Luft gemacht hatten, rückten nachmittags die Chinesen wieder
gegen diesen und die Flanke der französischen Barricade in der
Legationsstrasse vor, so dass letztere nun von drei Seiten Feuer
erhielt und ihre Besatzung binnen Kurzem fünf Verwundete hatte.
Die Barricadenwache und der Posten am Ausgange des kleinen
Gässchens wurden daher temporär zurückgezogen und das Feuer
in der Legationsstrasse nur mehr von den Oesterreicher-Ungarn
aus dem Blockhause vor dem Portale unterhalten. Beim Rückzuge
wurde Labrousse von einer matten Kugel am Bein getroffen, erlitt
jedoch erfreulicherweise nur eine Contusion, die ihn für den Abend
und die Nacht zur Unthätigkeit zwang. In der Customsstrasse
wurde die von unseren Leuten noch besetzte Barricade durch
Franzosen verstärkt, doch war es unmöglich, die Chinesen daran
zu verhindern, dass sie eine neue Deckung in der schon geschilderten
Manier aus Holz quer über die Gasse bis an die Ostmauer auf-
warfen, offenbar um in letztere eine Bresche zu legen. Rosthorn
hatte zuerst die glückliche Idee, die Holzbarricade durch Feuer
zu zerstören; Petroleum war noch vorhanden und so improvisirten
er und seine Frau aus mit Stroh umwickelten und mit dieser
gefährlichen Flüssigkeit gefüllten Flaschen Brander. Rosthorn
selbst stand auf einer Leiter, übernahm die Flaschen, zündete das
Stroh an und schleuderte sie, rasch einige Sprossen erkletternd,
über die Mauer. Der Erfolg war ein durchschlagender und in das
Wuthgeheul der Chinesen mischte sich das lustige Prasseln des
dürren Holzes; Steine und ähnliche Wurfgeschosse flogen herüber
— mit den unentwegt gegen Dächer und Mauern sausenden
Gewehrprojectilen zusammen eine artige Sammlung antidiluviani-
scher und moderner Kampfmittel. Plötzlich fingen aber die Kleider
von Frau von Rosthorn Feuer und nur der Geistesgegenwart
BaSljan's, der, alle Rücksicht bei Seite setzend, die Dame zu Boden
warf und die Flammen mit seinen Füssen erstickte, war es zu
danken, dass sie nicht ihrer Bravour zum Opfer fiel — Gesicht
und fast die ganze linke Seite waren arg verbrannt, glücklicher-
weise die Augen jedoch unverletzt geblieben. Frau von Rosthorn,
die bisher so viel für die in der französischen Legation verbliebenen
leichter Verwundeten gethan, musste nun, so ungern ihre jetzt erst
recht angereizte Thatenlust dies vertrug, Dr. Matignon's Hilfe in
17*
260
Anspruch nehmen. Fast unmittelbar nach diesem Intermezzo griffen
die Chinesen um 6 V4 Uhr abends auf allen Seiten mit grosser Heftigkeit
und einem nach ihrer Ansicht jedenfalls unwiderstehlichen Getose
an; im Westen und beim Fu fielen in rascher Aufeinanderfolge
Kanonenschüsse und das Gewehrfeuer ging in ein unerhört schnelles
Tempo über. Nun wurde auch die Barricade in der Customs-
strasse in ihrer rechten Flanke von oben herab beschossen und
Seecadet Boyneburg fiel dort, von einem tiefen Streifschuss in die
Stirne getroffen, schwer verwundet in Kollaf Arme.
Thomann Hess die unhaltbar gewordene Barricade räumen.
Wenn die Chinesen etwas Herz im Leibe hatten, konnten sie nun
ungehindert die Ostmauer einschlagen oder mit Leitern ersteigen;
wir standen hinter letzterer zum Empfange bereit. Doch nichts
von alledem — nach etwa '/* Stunden rasenden Schiessens, Schreiens
und Trompetenlärmes war diese »Böe« vorübergezogen; noch eine
weitere halbe Stunde und bei einbrechender Dunkelheit wurde es
wieder möglich, die beiden Strassenbarricaden und den Posten am
Fusse der Mauer zu beziehen. In der englischen Gesandtschaft
war durch das Feuer zweier in einem Hause auf dem Mongolen-
markte aufgefahrener Geschütze zwar der obere Theil eines Hauses
stark hergenommen, im Uebrigen jedoch kein fühlbarer Schaden
angerichtet worden.
Dr. Velde sandte über das Befinden unseres ins allgemeine
Hospital geschafften Boyneburg noch im Laufe des Abends beruhi-
gende Nachricht; er war überzeugt, dass die Wunde, wiewohl die
Hirnhaut bloss lag, nicht tödtlich sei. Kine Erleichterung für alle,
die den schneidigen, so temperamentvollen jungen Mann schon um
seiner stets heiteren Laune und Unermüdlichkeit willen lieb-
gewonnen hatten.
Die Zahl der Kampffähigen in der französischen Legation war
durch diesen Tag wieder stark reducirt worden und umso freudiger
begrüvsste man daher das Einrücken neuer Freiwilliger, der Herren
Bouillard, Vicomte de Chollet, Gruintgens, Wagner, Duvieusard —
die Herren Bartholin und Merghelinck waren schon zwei Tage
früher zu uns gekommen, Picard-Destelan folgte den Genannten am
29. früh. Abends schlugen unsere Leute auf der Stadtmauer wieder
in grösserer Zahl vorrückende Chinesen zurück.
Die durch die heftige Beschiessung ziemlich arg mitgenommenen
Strassenbarricaden und das Blockhaus wurden nachtsüber mit
Erdsäcken verstärkt; letzteres erfreute sich bereits des Vorzuges,
von den Chinesen im Südosten als Ziel erwählt zu werden, waff
bis zum nächsten Morgen auch mehreremale wiederholtep
261
die Ostmauer verstummte das Feuer auch in der Nacht nicht völlig.
Der schmale Hof war bereits mit Trümmern von Ziegeln übersäet
und Zahlenkundige berechneten, dass dieser Erfolg unseren Geg-
nern schon über 1000 Dollars Munition gekostet haben musste.
Um 2Vi Uhr morgens unternahmen Russen, Engländer und
eine vom Militär- Attache Lieutenant von Lösch geführte Abtheilung
Deutscher einen Ausfall gegen den Mongolenmarkt, um sich der
dort aufgestellten, durch ein Thor verdeckten zwei chinesischen
Geschütze zu bemächtigen. Der Versuch misslang jedoch, weil die
Orientirung in der Dunkelheit mangelte, und kostete neuerdings
einige Verwundete ; nur mehrere Häuser, die den Ausschuss behin-
derten, wurden angesteckt.
Der Ausfall bildete, wie vorauszusehen, die Veranlassung zu
einer Fusillade auf allen Punkten, die man aber schweigend
ignorirte.
Um 6 Uhr morgens des 29. Juni setzten die Chinesen ihre
nun schon fünf Tage währenden Bemühungen, sich einen Eingang
in die französische Gesandtschaft zu erzwingen, fort; durch die
üblen Erfahrungen mit brennbarem Material gewitzigt, warfen sie
diesmal an der Nordostecke eine Barricade aus Steinen auf, die
trotz aller Anstrengungen von unserer Seite, ihr Zustandekommen
zu verhindern, doch binnen anderthalb Stunden fertig war. Daneben
ging die Beschiessung der Mauer wieder rüstig weiter, allerdings
von jedem Einzelnen auf eigene Faust, die Erhöhung der Wirkung
durch regelrecht vertheilte und abgegebene Salven stand an-
scheinend noch nicht im militärischen Katechismus unserer Gegner.
Immerhin war man genöthigt, sich auf das baldige Entstehen
von Breschen gefasst zu machen, und deshalb wurden die Vor-
bereitungen beschleunigt, um solche von der Ostfront, d. h. den
Häusern Saussine, Morisse, dem blauen Salon und den Dependancen
des Ministerhauses aus wirksam unter Feuer zu nehmen. Das be-
deutete vermehrte Arbeit und Posten; die Wache am Fusse der
Mauer musste daher eingezogen und den Deutschen allein über-
lassen, der Zugang zur Aufstiegsrampe fortan durch die deutsche
Gesandtschaft genommen werden. Um den Weg zu unseren eigenen
Barricaden abzukürzen und dadurch die Ablösung der Posten
Weniger gefahrlich zu machen, wurde nahe dem Flaggenmast eine
in die Legationsstrasse mündende Bresche geschlagen und durch
vorgelegte Erdsäcke maskirt, aber auch dann blieb dieser Augen-
blick noch immer kritisch.
Für unsere Mitrailleuse gab es wegen der Beschränktheit des
Ausschusses in den zur französischen Legation gehörigen Stellungen
262
keine Verwendung mehr; der Transport des sehr gebrechlichen
Wagens auf die Stadtmauer war entschieden nicht räthlich, und
da die Deutschen ebenfalls keinen Gebrauch von ihr machen
konnten, wurde diese Waffe einstweilen in der englischen Gesandt-
schaft deponirt.
Um 11 Uhr vormittags nahm das Feuer der Chinesen wieder
an Heftigkeit zu und richtete sich besonders gegen die Ostfront;
nach 1 Uhr fiel Herber, der versucht hatte, vom Dache aus die
gegen die Umfassungsmauer Schiessenden unter Feuer zu bekommen,
genau an derselben Stelle wie tagsvorher Le Gloanec und ebenfalls
durch einen Kopfschuss!
Das Unglück verfolgte unsere tapferen französischen Kame-
raden mit grausamer Consequenz ! Herber's Tod war ein schwerer
Schlag für uns Alle, nicht allein für Darcy und seine taglich
schwindende Schaar. Ungewöhnlich kaltblütig und ausdauernd, von
raschem Entschluss in entscheidenden Augenblicken und stets voraus
bedenkend, was er für die Vertheidigung und namentlich zum Besten
seiner Leute thun könnte, hatte er nicht nur das allgemeine volle
Vertrauen und eine rührende Anhänglichkeit seitens seiner Unter-
gebenen genossen, sondern war uns mit seiner stillen Art stets als
die Verkörperung der freudigen Pflichterfüllung und der Zuversicht
erschienen — der Typus seiner thätigen, liebenswürdigen Lands-
leute, die Frankreichs innere unversiegbare Kraft bedeuten ! Unsere
Feinde gönnten uns nicht die Zeit, dem tapferen Kämpfer ein so
würdiges Grabgeleite zu geben, wie wir es gerne gewünscht
hätten; von zwei Seiten rückten sie mit grossem Aufgebot an
Getöse näher und näher.
Zuerst drangen sie im südöstlichen Häuserblock längs der
Stadtmauer bis auf die Höhe des Gässchens und in letzteres selbst
vor, woran sie die Wache auf der Stadtmauer, durch das Feuer
vom Hatamen gebunden, auch nicht zu verhindern im Stande war;
da auf diese Weise die Besatzung der Barricade in der Legations-
strasse in Flanke und Rücken bedroht wurde, ja deren Rückzug
auf das Blockhaus vor dem Thore jeden Augenblick abgeschnitten
werden konnte, wurde diese und infolgedessen auch die Mannschaft
der österreichisch-ungarischen Barricade einberufen. Hiedurch über-
liess man nothgedrungen die Customsstrasse ganz den Chinesen,
w^elche nun von Norden und Osten in grossen Schaaren an unsere
Umfangsmauer herankamen und alle Anstalten trafen, sie in Bresche
zu legen ; auf der Südostseite wagten es unsere Angreifer aus
Furcht vor dem Feuer aus dem Reduit vor dem Portale nichts die
breite Legationsstrasse zu überschreiten, so dass die norn
263
Setzung dieses Punktes ausreichte, gegen welchen die Chinesen
allerdings ein ebenso verschwenderisches als erfolgloses Feuer
unterhielten.
Die Ostfront und die Ställe wurden mit allen verfügbaren
Leuten besetzt, um den Versuch einzudringen gleich abweisen zu
können. Nach dem betäubenden Geschrei und Trompetenlärm, sowie
nach der Anzahl der Banner zu schliessen, die draussen an die
Mauer angelehnt sein mussten, weil sie schon über deren Krete
hereinnickten, attaquirten uns drei Bataillone; die Mauer begann,
von aussen mit Stangen bearbeitet, an zwei Stellen bedenklich zu
wanken und abzubröckeln, das Feuer gegen die Dächer hörte
keinen Augenblick auf, gleichzeitig wurden wir mit Steinen, bren-
nenden Holzstücken u. s. w. beworfen. Endlich gaben die Dächer
des Nordstalles nach, ein Stück Mauer, beiläufig in der Mitte des
Hofes, stürzte unter dem Triumphgeschrei der Chinesen ein, aber
schon fielen einige von ihnen durch die Schüsse der an der Mauer
postirten Unsrigen.
Gleich darauf wurden einige mit brennendem Werg umwickelte
Stangen von draussen in das Gebälk des Nordstalles geschoben,
die man mit Allem, was bei der Hand war, w^egzudrücken versuchte,
aber die zündende Masse fiel herab und bald brannte es dort
lichterloh; gleichzeitig entstand eine zweite Bresche, die halbe
Sattelkammer des Südstalles einnehmend; auch dort bezahlten
einige beherzte Chinesen ihre Kühnheit, hereinschlüpfen zu wollen,
mit dem Leben.
Inzwischen waren — ob auf Darcy's Initiative oder auf Chamot's
Veranlassung, darüber gehen die Meinungen auseinander —
fünf Deutsche, drei Japaner und fünf Engländer als Verstärkung
herbeigekommen und unter dem Hagel von Wurfgeschossen primi-
tivster Art und hoch über unsere Köpfe wegpfeifender Gewehr-
projectile erwarteten wir von Minute zu Minute, dass sich ein
Strom von Stürmenden durch die sich stets erweiternden Breschen
gegen uns entfesseln würde. Dicht an die Mauer gedrückt hielt
ein Theil der Vertheidiger seine Gewehre an die Breschen ab
und zu wurde von ihnen ein glücklicher Schuss abgegeben, die
Mehrzahl musste aber aufgeboten werden, um den Brand zu dämpfen.
Letzteres war keine leichte Aufgabe ; statt einer Spritze gab\s nur
wenige, meist durchlöcherte Eimer, ein Glück, dass der Stall so
nieder, dass man das Dachwerk noch mit Stangen einstossen und
niederreissen konnte, ein noch grösseres, dass leichter südwestlicher
Wind die Flammen und Funken von den Hauptgebäuden wegtrieb.
Durch den theilweisen Erfolg ermuthigt, warfen die Chinesen jetzt
264
auch Brandraketen, eiserne, mit Brandsatz und angezündeten Stup-
pinen g-efüUte Röhren herein, die nach Art der bekannten Schwärmer
einige Zeit umhersprangen, bis sie ein Wasserguss unschädlich
machte.
Man gewöhnte sich allmählich an den Höllenlärm und er-
kannte schliesslich, dass diese uniformirten Pöbelmassen ihre Wuth
hauptsächlich durch Zerstörung des Materials kühlen wollten — ja.
um den Eindruck von einer wüsten Strassenscene zu vervollstän-
digen, erhob sich zwischen unseren wenigen Kulis und ihren ausser-
halb der Mauer tobenden Landsleuten ein Duett der unfläthigsten
Schimpfworte! Dazu unterschied man ab und zu die befehlende
Stimme eines chinesischen Officiers, der, selbst in den hintersten
Reihen stehend, seine Leute aneiferte, doch einzudringen und uns
den Garaus zu machen — aber auch manche Antwort, wie: »Es
geht nicht, die weissen Teufel schiessen ja« — und Aehnliches.
Einmal wurde aber doch eine Leiter über der Mauer sicht-
bar, einige Schüsse in ihre Holme genügten aber, um sie ver-
schwinden zu machen, und als wir mit einem Haken ein Banner
hereinreissen wollten, brachten die Tapferen dieses und die übrigen
ausser Reichweite.
Inzwischen hatte auch ein Theil des Südstalles P^uer gefangen,
das aber mit Erde und Steinen noch rechtzeitig gedämpft wurde —
den Nordstall Hess man vorderhand, so lange uns der Wind günstig,
weiterbrennen.
Matrose Tavagna, der bei der Südbresche stand und schon
einige gute Treffer erzielt hatte, fiel in dem Augenblicke, wo er
sich, unvorsichtig geworden, etwas vorbeugte, durch einen Schuss,
der seinen Kopf ganz zerriss.
Der ganze Angriff dauerte von 2'*/4 Uhr nachmittags bis
Sonnenuntergang — also nahezu fünf Stunden, wahrlich Zeit genug
für unsere Widersacher, um der Vertheidiger Herr zu werden,
aber zu einem herzhaften Anlauf reichte alle ihre Raserei nicht.
Bei Einbruch der Dunkelheit verstummte allgemach der Lärm
und die Assistenzen wurden dankend zurückgeschickt — es war
das erste und letztemal, dass solche in der französischen Legation
erschienen.
Als die Chinesen sich zurückgezogen hatten, schlug plötzlich
der Wind um und gefährdete so die kostbare Ostfront; mit vieler
Mühe gelang es schliesslich, den Brand im Nordstall zu dämpfen,
hingegen entschlossen wir uns, den Südstall selbst in Rauch auf-
gehen zu lassen, denn seine Mauern verdeckten die eine Bresche
zur Hälfte und hinderten nur den Ausschuss.
265
Auf der einen Seite löschend, auf der anderen Seite schürend,
wurden wir nach 9 Uhr von einem heftigen Gewitter überrascht;
gleichzeitig begann wieder aus den benachbarten niedergebrannten
Häusern ein äusserst lebhaftes Feuer gegen uns, dessen Intensität
mit jener von Donner, Blitz und Regen in einem unverkennbaren
Zusammenhang stand.
Die Schliessung der Breschen konnte schon wegen ihrer
Grösse nicht vorgenommen werden, hingegen einigten sich von
Thomann und Darcy dahin, südlich von der ausgedehntesten eine
Barricade quer über den schmalen Hof zu ziehen, welche es er-
möglichte, den grössten Theil des letzteren unter Kreuzfeuer zu
nehmen ; der Bau wurde noch in der Nacht so weit gefördert, dass
bei Tagesanbruch eine genügende Deckung vorhanden war. Die
Vertheidigungsinstandsetzung der Ostfront des ganzen Gebäude-
complexes erforderte noch mehrere wichtige Ergänzungen, haupt-
sächlich die Demolirung der ihr zugekehrten Wände der an die
Umfassungsmauern gebauten Ställe und Dienerw^ohnungen. Von
dieser Nacht an übernahmen die Oesterreicher- Ungarn das Thor-
gebäude, die vor demselben erbaute, reduitartige Barricade und
die Hälfte des Hauses Morisse, die Franzosen die ganze übrige
Ostfront zur Vertheidigung.
Auch die übrigen Stellungen der Fremden wurden gleich-
zeitig wie die französische Gesandtschaft beschossen, doch hatten die
(Chinesen gegen keine derselben eine ähnliche Heftigkeit und
Ausdauer wie gegen letztere entwickelt; M. Pichon, der noch in
den Vormittagsstunden bei uns gewesen und auf Grund der ersten
zu ihm gelangenden Informationen schon den Verlust seiner Legation
befürchten musste, beglückwünschte noch in der Nacht die Be-
satzung zu ihrem Erfolge.
Tavagna's bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leiche wurde
während des Gewitters bestattet.
Nach Abschlag der dauernd ins Fu detachirten betrug die
Zahl der Vertheidiger der französischen Gesandtschaft nur mehr
33 französische, 20 österreichisch-ungarische Matrosen und — das
Ehepaar Rosthorn inbegriffen — 14 Freiwillige; die Strassenbarri-
caden waren endgiltig verloren, aber dieser Umstand erschwerte
die Aufgabe, den so wichtigen Punkt zu halten, nur noch mehr,
denn die Bewachung der Breschen und der Ostmauer überhaupt,
an welcher die Chinesen jetzt ungehindert ihr Zerstörungswerk
fortsetzen konnten, endlich die unmittelbare Nähe des Feindes —
acht, stellenweise sogar nur sieben Meter — absorbirte eine
grössere Anzahl Wachen und stellte an ihre Aufmerksamkeit
266
höhere Anforderungen, als zur glücklicheren Zeit des Besitzes der
Barricaden nöthig gewesen.
Infolgedessen musste die Betheiligung an der Besetzung der
östlichen Barricade auf der Stadtmauer sistirt werden, umsomehr
als die Japaner am 30. Juni morgens eine bisher von ihnen ge-
haltene an der Nordseite der französischen Gesandtschaft gelegene
Strassenbarricade wegen ihrer bisherigen Verluste an uns über-
gaben; letztere wurde von drei französischen, zwei österreichisch-
ungarischen Matrosen und zwei Freiwilligen besetzt und bildete,
weil dort' ein steter Contact mit in die Nähe geflüchteten chine-
sischen Christen bestand, ein Feld, wo die sprachkundigen Herren
Picard-Destelan, Veroudart und Feit ausserordentlich Wichtiges
leisteten.
Fast die ganze Nacht vom 29. auf den 30. Juni dauerte das
Gewehrfeuer gegen unsere Stellung an und ging erst am Morgen
in ein »sniping« über, mit welchem, dem englischen Soldatenjargon
entlehnten, sehr treffenden Ausdruck die Bemühungen wohlver-
borgener chinesischer Schützen bezeichnet wurden, einzelne Schüsse
anzubringen. So schlecht die grosse Masse der Soldaten die Gewehre
zu benützen verstand, so gut und sicher schössen einige der »snipers«
die es gleichzeitig sehr geschickt anstellten, sich unseren suchenden
Blicken zu entziehen.*)
Wir hatten Gelegenheit, unsere Befestigungen auszubauen, was
allerdings die ganze Besatzung vollauf beschäftigte, und wurden
erst nachmittags durch eine erneuerte heftige Beschiessung der
Ostmauer und einen Brand in den Trümmern des Nordstalles ge-
stört, den unsere Gönner jenseits der Mauer mit den schon be-
kannten Mitteln verursacht hatten; diesmal brannte er völlig aus.
Hingegen kostete der Tag den Deutschen und Japanern
schwere Opfer; erstere verloren auf der Stadtmauer und in den
Häusern östlich ihrer Gesandtschaft nicht weniger als drei Todte,
drei Schwer- und zwei Leichtverwundete, so dass sie um Ver-
stärkung durch die Engländer ansuchen mussten. Von den auf die
Mauer entsendeten zehn englischen Seesoldaten wurden zwei ver-
wundet ; abends gingen vier bisher in der britischen Gesandtschaft
thätige Freiwillige, darunter auch unser Landsmann Herr Wihlfahrt
*) Einen dieser »snipers«, die natürlich alle mit rauchlosem Pulver schössen, konnten
wir, wiewohl er durch volle zwölf Tage sein Unwesen gegen die Thorbarricade trieb, trotz
aufmerksamster Beobachtung mit dem Glase und der Nähe seines Versteckes — im
Hause gegenüber auf der Südseite der Legationsstrasse — absolut nicht entdecken; der
alte Fuchs ging auch nicht in die zu Lederstrumpf's Zeiten übliche und in PeWa^
einigemale mit Erfolg angewendete Falle mit der absichtlich gezeigten up^
lassenen Kopfbedeckung.
267
als Assistenz zu den deutschen Posten. Die Japaner mussten, durch
Brände gezwungen, einen Hof räumen.
Die Geschütze auf dem Tschien-men waren besonders gegen
die deutsche Legation und die Ostbarricade auf der Mauer thätig;
gegenüber der russisch-amerikanischen hatten die Chinesen im
Laufe der letzten Nächte weitere Angriffsbarricaden vorgeschoben,
auch schon den westlichen Aufgang der Rampe auf mehr als halbe
Hohe in ihren Besitz gebracht und waren derart, durch Deckungen
geschützt, den Amerikanern immer näher gekommen.
Wieder stand ein ganz uncontrolirbares Gerücht vom Herannahen
eines Entsatzes — diesmal wurde von 2000 Japanern gesprochen —
im Umlauf, ja Einzelne gingen so weit, sich auf einen angeblichen
Ausspruch des Oberstlieutenants Shiba, der hieran gewiss aber keinen
Antheil hatte, zu berufen und die bereits erfolgte Ankunft dieser
Truppen in Tungtschau zu colportiren ; spät am Abend sollte auch
noch ein Lichtschimmer am südöstlichen Horizont beobachtet
worden sein, der als Signal der herannahenden Colonne gedeutet
wurde. Thatsächlich ersuchte Sir Claude, die farbigen Signalpatronen,
welche das Detachement »Zenta« mitgebracht hatte, von der Mauer
aus abfeuern zu lassen, was auch um 10 Uhr geschah — aber es
kam nichts, das als Erwiderung hätte angesehen werden können.
Nachtsüber wurde am Fusse der Stadtmauer stärkeres Schiessen
hörbar, dreimal eröffneten die Chinesen auch gegen uns ein jedes-
mal nur kurz andauerndes Feuer. Dies hatte jedoch eine besondere
Bewandtniss. Mit dem Ziegelbau unserer Barricaden innerhalb der
Legation fertig, wollten wir sie, um die Splitterwirkung zu ver-
meiden, mit Erdsäcken krönen und brauchten dazu die der nun
verlassenen Strassenbarricaden ; wir hatten alle Säcke aus der
Customsstrasse und einen Theil auch schon von der Ostbarricade
glücklich hereingebracht, als die Chinesen aufmerksam wurden und
von beiden Seiten aus nächster Nähe auf unsere von Thomann
und Rosthorn geführte, aus einigen Europäern und etwa einem
halben Dutzend Kulis bestehende Partie schössen, was sich auch
bei zwei neuerlichen Versuchen wiederholte.
In der zweiten Hälfte der Nacht fiel starker Gewitterregen,
jeder dichtere Schauer auch von einem heftigeren Gewehrfeuer
der Chinesen begleitet; für unsere Arbeiten kam das himmlische
Nass recht ungelegen, denn die durchtränkten Erdsäcke fingen
durch das vermehrte Gewicht an zu reissen, was uns zwang, einst-
weilen jede Arbeit damit einzustellen.
Am folgenden Tag, dem 1. Juli verlustreichen Angedenkens,
erofl^eten die Chinesen das Feuer zuerst gegen die von Deutschen
268
und Engländern besetzte Ostbarricade auf der Stadtmauer und
überraschten, die Mauer ersteigend, die Wache, welche sich nun
in einem heftigen Kreuzfeuer befand und gegen 8V4 Uhr zu-
rückzog. Soden rückte zwar allsogleich mit einer Verstärkung an,
erkannte es aber als ein Ding der Unmöglichkeit, die Barricade
zurückzuerobern. Die Amerikaner verliessen daraufhin, im Rücken
bedroht, ebenfalls ihren Posten. Die Nachricht von diesem die
ganze Stadtmauer unseren Gegnern überantwortenden Ereigniss
kam uns durch die Deutschen zu, so dass von Thomann sich zu
ihnen begab, um darüber Näheres zu erfahren.
Während seiner Abwesenheit begannen ein oder zwei chine-
sische, auf kurze Entfernung im Nordosten von uns aufgestellte
Geschütze ein Granatfeuer gegen das Ministerhaus und die unter
dem Namen »Bienensalon« bekannte grosse Halle; gleichzeitig
rückten die Angriffstruppen wieder unter heftigem Gewehrfeuer und
mit betäubendem Getöse von Norden und Osten her gegen die
breschirte Mauer vor. Der vierte Schuss aus den Geschützen riss
dem französischen Freiwilligen Wagner, der eben mit einer Meldung
zu Darcy gelaufen kam, die Hälfte des Kopfes weg, Granate um
Granate traf die Gebäude. Darcy glaubte endlich nicht mehr halten
zu können und Hess zum Rückzug blasen, um die letzte Vertheidigungs-
linie, die Ostseite des Hotels zu besetzen. Durch die durchwachte
Nacht und heftige Schmerzen in meinem verwundeten Auge über-
müdet, hatte ich mich kurz vor 8 Uhr in das finstere Hinterzimmer
des Fremdenpavillons zurückgezogen, um vielleicht doch etwas
Erholung zu finden, als einer unserer Leute hereinstürzte, um mich
vom Rückzug zu verständigen, dem ich mich nur mehr als einer
der Letzten ausschliessen konnte.
Im Hotel wurden sogleich die von seinem Besitzer herge-
richteten Stände bezogen ; kurz darauf eilte von Thomann herbei
und veranlasste die Wiederbesetzung der französischen Gesandt-
schaft, in die auch diesmal die Chinesen nicht nur nicht einge-
drungen waren, sondern von der sie sich beim Klang des Signal-
hornes eiligst wieder zurückgezogen hatten, von Thomann hat
durch sein Eingreifen bei dieser Gelegenheit der Vertheidigiing
einen Dienst von grosser Tragweite geleistet, denn trotz aller
Defensivbauten Chamot's hätte das Hotel doch nicht halb so lange
Stand halten können als die bereits arg beschädigte Gesandtschaft.
Darcy gesteht in seiner jede Beschönigung verachtenden gross-
herzigen Weise offen zu, dass er, durch die schlimmen Nachrichten
über die Lage auf der Mauer irregeführt und durch den Effect
des Geschützfeuers beeinflusst, das zum erstenmale aus soldu^
1 Nähe gegen uns zur Anwendunj;;- kam, tjinen Augenblick die Sicher- 1
P heit der Beurtheilung verlor. M
Seine eigenen Worte, welche seinen vornehmen Charakter H
gewiss mehr als irgend etwas Anderes hervortreten lassen, sind aber H
in einem wesentlichen Punkte lückenhaft und zur besseren Beur- 1
thetlung, wie er überhaupt einen Moment sich selbst untreu werden
konnte, muss ich anführen, dass er an dem Tage physisch schwer
litt; Fieber und ein Dysenterie- An fall hatten seine durch continuir-
liehe moralische Anspannung und Strapazen übermässig bean-
spruchten Kräfte in einem Masse erschöpft, dass manch Anderer
überhaupt seine Pflicht an einen Stellvertreter übertragen hätte.
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Kaum wieder in unseren Mauern, erlebten wir dasselbe, was H
■ uns schon am 22. Juni aufgefallen war, ein erneuertes, durch die 1
1 Erkenntniss der Grundlosigkeit ihrer .\ngst verschärftes Vorgehen 1
W der Chinesen ; von 10'/» Uhr bis Mittag tobten sie wieder an unseren 1
r Mauern und beschossen uns zum er.stenmale aus den Häusern gegen- ^
Über dem Portal, in denen sie nun dauernd festen Fuss fassten und 1
sich dementsprechend einrichteten. Dadurch waren wir nun an zwei 1
Seiten eng umklammert, in der Customsstrasse nur durch die Um- 1
(assungsmauer, in der schon eine dritte Bresche entstanden war, und 1
den ganz schmalen Hof, im Süden nur durch die Breite der Legations- J
Strasse, also etwa 16 Schritt von unseren Widersachern getrennt. |
Drei weitere, gegen die deutsche Gesandtschaft zu gelegene ■
Hüuser gingen noch am Vormittag in Rauch und Flammen auf. ^^^H
270
das gewöhnliche Vorspiel, ohne welches sich die chinesischen
Krieger nun einmal nicht behaglich machen konnten.
Inzwischen hatten die Amerikaner und Russen, späterhin
noch durch zehn Engländer unterstützt, die Westbarricade auf der
Stadtmauer um 10 Uhr vormittags wieder besetzt und den Bau
einer etwas östlich des Canaldurchlasses gelegenen begonnen, wo-
bei Captain Wray leicht verwundet wurde; auch auf der Stadt-
mauer war den Chinesen somit ihr g^össter Vortheil glücklicher-
weise entgangen.
Nachmittags hatten wir einen dreistündigen AngriflF von einer
noch grösseren Intensität als am 29. Juni zu bestehen. Diesmal
wurden die Häuser Morisse und Saussine vom Geschützfeuer
besonders stark hergenommen, ihre Dächer und die oberen
Theile der Mauern zerfielen, aber durch die Erfahrungen jenes
Tages über den Werth solcher Spectakel-Anstürme orientirt, liess
man die Leute soweit als möglich vor den Granaten in Deckung
und begnügte sich, die Breschen zu überwachen.
Durch den auch bei dieser Gelegenheit nicht fehlenden Stein-
hagel wurde von Thomann am Hinterhaupt, ein Franzose an der
Schulter verwundet.
In der Legationsstrasse setzten sich die Chinesen, von denen
einige beim Ueberschreiten des freien Stückes Strasse fielen, in der
von uns verlassenen Barricade fest und gaben, unsere einstige
Rückendeckung ausnützend, ein im Ganzen wieder harmloses,
maschinenmässig unterhaltenes Feuer gegen das Hauptthor und
das Blockhaus ab, welch letzteres sich vorzüglich bewährte.
Um 5 Uhr hörte das Gewehrfeuer auf und verschwanden die
Chinesen aus der Strassenbarricade : vom Reduit aus beobachteten
wir. wie an Stelle der alten italienischen Barricade aus Balken
und Steinen ein massiver Verhau entstand, doch vermochten wir
nur selten einen der dort Beschäftigten zu Schuss zu bekommen.
Eine Viertelstunde nach dem Einstellen des allgemeinen Feuers
warf ein etwa auf 4CM) Meter im Südosten postirtes Geschütz sieben
Granaten in das Dach des Thorgebäudes, welches zwar durch-
schlagt^n wurde, dank seiner starken Construction aber im Ganzen
noch hielt. Die uns unsichtbar bleibenden chinesischen Artilleristen
zielten ganz anerkennenswerth gut. die Treffer lagen dicht um ein
und denselben Punkt, was andererseits sehr zu unserem Vortheile ge-
r^richte. denn nach dem ersten Schusse wusste man, wohin die Leute
in lM"zkunir brinvren. und so sahen wir vom Blockhaus, also auf fünf
bi> sechs Meter dem Einschlagen der Granaten zu, ohne dass ein
Mann verwundet worden wäre.
271
Da das Bombardement der Hauptgebäude schon geraume Zeit
früher geschwiegen, bevor das Thorgebäude an die Reihe kam, als
Ziel zu dienen, und dieses zudem aus einer ganz anderen Richtung
beschossen wurde, lag der Schluss nahe, dass in beiden Fällen das
oder dieselben Geschütze in Action gebracht wurden; ähnliche
Beobachtungen sind auch fernerhin unÄ an verschiedenen Punkten
angestellt worden und lassen die Annahme gerechtfertigt erscheinen,
dass gegen das Legationsviertel überhaupt nur fünf bis sechs
moderne Geschütze, 75 und 57 Millimeter verwendet wurden.
Schon vormittags hatten die Chinesen dgiS Fu vom Norden her
auf kurze Distanz mit Granaten beschossen, endlich eine Bresche in
die äussere Mauer gelegt und setzten dann das Feuer gegen die
Gebäude, in und hinter denen die christlichen Chinesenflüchtlinge
untergebracht waren, fort ; Schiffs-Lieutenant Paolini, ausser Stande,
die Bedienungsmannschaft des Geschützes durch seine Leute unter
Feuer nehmen zu lassen, entschloss sich gegen SV* Uhr nachmittags
in Gemeinschaft mit den Japanern und durch einige Engländer,
Freiwillige und Seesoldaten unterstützt, zu einem Ausfall, um die
Kanone w^omöglich sammt Munition wegzunehmen. Er selbst führte
seine Leute, dann zwei Oesterreicher-Ungarn und drei Franzosen
von der Fu-Besatzung, sowie die Engländer von der Westseite aus
entlang der Nordmauer,die Japaner unter Hauptmann Ando nahmen
ihren Weg an der Ostseite, um so den Chinesen in die Flanke zu fallen.
Der italienische Officier war mit seiner Schaar in raschem
Anlauf schon bis auf ungefähr 10 Schritt von einer Barricade an-
gelangt, hinter welcher er das Geschütz vermuthete, als die Chinesen
ein mörderisches Feuer eröffneten ; Paolini fiel durch einen Schuss
in den linken Oberarm schwer verwundet, ein italienischer Matrose
tödtlich getroffen, ein französischer Unterofficier erhielt einen
Schuss durch den Arm. In der engen Sackgasse konnten die Nach-
folgenden nicht so rasch vor und so musste der Führer das Zeichen
zum Rückzug geben, während dessen noch ein zweiter Italiener
fiel und ein weiterer verwundet wurde. Mit Mühe und Noth konnten
Paolini und der zuerst getödtete Italiener durch ein glücklicher-
weise während des Rückzuges entdecktes Loch in der Nordmauer
geborgen werden und der Rest sich ausser Feuerbereich zurück-
ziehen ; die beiden Oesterreicher und zwei Franzosen setzten un-
beirrt durch den ihnen nachgesendeten Kugelregen ihren Weg bis
über die Nordwestecke des Fu fort und überstiegen erst dort beim
franzosischen Posten die Mauer.*)
*) Gerichtlich erhobener Thatbestand, der die unqualiticirbare Bemerkung Dr.
Morrisons, Italicner und Oesterreicher hätten wie die wilden Thiere um das
272
Einer der englischen Freiwilligen wurde noch im letzten
Augenblicke verwundet, hatte aber noch die Energie, das Gewehr
eines der gefallenen Italiener zu bergen. Auch die Japaner mussten
vor einem übermächtigen Feuer umkehren und verloren je einen
Todten und Verwundeten; bei diesen für die Besatzung des Fu
so schwerwiegenden Verlusten war noch der Umstand besonders
beklagenswerth, dass die Leiche des italienischen Matrosen Bosca-
rini den schänderischen Händen der Chinesen nothgedrungen über-
lassen werden musste.
An Stelle des sfhwerverwundeten Schiffs - Lieutenants über-
nahm Herr Caetani, Secretär der italienischen Gesandtschaft, den
Dienst im Nordwesttheile des Fu.
Das Schlussergebniss des Tages war traurig genug: fast die
ganze Stadtmauer den Chinesen preisgegeben, die Gebäude der
französischen Gesandtschaft durch Geschützfeuer schwer beschädigt,
die Chinesen in der Legationsstrasse in einer Position festgesetzt,
von wo sie die deutsche und französische Legation jeden Augen-
blick scharf angreifen konnten, und die Vertheidiger wieder um
fünf Todte und mehr als ein halbes Dutzend Verwundete ärmer.
Wagner's Schicksal, der noch in der Nacht so unermüdlich mit-
gebaut hatte, ging uns besonders zu Herzen. Kurz vor Sonnen-
untergang kamen wir endlich zur Ruhe, auch die Chinesen zogen
ihre au der Ostmauer und jenseits der Legationsstrasse aufge-
stellten Banner ein; endlich fiel Regen und die Nacht verlief auf
dem Ostflügel ruhig bis auf kurze Fusilladen um 10 Uhr, Mitter-
nacht und 3 Uhr. Solche nächtliche Störungen, die man aber bald
nicht mehr ernst nahm, erfolgten von nun an mit einer gewissen
Regelmässigkeit; wenn der Spuk gar zu arg wurde, gab dann die
Wache des gerade beschossenen Punktes zwei, drei Salven ab —
man bedenke, wie formidabel : fünf Gewehre höchstens — und
wenn nur das Commando recht laut und scharf ertönte und die
Schüsse hübsch zusammenklappten, was unsere deutschen Kame-
raden »flutschen« nannten, so gaben unsere offenbar nie über con-
tractliche Verpflichtungen hinausgehenden Widersacher die weitere
Thätigkeit auf.
x\m 2. Juli morgens sandte M. Pichon briefliche Nachricht,
dass Sir Claude am Vorabend in südöstlicher Richtung elektrische
Signale gesehen habe ; nach ihrer Art und der Entfernung könnten
rettende Loch in der Mauer gekämpft und so die Engländer aufgehalten, wohl
{gründlich widerlegt. Die Engländer fanden übrigens eine Deckung an einem Häuschen
gegenüber dem Mauerloche und hatten somit genügend Zeit, zu zwei und zwei hinüber-
zulaufen, was als eine That von besonderer Geistesgegenwart geschildert wird.
273
sie nur vom Apparat des »Terrible« herrühren, welcher schon vor
Ladysmith so Erspriessliches geleistet habe. Sir Claude sei seiner
Sache ganz sicher und schliesse aus der ganzen Erscheinung, dass
ein starkes Entsatz-Corps in unserer Nähe und längstens in zwei
Tagen vor den Thoren sein müsse.
Die Botschaft hörten wir wohl, doch uns fehlte der Glaube —
die Wenigen ausgenommen, denen Geschriebenes von vornherein
als unumstössliche Wahrheit vorkam!*)
Diesen Tag über erfreuten wir unvS der Ruhe und benützten
sie zum Ausbau unserer Befestigungen; vom Thorgebäude aus
Hess von Thomann eine neue Barricade zu der grossen Empfangs-
halle hinüber errichten, um die neu entstandene Bresche in der
Ostmauer bestreichen zu können, und an der Westseite des Minister-
hauses wurde auf Darcy's Veranlassung eine weitere aufgeführt,
die den eventuellen Rückzug decken sollte.
Nachmittags beschossen die Chinesen von Norden her den
oberen Theil des Hotels; von Rosthorn, Kollaf und ich ermittelten
vom Dach des Glashauses aus den Aufstellungspunkt des Ge-
schützes im Nordosten des Fu. Wieder sah man nur Feuerstrahl
und Rauch, und da wir nahe an dieser Stelle einen japanischen
Posten wussten, wurde die Absicht, die chinesischen Artilleristen
mit Gewehrfeuer zu vertreiben, wegen zu grosser Gefahr für
unsere Waifengefahrten aufgegeben.
Neun Schüsse trafen das Hotel, verwüsteten die Zimmer des
zweiten Stockwerkes und nach dem 21. Schusse wurde das Feuer
wieder gegen das Fu gerichtet; der Schaden an den Mauern des
Hotels war kein allzu grosser. Dafür verband Chamot an diesem
Tage sein Haus mit der deutschen GevSand tschaft durch eine starke
Ziegelbar ricade mit Rückendeckung, die, später immer mehr ver-
vollkommnet, für die Vertheidigung ausserordentlichen Nutzen
brachte; von ihr aus beherrschte man die Legationsstrasse bis
zum Verhau der Chinesen bei der ehemaligen italienischen Barricade.
Oberstlieutenant Shiba zeigte an, dass er durch das heftige
Bombardement vor- und nachmittags gezwungen worden sei, sich
etwas weiter, auf das im Fu befindliche Theatergebäude zurück-
zuziehen, und kündigte an, dass er voraussichtlich w^ieder in die
Lage kommen werde, fallweise AssivStenz anzusprechen ; dies wurde
ein- für allemal bereitwilligst zugesagt, freilich mit dem nur ganz
*) In seinem officiellen Bericht gesteht Sir Claude selbst nachträglich zu, dass
er die VeröflFcntlichung seiner Beobachtungen hauptsächlich zur Ermuthigung der
»Garnison« bewirkt habe ; letzteres war aber ebenso wenig nöthig, als der Glaube an die
M. IHchon mitgetheilten Folgerungen fest.
Wiaterhalder: Kämpfe in China. 18
natürlichen Vorbehalte, dass die l.age bei uns überhaupt die Ab*
Sendung von Verstärkungen zulasse. Shiba's Persönlichkeit war ja
allein schon eine genügende Garantie, dass er ein solches Verlangen ;
nur in Fällen zwingender Noth stellen werde; im Uebrigen wurde
er ersucht, sich vorkommenden falls, um Zeit ku gewinnen, ohne
den Umweg über Sir Claude directe an die Besatzung der fran-
zösischen Legation zu wenden.
Die deutsche Gesandtschaft erhielt einige Granaten, die dem ,
Hotel vermeint gewesen, und von der Stadtmauer aus einzelne
Schüsse, von denen einer den Posten auf dem Dachboden des
Secretärshauses tÖdtlich traf.
Die Chinesen waren an diesem regnerischen 2. Juli, von den
bereits aufgezählten Beschiessungen abgesehen, hauptsächlich mita
Arbeiten auf der Stadtmauer thätig; im Osten und im Westen I
schoben sie neue AngrifFsbarricaden vor, an crsterer Stelle bisl
etwa 50 Schritt westlich der in ihre Hände gefallenen Barricadc, 1
im Westen rückten sie den Amerikanern und Russen langsam bisJ
auf etwa zwanzig Meter näher und errichteten eine Art Thurm, 1
von wo aus sie die amerikanisch-russische Besatzung eiiischossen
und — mit Steinen bewarfen.
Auf der Aufstiegarampe standen sich Amerikaner und Tung;-
1-uhsiang- Soldaten noch viel naher gegenüber, so dass dieSitua-J
tion dort äusserst kritisch wurde; Myers entschloss sich daherJ
während der Nacht die nächstgelegenen gegnerischen Barrici
275
durch einen Handstreich zu nehmen und derart die breite Bastion
in Besitz zu bekommen.
Die Nacht war sehr dunkel und regnerisch, somit äusserst
günstig; einigemale entwickelte sich wieder lebhaftes Feuer. Um
2 Uhr morgens vertrieb die Besatzung der amerikanisch-russischen
Stellung, verstärkt durch 25 Engländer, worunter der Freiwillige
Mr. Nigel Oliphant, nach kurzer, aber heftiger Gegenwehr in einem
Anlaufe die Chinesen aus ihren Barricaden und Zelten und be-
setzte die Bastion.
Dieser für die Zukunft ausserordentlich wichtige Erfolg wurde
allerdings mit genug schweren Opfern erkauft: zwei Amerikaner,
ein Russe todt, Myers durch einen Lanzenstich, drei Engländer
und zwei Russen meist schwer verwundet; von den Chinesen
blieben 25 auf dem Platze.
Die genommenen Barricaden und damit auch die Westseite
der Rampe wurden ohne Zeitverlust unter heftigem Feuer sogleich
verstärkt und mit den bisherigen durch einen vertieften Weg ver-
bunden; von nun an war diese Stellung auf der Mauer eine der
besten und konnten unter dem Schutze der zwei westlicher ge-
legenen Barricaden auch successive Schutzbauten weiter gegen
Osten errichtet werden, die späterhin mit einer östlich vom Canal-
gitter aufgeführten Brustwehr abgeschlossen wurden und zusammen
den Namen »Fort Myers« erhielten.
Den ganzen Morgen und Vormittag des 3. Juli über dauerte
ein schwerer Regen, der den Canal mit einer schmutzigen Flut
erfüllte und unpassirbar machte. Von der Stadtmauer her beschossen
zwei Geschütze dieSecretärshäuser der deutschen Gesandtschaft, sonst
wurden bis Mittag nur das Fu und die amerikanische Gesandtschaft
langsam bombardirt; nachmittags fielen, anscheinend aus den erst-
genannten Geschützen, fünf Granatschüsse in das Dach des Thor-
gebäudes, die aber relativ wenig Schaden anrichteten. Das »Sniper«-
Feuer hielt den ganzen Tag an und wurde gegen uns hauptsäch-
lich aus den gegenüberliegenden Häuserruinen in der Legations-
strasse und aus einem Seitengässchen der Customsstrasse abgegeben,
in letzterem warfen die Chinesen Barricaden auf, die der Haupt-
bresche in unserer Ostmauer gerade gegenüber standen.
Ueber den Verlust ihrer Barricaden auf der Westseite der
Stadtmauer ergrimmt, überschütteten die das Tschien-men besetzt
haltenden Soldaten die amerikanisch-russische Stellung mit Gewehr-
feuer, das letzterer jedoch nichts mehr anhaben konnte.
Nach einer auf Veranlassung Sir Claude's verfassten Zusammen-
stellung betrugen an diesem Tage, dem vierzehnten seit Eröffnung
18*
276
der Feindseligkeiten, die Gesammtverluste bereits 38 Todte und
55 Verwundete, wobei unter letzteren die leichteren, ausserhalb des
Hospitales behandelten Fälle gar nicht mitgerechnet wurden.
Der Regen bot wenig Erfrischung, im Gegentheil entwickelte
sich bald eine feuchte, erschlaffende Hitze, welche die Unannehm-
lichkeiten, bis über die Knöchel in den Pfützen waten zu müssen,
nicht verringerte; die ersten Dysenteriefalle traten, glücklicherweise
in sehr milder Form, auf.
Mit der Verpflegung sah es seit beiläufig einer Woche schon
matt aus ; die wenigen Hammel und Hühner wurden natürlich für
das Hospital, für Frauen und Kinder aufbew^ahrt, sonst gab's nur
mehr Fleisch von der im Fu zusammengetriebenen, ursprünglich
etwa 100 Stück zählenden Heerde Maulthiere und Ponies. Der
Reis begann sehr spärlich zu werden, Gemüse fehlten natürlich
schon seit den ersten Tagen der Belagerung, und was an conser-
virten vorhanden, blieb ebenfalls für Verwundete, Kranke und
Kinder aufgespart.
M. Pichon kam, wie fast jeden Tag, mit den Herren Berteaux,
Saussine und Philippini, die scherzweise auf den Namen seiner
Leibgarde getauft wurden, in seine Legation herüber; an diesem
Tage war es ziemlich still und daher mehr Zeit, sich mit der immer
wieder auftauchenden Frage des Entsatzes zu befassen — die vier-
zehn Tage gingen ihrem Ende zu und nach den mehrmaligen Ent-
täuschungen verhielt sich jetzt Alles mehr oder weniger skeptisch.
Unsere Nachbarn aus Deutschland — statt der langen Be-
zeichnung der betreffenden Gesandtschaft, sprach man gewohnheits-
gemäss immer nur von dem betrefl"enden Lande — Herr von Below,
der seit der Ermordung Baron Ketteler's als Geschäftsträger fun-
girte, Herr von Bergen, Lieutenant von Lösch und der Dolmetsch
Dr. Merklinghaus theilten ebenso wie Soden in der kameradschaft-
lichsten Weise alle Leiden und Freuden dieses merkwürdigen
Lagerlebens mit uns; die Regel war aber, dass ein solcher in
Erwartung einer ruhigen Viertelstunde unternommener Besuch durch
Lärm von Schüssen ein jähes Ende nahm und Alles wieder auf
seine Posten eilte.
So auch diesmal — Soden hatte uns bei Sonnenuntergang
eben wieder mit seinem trotz allen Ernstes der Zeiten fröhlichen
»Wie schaut's?« begrüsst und seine Beobachtungen über das Vor-
dringen der vermaledeiten Zöpfe auf der Stadtmauer mitgetheilt,
das er durch seine besten Schützen nicht hindern konnte, als das
Gekrache am Fusse der Mauer wieder anhub ; flugs war er wieder
drüben.
277
Nach Einbruch der Dunkelheit beobachteten wir von dem
schon einem Sieb gleichenden Dache des Thorgebäudes, dass die
Häuser uns gegenüber leer standen ; das schien doch sonderbar, um-
somehr, als ja kurz vorher gerade hinter ihnen der Spectakel wieder
begonnen hatte. Ba§ljan schlich hinüber und recognoscirte durch
die Schiesslöcher der Vormauer; die Chinesen hatten durchaus nicht
die Häuser geräumt, sondern sich nur hinter die Ecke zurückge-
zogen, wo sie zur grösseren Sicherheit natürlich noch eine Deckung
aufgeworfen hatten.
Nach 10 Uhr wurde es vom Hatamen her, dann am Fusse
der Mauer, endlich auf allen Linien wieder bedeutend lebhafter,
das Feuer der Feldschlangen und Schützen galt jedoch hauptsäch-
lich den Deutschen, während wir weniger beschossen wurden;
endlich nahm es auf der ersteren Seite derart zu, dass Soden
einen regelrechten Angriff voraussetzen musste und auf sein Er-
suchen unsere letzte Reserve, drei Franzosen und zwei Oester-
reicher-Ungarn, nachtsüber als Verstärkung hinübergeschickt wurde.
Labrousse constatirte vom Dache eines der deutschen Häuser aus
im Osten und Westen Lichtblitze, die nur von elektrischen Schein-
werfern herrühren konnten ; ihre Entfernung vermochte er aber
nicht zu schätzen — wer sie abgab und zu welchem Zw^ecke,
hauptsächlich aber wo die Apparate dafür herkamen, ist bis heute
noch nicht aufgeklärt und ward es auch schwerlich je werden.
Aus der an sich ganz zweifellos richtigen Beobachtung
Folgerungen zu ziehen, überliessen wir den vielen Unbeschäftigten
in »England«, die sich damit die Zeit vertreiben und ihre Stimmung
aufheitern mochten.
Der nächstfolgende Tag, der 4. Juli, brachte wieder ein län-
geres Bombardement des Fu, gegen das die Chinesen scheinbar
schon deswegen mit besonderer Verbissenheit vorgingen, weil sie
dort ihre christlichen, also abtrünnigen Landsleute wussten ; ausser-
dem w^urden wieder das Hotel und die russisch - amerikanische
Barricade mit Granaten bedacht — im Ganzen zählte man 212 Schuss.
Sonst beschränkten sich die Chinesen darauf, ihre durch den Regen
des Vortages in Mitleidenschaft gezogenen Barricaden in Stand zu
setzen ; in der französischen Gesandtschaft war grosses Reine-
machen, nach all dem Vorangegangenen ein dringendes Bedürfniss.
An diesem Tage wurde, wie wir später erfuhren, ein etwa
löjähriger nichtchristlicher Chinese, gebürtig aus der Provinz Shan-
tung, mit einer Depesche Sir Claude's an den Consul in Tientsin
abgesendet; vorweg bemerkt, war er der erste Bote, der, als
Bettler verkleidet, sein Ziel erreichte. Den in ein kleines Stück Oeltuch
278
gewickelten Brief, dessen Auffindung seitens der Soldaten oder
Boxer ihm sicherlich das Leben gekostet hätte, verbarg er un-
auffällig in der halb mit Reis gefüllten Schale, wie sie die von
der allgemeinen Mildthätigkeit Lebenden stets bei sich führen;
seinen Weg aus dem belagerten Rayon nahm er nach Einbruch
der Nacht durch das Canalgitter — seine bewegten Schicksale
werden wir noch später kennen lernen.
Der ganze Tag und die Nacht zum 5. Juli verliefen auf unserer
Stellun'g ruhig, dafür wurden die Hauptgebäude der französischen
Legation am folgenden Vor- und Nachmittage von IOV4 bis SV« Uhr
continuirlich aus einem ostnordöstlich auf ca. 150 Meter aufge-
stellten Geschütz bombardirt ; letzteres selbst blieb die ganze Zeit
hindurch für uns unsichtbar, seine sehr gut gezielten Granaten zer-
störten die Dächer, den blauen Salon und den grossen Speisesaal
des Ministerhauses fast vollständig, erreichten aber, weil die Chinesen
sich offenbar fürchteten, die Kanone zu exponiren, die tiefer ge-
legenen Stellungen unserer Posten nicht. Einige uns zugedachte,
jedoch zu hoch abgegebene Schüsse schlugen in der deutschen
Legation ein. In der Ostmauer entstand eine weitere Bresche, aber
noch immer wagten unsere Gegner keinen Sturm! Das Gewehr-
feuer wurde tagsüber ziemlich indifferent unterhalten, aber es ge-
lang wenigstens, einige nicht genügend verborgene Chinesen un-
schädlich zu machen.
In einer kurzen Pause der Kanonade kamen die Herren aus
der deutschen Gesandtschaft herüber, um sich die Verwüstung
anzusehen ; Herr von Below setzte sich auf allgemeines Verlangen
an das in einer Ecke stehende, noch intact gebliebene Ciavier und
gab mit geübter Hand zur Belustigung der Besatzung einige Weisen
zum Besten, deren Klang aber bald wieder durch das weniger
melodiöse Krachen crepirender Geschosse verdrängt wurde. Eine
Stunde später platzten wieder zwei 57 Millimeter Granaten in dem
kleinen Stall östlich der Thorhalle, glücklicherweise ohne Jemandem
Schaden zu thun, aber das Dach stürzte zur Hälfte ein.
Nachmittags brachten die Chinesen auf der Mauer der Kaiser-
stadt nordnordöstlich der englischen Legation einige glatte Vorder-
lader und ein Kruppgeschütz in Stellung und gaben gegen diese
einige Schüsse ab, die wohl in die Wohnhäuser einschlugen, jedoch
erfreulicherweise deren Insassen nicht verwundeten.
Durch die italienische Schnellfeuerkanone und Gewehrfeuer
beschossen, zogen die chinesischen Geschützbemannungen es jedoch
bald vor, ihre Thätigkeit einzustellen und die Scharten zu mas-
kiren.
279
Sir Claude organisirte für die Barricade auf der Stadtmauer
einen eigenen Dienst sich freiwillig meldender Officiere ; von der
Garnison der französischen Legation nahmen daran Labrousse und
ich theil.
Gegen 3 Uhr morgens des 6. Juli wurde auf der Stadtmauer
Geschrei und Trompetenlärm hörbar, der von Osten nach Westen
zu fortschritt; eine Anfrage in »Deutschland« gab uns zwar die
Beruhigung, dass unsere Nachbarn nicht angegriffen wurden, auch
bei der Mauerbarricade nichts Ungewöhnliches vorgegangen sei, aber
keine stichhältige Erklärung.
Am Vormittag bombardirten die Chinesen wieder die Nord-
seite des Fu äusserst heftig; ein Ausfall der Japaner unter Haupt-
mann Ando missglückte im letzten Augenblicke, obwohl sie das
Geschütz fast schon erreicht hatten, weil die der Truppe folgenden
christlichen Chinesen, die das Geschütz mit seiner Holzbettung
hätten wegschleppen sollen, der Muth verliess. Ando fiel gleich
anfangs durch einen Schuss in die Kehle, drei japanische Matrosen
wurden verwundet.
Bei uns herrschte bis auf das nie aussetzende Schützenfeuer
Ruhe, ja zu Mittag eine solche schläfrige Stille, dass Darcy gegen
Vi 1 Uhr nachmittags, trotz meiner Warnung, mit sechs seiner Leute
die chinesischen Barricaden in unserer nächsten Nähe recognos-
cirte, um sich womöglich w^ieder einer zu bemächtigen. Wohl ge-
lang es ihnen, mit einigen flinken, lautlosen Sätzen bis dicht
an die Barricaden heranzukommen, doch geschah, was ich voraus-
gesehen: die kleine Partie wurde von drei Seiten mit heftigem
Feuer empfangen und musste sich, ihrerseits nur wenige Schüsse
abgebend, eilends zurückziehen. Nach einigen für uns im Block-
hause befindliche Augenzeugen recht langen Minuten waren sie
Alle wieder heil zurück.
Während ich noch mit Darcy den Vorfall besprach und er zugab,
die Wachsamkeit unserer Gegner doch sehr unterschätzt zu haben,
lief ein uns unbekannter Europäer — ein russischer Student, wie
sich später herausstellte — von Westen kommend am Reduit vor-
bei direct auf unsere verlassene Barricade zu. An seinen schwan-
kenden Zickzackbewegungen erkannten wir, dass der Mann nicht
zurechnungsfähig sei ; ohne unsere lauten Zurufe zu beachten, war
er schon zwischen die beiden Wände der Barricade gerathen und
versuchte seine Jagdflinte zu laden. War dies bisher viel zu schnell
vor sich gegangen, als dass man hätte hinausspringen und ihn
noch rechtzeitig zurückhalten können, so dauerte es jetzt anscheinend
unendlich lange, bis einer der ungezählten Schüsse, die die Chinesen
280
auf ihn abgaben, traf; aber noch einmal raffte er sich auf und
feuerte einen Lauf in die Luft ab, gleich darauf machte ihm eine
Kugel in die Brust ein Ende. Um eines Betrunkenen willen, der
jedenfalls einem Rettungsversuch noch Widerstand geleistet hätte,
konnte und durfte ich wohl nicht das Leben einiger meiner Leute
aufs Spiel setzen. Einige bald erschienene Freunde des Todten
erklärten seinen Zustand: sie waren in den. unglückseligerweise
noch nicht völlig geräumten Keller des alten Clubs gedrungen,
um daraus Getränke zu holen, und ihr Genosse hatte bei der Ge-
legenheit zu viel des Guten gethan ; in seiner Berauschung wollte
der Bedauernswerthe nach dem ehedem von ihm bewohnten Hause
am Ostende der Legationsstrasse.
Nun lag die Leiche, unseren Blicken entzogen, auf vielleicht
20 Meter von uns; selbstverständlich unternahmen die Chinesen
alles Mögliche, um ihrer habhaft zu werden — nachdem einige
Unvorsichtige aber von unserer Wache im Blockhause niederge-
schossen worden waren, versuchten es die anderen von beiden
Seiten der Strasse aus mit Haken und langen Stangen, aber um-
sonst. Erfolglos blieb es jedoch auch, als Chamot nach Einbruch
der Nacht einen seiner besten Boys aussendete, der geschickt wie
eine Katze und durch den vom russischen Minister in Aussicht
gestellten hohen Lohn noch verwegener gemacht, wirklich mit
einer Leine bis an die Barricade schlich — die Chinesen bewachten
ihre Beute auch bei Nacht zu scharf und schössen zu heftig, er
musste umkehren. Noch zwei Tage dauerte der Streit um die
Leiche, der den Chinesen im Ganzen neun Todte kostete. Die letzten
zwei hatten es gar zu läppisch angestellt — ihre riesigen Strohhüte
vorhaltend, waren sie hinter der Ecke hervorgekommen und na-
türlich gleich gefallen.
Bald nach dem geschilderten aufregenden Vorfalle schlugen
wieder einige Granatschüsse gegen das Thorgebäude, von denen
die beiden ersten das schwere Gitter des einen Fensters total zer-
störten ; auch die folgenden vier Schüsse nahmen denselben Weg
und stifteten durch die Explosion der Granaten im Innern des Ge-
bäudes ziemlich viel Schaden. Die Leute wurden nach dem ersten
Treffer zurückgezogen und sahen sich vom Blockhaus*) die Spreng-
wirkung an. Das Geschütz musste, nach Einfallswinkel und Richtung
der Geschosse zu urtheilen, auf der Stadtmauer postirt sein ; bevor
wir jedoch noch seine Aufstellung ermittelt hatten, schwieg es und
*) Um Missverständnissen vorzubeugen, sei bemerkt, dass der Ausdruck Block-
haus nicht im strengsten Sinne zu nehmen ist, weil der Bau kein Dach trug; «nr Her*
Stellung einer schussichercn Eindeckung fehlten uns die nothwendigen Balken.
281
überliess den Gewehren im Osten und Süden von uns das Wort,
die es bis kurz vor Sonnenuntergang behielten.
In der folgenden Nacht, kurz nach 12 Uhr, wurde in der
Richtung Süd zu West entferntes Kanonenfeuer hörbar, auch
waren dort wieder Lichtblitze zu sehen; da sich gleichzeitig in
der Chinesenstadt Lärm erhoben und beim Tschien-men ziemlich
lebhaftes Feuer entwickelt hatte, w^urden wir erst spät auf den
ersterwähnten Umstand aufmerksam.
Durch mancherlei Erfahrungen über die merkwürdige Akustik
innerhalb der Baulichkeiten der französischen Legation vorsichtig
geworden, dachten wir anfanglich, das Opfer einer Sinnestäuschung
zu sein — war es ja doch schon vorgekommen, dass man, durch
Echo genarrt, die Chinesen bereits im Park schreien zu hören ver-
meinte, während sie in Wirklichkeit drüben in den Häusern der
Legationsstrasse ihr »Scha-scha!« brüllten; endlich erübrigte jedoch
kein Zweifel mehr, von den verschiedensten Punkten aus machte
man ganz übereinstimmende Beobachtungen. Das dumpfe Rollen
der nach unserer Schätzung vielleicht 10 Kilometer entfernten
Geschütze Hess sich nicht verkennen und blieb bis in den Vor-
mittag hinein deutlich vernehmbar; zu sehen war bei Tage von
der Stadtmauer aus gar nichts. Was sollte dies bedeuten? Spielte
sich draussen zwischen einem Entsatz - Corps und chinesischen
Truppen eine entscheidende Schlacht ab? — Dann hätte ersteres
entlang der Bahn heraufgekommen sein müssen ; gegen diese An-
nahme sprachen aber die Transportschwierigkeiten auf der Route,
denn die gewöhnliche Strasse lag auf der entgegengesetzten Seite.
Sollte chinesische Artillerie eine Schiessübung abhalten? Das wäre
doch ebenso leicht in der Stadt selbst mit Benützung des Legations-
viertels als Ziel möglich und auf diese Weise das Pulver auch viel
nützlicher verwendet gewesen. Was also sonst? — Heute sind wir
der Lösung dieses Räthsels ebensowenig näher gerückt wie damals
und schliesslich scheint die Hypothese nicht allzu gewagt, dass
<iie Chinesen vielleicht draussen untereinander einen Strauss aus-
jgefochten haben.
Sehr lange Zeit zur Ueberlegung hatten wir aber am 7. Juli
nicht; unsere Gegner nahmen das Bombardement des Minister-
liauses und seiner Annexe, der Ostmauer, des Thorgebäudes und
des angrenzenden Hotels gegen 9Vi Uhr wieder mit grösserem Eifer
auf. Von Nordosten her und von der Stadtmauer dröhnte bald
Schuss auf Schuss ; neuerdings fiel uns auf, dass die Geschütze je-
Aveils nach wenigen Schüssen ihren Aufstellungsort wechselten und
nie sichtbar wurden.
282
Diese stete Angst vor Ausfällen unsererseits hatte noch ein
Gutes für die Vertheidiger, denn auf diese Art gaben die Chinesen
gewöhnlich im Augenblick, wo eine umfangreichere und gründ-
lichere Wirkung an dem betreffenden Objecte zu erwarten gewesen
wäre, ihre besten Chancen auf und nahmen einen anderen Ziel-
punkt vor.
Nach 11 Uhr schwieg das Feuer einige Zeit. Gegen Mittag
drangen drei Tung-Fuhsiang-Soldaten und ein Boxer bei der Nord-
bresche ein und warfen Feuer in die Küche des Ministerhauses;
von Rosthorn, Pelliot und der nächste französische Posten schössen
zwar die Eindringlinge nieder, doch brannte der kleine Annexbau
gänzlich aus.
Gleichzeitig erfolgte ein heftiger Angriff auf der ganzen Ost-
und Südfront der Legation, durch Kanonenfeuer aus beiden Rich-
tungen unterstützt ; Matrose Badic wurde durch Sprengstücke der
ersten hinter ihm crepirenden Granate schwer im Rücken verwun-
det, von Rosthorn erhielt einen Steinsplitter ins linke Auge, vier
französische Matrosen w^urden leichter verwundet. Neuerdings ent-
stand eine Bresche, durch welche die Chinesen mit Hilfe langer
Stangen Feuer an das Haus Saussine legten; der Brand konnte
noch im Keime erstickt werden. Unsere Angreifer waren schon
etwas kühner geworden und zeigten sich offener an den Breschen,
w^as uns wenigstens die Genugthuung verschaffte, einige von ihnen
abzuschiessen ; gegen das Thorgebäude und das Ziegelreduit wurde
das Gewehrfeuer äusserst heftig, die Granaten kamen schon nie-
driger geflogen, kaum mehr einen Meter über unsere Köpfe hin-
w^eg und demolirten die Stirnmauer des kleinen Stalles noch weiter.
An der Südseite gewannen die Chinesen noch mehr Terrain und
standen nun schon, ein weiteres Haus niederbrennend, im Club-
gässchen.
Auch im Norden der Legation, nächst der kleinen Barricade
äscherten sie ein paar Häuser ein; den Giebel der Capelle durch-
schlug eine Granate und explodirte, knapp an dem den Altar
krönenden Muttergottesbild passirend, im Innern. Bisher war das
Thor im Capellentract unverrammelt geblieben, um es zu einem
eventuellen Ausfall benützen zu können ; nun aber, wo die Chinesen
schon gegenüber davon angelangt waren, konnte damit nicht länger
gezögert werden, es schussicher zu verlegen.
Der Hauptangriff dauerte diesmal nicht lange und war gegen
1 Uhr nachmittags abgeschlagen, die Beschiessung der Ost- und
Südfront aus Gewehren währte jedoch fast unausgesetzt bis gegen
Sonnenuntergang; nachmittags wurden zwei Brandraketen in < l
283
Hof geschossen, die jedoch durch ihre wunderlichen Sprünge und
das an wild gewordene Katzen gemahnende Gepfauche des Brand-
satzes viel mehr Heiterkeit als Besorgniss erregten. In freiliegen-
dem Holzwerk hätten sie allerdings bedenklicher werden können.
Auch im Fu war wieder heftig gekämpft und am Ausgang
der »dusty lane« eine neue Geschützstellung gegen die englische
Gesandtschaft errichtet, von den Chinesen aber, nachdem die
italienische Kanone einige Schüsse darauf abgegeben hatte, bald
wieder geräumt worden. Unsere deutschen Nachbarn hatten im
Laufe des Tages wiederholt im Osten von ihnen vordringende
Chinesenbanden zurückzuwerfen; ihre wichtigste Vertheidigungs-
stellung gegen Osten bildeten nun der massive, bis zur Dachgleiche
vorgeschrittene Bau des neuen Pekinger Clubs und gegen die
Legationsstrasse zu anschliessend zwei Barricaden.
Behutsam auf der Stadtmauer vorbauend, hatten die Chinesen
ihr Geschütz schon wieder weiter nach Westen gebracht, so dass
von allen Gebäuden der deutschen Legation eigentlich nur mehr
das Ministerhaus vor dessen Feuer geschützt blieb.
Abends traf mich mit Herrn von Strauch zusammen die Wache
auf der Stadtmauer ; der Aufgang war durch im Zickzack gestellte
Schutzwehren nunmehr ganz gedeckt und auch oben befand man
sich dank der stetig fortschreitenden Verstärkung der Barricaden
in grösserer Sicherheit als irgendwo in der von allen Seiten ein-
geschossenen französischen Legation. Allerdings gab's noch schwache
Stellen ; eben wurde auch an der Vertiefung des Weges zwischen
der allerersten, dermalen von Amerikanern besetzten Barricade
und der weiter westlich gelegenen gearbeitet, welche die Russen
und Engländer hielten.
Nach so vielen Tagen x\ufenthalt innerhalb der französischen
Legation und des Reduits, wo man durch den Mangel an Ausblick
und die stete Musterung der zerschossenen Mauern sich gedrückt
und beengt fühlte, war die Abwechslung eine grosse Erleichterung;
von der Stadtmauer übersah man den grössten Theil der Stadt,
das freie Gelände gegen Süden und bis an die Berge im Nord-
westen. Trotz der Ungewissheit, ob und wann man jemals wieder
dazukommen würde, über die schützenden Mauern hinauszugehen,
empfand man doch dort oben, wie sich mit dem freien Blick wieder
das Herz erweiterte, wie sich unter dem rein physischen Einflüsse
der unbeschränkten Aussicht auch das Vertrauen in die Zukunft
kräftigte. Aus der Chinesenstadt zu unseren Füssen schimmerte
manches Licht zu uns herauf, von dort her verriethen Ausrufe der
Verkäufer, dass das gewöhnliche Leben nicht ganz aufgehört habe.
284
Unsere Gegner auf dem Tschien-men sorgten zwar dafür, uns
vor allzu träumerischen Gedanken zu bewahren, indem sie in lang-
samem Tempo, aber unausgesetzt herüberschossen, und auch aus der
Richtung vom Hatamen her pfiffen so viele Geschosse herüber,
dass man die gebotene Achtsamkeit nicht verlor ; im Ganzen fehlte
es jedoch hier an der intensiven Spannung wie auf dem heissen
Posten unten. Die Arbeit des Wegausgrabens machte unter der
Leitung eines russischen Missionspriesters gute Fortschritte, ebenso
auch die Verstärkung der Rückendeckung der vordersten Barricade;
dreimal in der Nacht wurde das Feuer auf kurze Zeit allgemein
und lebhaft, am meisten auf dem Ostflügel gegen »Deutschland« und
»Frankreich« ; vom kaiserlichen Wagenpark aus flogen Brandraketen
gegen die englische Gesandtschaft.
Am Morgen standen uns sieben chinesische Banner gegenüber;
jetzt erst bei vollem Tageslicht waren die Einzelnheiten der
Sicherungsbautenausnehmbar: Auf circa 50 Meter hatten die Chinesen
starke Steindeckungen, wieder mit einem erhöhten Mittelbau auf-
geführt. Seitdem aber die breite Bastion in die Hände der Fremden
gefallen, bedeutete dies nicht allzu Schlimmes: bauten sie drüben
in die Höhe, so grub man sich hüben einfach tiefer ein und da
war der Vortheil auf unserer Seite.
Scheinbar hatten sich die Chinesen mit diesem Stand der
Dinge auf der Westseite der Mauer auch abgefunden, denn sie
unterliessen hier bei Tageslicht jede lebhaftere AngriflFsthätigkeit;
im Osten drangen sie aber in ihrer bekannten vorsichtigen Weise
immer weiter gegen die deutsche Legation vor und beschossen
sie ziemlich lebhaft. Von der amerikanischen Barricade aus ver-
suchten wir, anscheinend mit einigem Erfolg, sie daran zu hindern;
unter den amerikanischen Soldaten, von denen die meisten eben
die Feldzüge auf Cuba und den Philippinen mitgemacht hatten,
befanden sich einige hervorragende Schützen, die sich natürlich
diese gute Gelegenheit nicht entgehen Hessen. Einmal auf Wache
oder im Feuer waren diese Leute überhaupt unübertrefflich; ver-
lässlich, kaltblütig trotz ihrer lauten Art, sich über Unangenehmes
in einer sehr kräftigen Sprache zu äussern, und dazu ausser-
ordentlich geschickt in den vielerlei Griffen des kriegerischen
Handwerkes, repräsentirten sie den Typus vom und für den Krieg
lebender Soldaten.
Unten im Legationsviertel begannen um 9 Uhr vormittags die
Feindseligkeiten wieder in verstärktem Masse; das Fu und die
französische Gesandtschaft hatten heftige, durch Geschützfeuer ver»
schärfte Angriffe zu bestehen, die bis gegen Mittag daue^
285
Kurz nach Mittag erhielt ich die tieftraurige Nachricht, dass
Fregatten - Capitän von Thomann anderthalb Stunden vorher
gefallen!
Da bei der sichtlichen Passivität der Chinesen auf der Stadt-
mauer ein Officier für diesen Posten vollauf genügte, eilte ich, Sir
Claude schriftlich davon benachrichtigend, in die französische Ge-
sandtschaft.
Es herrschte gerade tiefe Ruhe ; heiterer Friede lag auch
auf den Zügen meines verehrten Commandanten, der in treuer
Pflichterfüllung wenigstens den schönsten, leichtesten Tod gestorben
war. KoUaf, Darcy und Labrousse, durch das Ende Thomann's
schwer ergriffen, machten mich mit den Einzelnheiten des Ge-
schehenen vertraut.
Der Angriff hatte schon einige Zeit gedauert, als plötzlich
aus dem Seitengässchen östlich der grossen Bresche ein chinesisches
Geschütz auf höchstens 60 Meter Entfernung sein Feuer eröffnete;
der Aufenthalt in den Gebäuden der Ostfront, die von zwei Seiten
bombardirt und ausserdem mit einem Hagel von kleinen Projectilen
überschüttet wurden, gestaltete sich von Minute zu Minute ge-
fährlicher und die Besatzung konnte kaum mehr halbwegs ge-
sicherte Unterstände finden, um wenigstens die Breschen unter
Feuer zu halten. Zwei Franzosen auf Posten gegenüber der Bresche
waren bereits verwundet und Darcy wollte seine Leute von dort
einziehen und den gefahrlichen Punkt von der Seite her bewachen
lassen, von Thomann, wie immer dort, wo es am heissesten herging,
begab sich mit Darcy, Kollaf und Labrousse, der vom linken
Flügel eben mit der Nachricht vom Eindringen der Chinesen in
den Keller des Ministers herbeikam, in den Gang zwischen den
Häusern Saussine und Morisse, von wo man die Mündung des
Geschützes hinter Barricaden hervorragen sah, um zu beurtheilen,
was sich noch unternehmen lasse — ob vielleicht ein Ausfall
möglich wäre. Kaum dass die vier Officiere in den Raum zwischen
den beiden genannten Häusern getreten waren, sauste wieder
eine Granate herüber und crepirte, die kleine vorstehende Mauer
streifend; von zwei grossen Sprengstücken ins Herz und in den
rechten Arm getroffen, sank von Thomann mit einem gedämpften
Ausruf — wie der Ueberraschung — in die Arme der Umstehenden
und war nicht mehr.
Der Angriff endete wie so viele frühere, die Besatzung hielt
ihn unter Trümmern erfolgreich aus. Die Beerdigung war für 3 Uhr
nachmittags angesetzt worden, aber ich glaubte, sie wegen der
Anzeichen einer baldigen Erneuerung des Feuers beschleunigen
28G
zu sollen ; so trugen wir unseren allseits geliebten Commandanten
schon um 2 Uhr zu Grabe. Herr und Frau von Rosthorn, Alles
von der Besatzung der Legation, was nicht auf Wache stand, die
Herren von der deutschen Gesandtschaft, eine Deputation vom
Detachement letzterer, Herr und Frau Chamot folgten unter Vor-
antritt des greisen Pfere d'Addosio der Bahre, welche unsere
deutschen Kameraden mit einem Kranz aus den letzten Blumen
ihres Gartens schmückten. M. Pichon und M. de Joostens kamen,
weil ich keine Zeit mehr gehabt hatte, sie von der Verlegung der
Beisetzung verständigen zu lassen, zu spät, aber der Ausdruck, den
diese beiden Herren für ihr Beileid fanden, war eine uns Allen
unvergessliche Ehrung des Dahingeschiedenen. Der englische Ge-
sandte Hess mir durch den ersten Secretär, Mr. Dering, ein Con-
dolenzschreiben zustellen.
Von dem frischen Grabe weg wanderten unsere Gedanken
zu den Lieben des Gefallenen in die Heimat mit dem Wunsche,
dass es doch vielleicht einem von uns beschieden sein möge, ihnen
berichten zu können, wie viele aufrichtige Theilnahme ihr und
unser Verlust erweckt hatte, wie manche Thräne da zerdrückt
wurde von in Kampf und Noth hart gewordenen Männern — wohl
die sprechendste, höchste Ehrung für den tapferen Führer und den
edlen Menschen!
Der Schlachtentod hatte den Besten aus unserer Mitte ge-
holt und damit schien seine Gier nach uns gesättigt; von den in
Peking eingeschlossenen Angehörigen der »Zenta« fiel keiner mehr
durch Feindeshand.
Als ältester Officier hatte nunmehr ich das Commando über
die kleine Schaar unter der roth-weiss-rothen Flagge zu übernehmen
und Arbeit lag genug zur Hand.
Meine durch die um VU Uhr gefallenen Kanonenschüsse ver-
ursachte Annahme, dass der Strauss nachmittags erneuert entbrennen
werde, traf nicht zu, vom »sniping« abgesehen, Hessen uns die
Chinesen Ruhe, an die Ausbesserung und Umänderung unserer
anscheinend so ärmlichen und doch so kostbaren Befestigungen zu
gehen. Die neu entstandenen Breschen waren so gelegen und die
alten so gross geworden, dass die Barricade zwischen dem Mittel-
stall und dem Haus Saussine fortan eher einen Nachtheil als einen
Nutzen gewährte; schon in der Nacht hatte von Thomann sie ab-
tragen lassen wollen, damit auch begonnen, die Kulis waren je-
doch, nachdem einer gefallen und ein zweiter schwer verwundet
worden, entlaufen und seit dem Vormittag konnte sich NiemaniL
mehr ungestraft in die Nähe wagen.
287
Nach Rücksprache mit Darcy Hess ich also die Mauer zwischen
Thorgebäude und dem angebauten Stall durchschlagen und in
letzterem vier Schützenstände einrichten, zwei um den schmalen
Hof gegen Norden der ganzen Länge nach, die übrigen um die
Bresche zunächst dem Flaggenmast zu bestreichen ; die zwei öster-
reichisch-ungarischen Posten des schon ganz in Trümmern liegen-
den Hauses Morisse wurden in die neue Stellung verlegt. Bei der
Arbeit griff sogleich einer der drei neu hinzugekommenen Frei-
willigen, der Italiener Herr Benvenuti, wacker zu, vor Sonnenunter-
gang war sie beendet; das bisher intact gebliebene westliche Fenster
des Thorgebäudes musste mit Ziegeln verrammelt werden, denn
von dort fielen seit Kurzem die meisten Gewehrschüsse herein, das
andere Hess sich nur theilweise verlegen, weil die hinderlichen,
ganz verbogenen Trümmer des Eisengitters ohne Gefahr für die
Mauer nicht mehr entfernt werden konnten — Sägen, um so dicke
Barren zu schneiden, gab's wohl im ganzen Legationsviertel nicht.
So mancher Erdsack musste verbaut werden, um die Barricaden zu
flicken, und schliesslich eröffneten wir an der Nordmauer noch einen
gedeckten Zugang zur ausserhalb gelegenen Barricade.
Den Nachmittag über bedachten die Chinesen wieder vor-
zugsweise die deutsche und die russisch - amerikanische Stellung
im Westen der Legationsstrasse, endlich auch wieder die englische
Gesandtschaft vom Westen und Nordwesten her mit Feuer, gegen
letzteren Punkt Hessen sie auch eine Schnellfeuerkanone leichten
Calibers spielen.
Das Fu hatte in der zweiten Hälfte des Tages vergleichs-
weise Ruhe; der vormittägige Angriff war gleichzeitig mit dem
auf Frankreich gerichteten unternommen, jedoch zurückgeschlagen
worden. Unter der Noth der eigenen Lage hatte eine von Shiba
verlangte Verstärkung leider nicht beigestellt werden können,
doch schlug die Fu-Besatzung und zwölf Engländer noch vor dem
Eintreffen einer russischen Assistenz den Angriff ab. Zu späterer
Stunde gelang es aber den Chinesen doch, das von den Japanern so
zäh vertheidigte Theatergebäude in Brand zu stecken, wodurch diese
sich weiter westlich an den Fuss eines Hügels zurückziehen mussten.
An diesem Tage erlebte man die ersten Proben der so be-
rühmt gewordenen »Internationale«, auch »Empress-Do wager* oder
»Betsy« genannt, eines alten, in einem chinesischen Eisentrödler-
laden ausgegrabenen Feuerrohres zweifelhaften Ursprunges, das
-Amerikaner und Engländer nothdürftig in Stand gesetzt, auf
Iteserverädern der italienischen Kanone montirt hatten und wo-
x-aus die vorhandene russische 7 an Munition geschossen wurde.
Vielzähüg wie die Völker, die zu dieser mit grossen Hoff-
nungen begrüssten Errungenschaft beigetragen, waren auch die
Launen des Schreckensinstrumentes; wohin die Geschosse flogen,
liess sich nie vorhersagen, aber dann und wann schmetterte doch
ein Geschoss — meist mit der Bodenkanle voraus — in oder über
eine chinesische Barricade und der formidable Krach allein that
schon einige Wirkung auf das bezopfte Pack — am sichersten war
es freilich, alte Xägel und ähnliches Kleinzeug zu laden; auf dit-
gegebenen kurzen Entfernungen entsprach der ungeheuere Streu-
kegel ganz gut. Angesichts der Schwierigkeiten, welche der Trans-
port und die Aufstellung jedesmal bereiteten, blieb die Verwendung
des vielnamigen .Stückes immerhin beschränkt.
Dtp Munition der italienischen .Schnellfeuerkanone war am
I
Ausgehen; auch dafür sollte Rath geschaffen werden. Aus dem I
Zinn aller auftreibbaren, entbehrlichen Geräthe wurden Geschoss« 1
gegossen, die leeren Hülsen erhielten eine Ladung aus altem
Sprengpulver und an Stelle von Percussionskapseln setzte der
amerikanische Büchsenmacher einfach Revolverpatronen ein. Die _
Vorsicht gebot freilich, mit einem Probaschuss zu warten, bis die i
letzte Original-Granate verschossen sein würde, denn das weichel
Geschossmaterial konnte nur zu. leicht die Züge verlegen, und 1
thatsächlich sind nur vier solcher improvisiner Patronen verbraucbt I
worden,*) deren Projectile keinen besonderen Effect erzielten.
In d«r Xacht wurde im Nordwesten lebhaftes Geschützfeuer. 1
wahrscheinlich eine Beschiessung des Peitang. gehört; ein neuer!
*) Üi). Juli, Beriditc LlnicuicUlfs-Llcuieiiiini Pooliiil" qdiI Sir Oaud* Macdonold'*. 1
Versuch, die zum Abbruch bestimmte Ilarricade im Hofe abzu-
tragen, scheiterte an der Wachsamkeit der Chinesen, die hiebei
wieder einen unserer Kulis erschossen.
Da der Morgen des 9. Juli ganz ruhig anbrach, beHuchteti
Darcy und ich das Fu, um uns ein Bild von der dortigen Lage
zu machen und mit Shiba über verschiedene Punkte Rücksprache
zu nehmen. Letzterer fasste die Zerstörung des noch rauchenden
Theaters durchaus nicht düster auf, da hiedurch wieder ein grösseres
freies Schussfeld entstanden sei; hingegen verfehlte er nicht, uns
seine Gedanken über die Möglichkeit ferneren Aushaltens mitzu-
theilen. Von 25 Matrosen und 19 Freiwilligen konnten nur mehr
13, beziehungsweise 14 Dienst thun, mehrere Leichtverwundete
inbegriffen; mit diesen erklärte Shiba noch eine Woche aushalten
zu können !
Eine Aushilfe hatte zwar der thätige und mit dem chinesischen
Volkscharakter genau vertraute Führer der Japaner durch die
Organisirung und theilweise Bewaffnung christlicher Chinesen mit
Gewehren gefunden, aber die Zahl letzterer blieb naturgemäss
eine geringe, musste doch das Gros für die schweren Erdarbeiten
reservirt bleiben.
Um seine Ansicht befragt, wann überhaupt ein von Japan
entsendetes Entsatz ■ Corps vor Peking erwartet werden könnte,
rechnete er uns vor, daas eine am 20. Juni mobilisirte Truppen-
Division nicht vor dem 7. oder ». Juli von Tientsin aufbrechen
könnte — auf bedeutenden Widerstand auf dem Wege von dort
zu uns sei kaum zu rechnen, daher hiefur nicht mehr als 8 Tage
anzusetzen. Natürlich wussle auch er nichts über die Entschlüsse
seiner Regierung, denn das Datum der Mobilisirung hing ja doch
davon ab. wann man in Tokio die Ermordung .Sugiyaraa's erfahren
hatte und ob Japan letztere als genügenden Grund zur Kriegs-
erklärung erachtet habe.
Immerhin hoffte -Shiba jedoch binnen einer Woche auf Entsatz
und bis dahin unter allen Verhältnissen aushalten zu können.
Mit diesen auf rationellen Suppositionen aufgebauten Be-
rechnungen fasste man sich weiter in Geduld und Zuversicht,
über den wichtigsten Factor, die Zustände in Tientsin, konnten wir
uns freilich kein Bild machen, aber es schien doch unmöglich, dass
dort nicht schon längst Vorbereitungen, uns Hilfe zu bringen, ge-
troffen würden.
Auf französischen Boden zurückgekehrt, fanden wir eine
Ueberraschung ; der Besatzung der Nordbarricade war es mit
Milfc einiger christlicher tlüchtlinge gelungen, drei Chinesen ein-
WlBMiluld'-t; K^impfa in Chin4 . 111
zubringen, die in den angrenzenden Häuschen geplündert u
dann Brand gelegt hatten, einige andere ihrer Helfershelfer vai
gleich niedergeschossen worden. Veroudart verhörte sie, i
war nichts aus ihnen herauszubringen, als das Gentändnisa, i
sie von den Boxern und Soldaten, unter denen wir seit rwi
Tagen auch solche Yunglu's erkannt hatten, vorgeschickt worda
waren, um zu spioniren und eine Feuersbrunst zu stiften, wo;
sie nach Herzenslust plündern durften: ihre Haltung war trotz!
und verschlossen, kein Einreden half und so wurden sie als !
flagranti ertappte und geständige Räuber und Brandleger
halb der Legation fusilirt,*) Dass Boxer und Militär solches Gesindi
vorschoben.
nur, dass es mit ihrei
Muthe nicht gerad
glänzend bestellt wai
UmIU'/.Uhrvoi
mittags begann wi(
der ein Geschütz vo
Osten her auf ■
150 Meter Entfern un
die ohnedies scho
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de zu bombardireji
kurz darauf fiel eä
j;\vf>ites, weiter süd
Lrl,,.-. i.:.ns BirrjUK'-l-i« Ur All. U. -,;,-- Ücfa Und ttOCh nibOl
postirtcs ein. welche)
sich die Trümmer des Hauses Morisse zum Ziel ausersehen hatief
von Südosten her rückten zwei Banner Soldaten vor und gabeil
ein heftiges Gewehrfeuer ab. Endlich schien es doch zu einem
Sturm zu kommen, aber trotz des Angriffsgeheuls wagten nch
nur ein paar besonders beherzte Chinesen — mit vorgehalienfiO
Matratzen! ^ in die Bresche, die natürlich sammt ihren Schilden
allsogleich fielen. Meine Leute hatten bei dem Anblick ein laute«
Gelächter erhoben, trotz Geschosshagel und Granaten war die Seen*
doch zu komisch gewesen ! Gleich darauf flogen wieder zwei Brai*^
•) Die in einigen Danlellaogen enthaltene Angabe, da» ntan »I« ««oA'*'
habr. ht unticbli;;: die für eine rasche Exccnlion nolhwendigni RtroNeip««™'"'
konolen wir ealheltren und <let bei unseren Kalis erwulilcn MonlJuM duifle t**^
e ticIcgeDlieil gegebi^n weiden, den Urlheib-^piuch lon Euiopi
291
raketen herein und schwärmten zwischen den rauchgeschwärzten
Mauern herum, bis sie erloschen ; im Nordstall nisteten sich einige
Chinesen ein, endlich gelang es aber, zwei von ihnen kalt zu machen,
worauf der Rest entwich.
Nach einer Stunde schienen unsere Gegner befriedigt und
zogen sich langsam zurück; nur an der Nordostecke wurden die
französischen Posten weiter beschossen und einzelne Grüsse aus
den Geschützen fanden noch bis 2% Uhr nachmittags ihren Weg
zu uns.
Matrose Tamburus wurde im Reduit durch ein Sprengstück
leicht verwundet, der französische Fourier Loh^zic erlitt ebenfalls
durch ein solches eine Contusion an der Brust.
Die Zahl der Breschen in der Ostmauer war schon auf sechs
angewachsen.
Das Loch im Capellengiebel und die vielen ebenfalls von
Granaten herrührenden OeflFnungen im Dache des blauen Salons
ermöglichten uns einen Einblick in die Lager jenseits der beiden
Strassen ; von dort aus konnte man ziemlich sicher beurtheilen, ob
ein Angriff bevorstehe oder nicht, und um die Chinesen nicht auf
diese werthvoUen Punkte aufmerksam zu machen, wurde das
Schiessen von diesen Auslugposten verboten, so schwer auch die
Versuchung zu überw^inden war, ein paar Kerle niederzubrennen,
während sie ihren Thee schlürften oder ihre Zöpfe strählten.
Nachmittag hatten die zwei Leute der >Zenta« an der Nord-
barricade wieder Jagdglück, zwei Schüsse brachten ihnen drei Opfer,
deren Gewehre und Munition an die Freiwilligen im Fu vertheilt
wurden. Die Amerikaner trugen mir die »Internationale« an, doch
dankte ich, weil vorläufig nirgends eine geeignete Aufstellung
dafür zu finden war.
Da die Chinesen von der Kaisermauer aus den Canal und
namentlich die Aus- und Eingänge vom Fu und der englischen
Gesandtschaft unter Feuer hielten, wurde an diesem Tage ein neuer
gedeckter Weg und eine stärkere Barricade in der Canalsohle zu
bauen begonnen; zu diesem Zwecke grub man unter der Mauer
auf jeder Seite des Canals einen tiefen Laufgraben aus. Die ausser-
ordentlich drückende Hitze schien die Unternehmungslust unserer
Gegner gelähmt zu haben, der Nachmittag gehörte nur ihren
Scharfschützen.
Gegen Abend verbreitete sich ein Gerücht, die Chinesenstadt
sei von Truppen verlassen und das Volk erzähle sich, 80.000 Fremde
seien im Anzug; einige japanische Matrosen eilten schon auf die
Stadtmauer, um ihre ankommenden Landsleute zu begrüssen,
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292
kehrten jedoch enttäuscht zurück. Wie das Gerede en
■ \ entzog sich der Controle.*)
Da man nach Sonnenuntergang hinter den Mauerr
!j I Legationsstrasse uns gegenüber grossen Lärm und das (
von Hammer- und Axtschlägen hörte, wurde der Verdau
dass die Chinesen dort einen Geschützstand errichteten
vom Dachraum des Thorgebäudes, noch vom Ausguck
Capelle konnte man den Raum unmittelbar hinter der fr
Mauer einsehen, blieb daher auf Vermuthungen beschrär
meine Veranlassung wurde um die »Internationale« geschic
ihrer, die inzwischen anderwärts aufgestellt worden, 1
italienische Schnellfeuerkanone herüber. Während wir i
der Herstellung einer entsprechenden Oeffnung in der S
beschäftigt waren, erschien Chamot und betheuerte, vc
seines Hauses folgendes Gespräch bei unserem Gegenüber <
zu haben: »Jetzt kommen fremde Soldaten, machen wir
dem Staube. € — Was immer daran gewesen, so war voi
kein Anzeichen eines Abzuges zu bemerken.
Chamot Hess durch seinen Boy, dessen Bekanntsc
schon beim Versuche, die Leiche des Russen zu bergen,
haben, an zwei Thore vis-ä-vis von uns Feuer legen, das ab
nicht genügend griff und die Chinesen veranlasste, wie
zu schiessen. Inzwischen verständigten wir Soden von
Beobachtungen und unserem Vorhaben ; seine Posten
auch nichts Aufklärendes melden, doch Hess er sie für a
etwas zurückziehen, um sie ausser Bereich unseres Gesch
j ; bringen.
Um 9'/4 Uhr gaben wir vier Schüsse aus der itali
Kanone ab, ihre Wirkung war jedoch minimal, denn si<
schlugen die Vormauer glatt und crepirten erst an den I
natürlich antworteten die Chinesen alsbald mit einer neuen
Fusillade. Ihr Geschrei und misstönendes Trompetengebl
gerte sich einige Minuten hindurch, so dass noch drei
Schüsse abgegeben wurden, bald aber nahm das Getöse j
Rosthorn, der von der Thorbarricade aus mit ges
Ohr Alles verfolgte, was drüben vorging, erklärte, dass die
drüben gerufen: »Grosse Kanone herbei, Thor öffnen« —
unser kleines Geschütz in Erwartung des Kommenden
*) Sir Claude verzeichnet unter dem 9. Juli, dass ein christlicher Chii
die Stadt hinausgeschlichen und unter Anderem berichtet habe, von einen
fremder Truppen sei nichts bekannt; man ersieht aus dieser Entgegenstelli
gänzliche Ungewissheit über die wichtigsten Fragen.
298
Glück geg-en das nähere der beiden Thore gerichtet und auf unserer
Stellung Alles an den Gefechtsposten verblieb; doch verlief die
Nacht ohne besondere Vorfalle, ausgenommen einiges Gewehrfeuer
bei unserer Nordbarricade, auf der Stadtmauer und im Fu.
Am folgenden Morgen schickte ich dankend die italienische
Kanone nach »England« zurück.
Wir schrieben den 10. Juli — also war seit dem Aufbruche
Seymour's von Tientsin schon ein voller Monat verflossen ; das gab
zu denken!
Wieder wurde ein Plünderer von der Nordbarricade einge-
bracht und nach kurzem, ebenso resultatlosem Verhör wie jenes der
am Vortage Gefangenen trat auch er gleichmüthig seinen letzten
Gang an.
Um 8Vi Uhr kam zu unserem grössten Erstaunen eine englische
Patrouille hinter der Barricade Chamot hervor und marschirte,
ohne einen Schuss zu erhalten, an den von Chinesen besetzten
Häusern in der Legationsstrasse vorbei bis zu unserer Stellung,
wo sie Einlass fand ; sie war ins Fu bestimmt gewesen und hatte
sich verirrt! Da mussten unsere sonst doch sehr aufmerksamen
Gegenüber entschieden eine sehr wichtige Abhaltung gehabt, w^ahr-
scheinlich Hauptmahlzeit gehalten haben ; hoffentlich ist dem Führer
der fünf Mann das Glück auch fernerhin gleich hold geblieben.
Von 10 Uhr bis Mittag bombardirten die Chinesen wieder
die östlichen Gebäude der Legation und gefielen sich in einem
weiteren Angriff auf uns, wie alle die Tage seither; nachmittags
kehrte sich das Bombardement gegen die deutsche Legation, das
Fu und die Westgruppe, der Flaggenmast der amerikanischen
Gesandtschaft war schon vier Tage vorher abgeschossen worden,
die Russen kappten den ihrigen, weil er einen zu guten Hilfsziel-
punkt abgab. Bei uns herrschte relative Ruhe; vom Hause Saussine
beobachteten \vir, dass die Chinesen in der Customsstrasse unter
den Resten der Mauer gruben. Bald war kein Zweifel mehr darüber
möglich, welche Absichten sie damit verfolgten, es konnte nur
eine Mine sein; gegen welches Object jedoch sie sich richtete,
entzog" sich unserer Beurtheilung. Das einfachste Mittel, um sich
g-eg'en diese neue Gefahr zu sichern, einen tiefen, senkrecht zur
Wahrscheinlichen Richtung des Ganges verlaufenden Graben auszu-
heben, konnte in unserem Falle nicht angewendet werden, denn
der schmale Hof stand ganz unter dem Feuer der Chinesen und
Um in gerader Richtung unterirdisch entgegenzuarbeiten, fehlten
Uns die Leute und schliesslich jegliches Sprengmaterial. So be-
schlossen wir, das zunächst liegende Haus Saussine für gewöhnlich
294
zu räumen und die Lücke in der Linie durch Verstärkung der
seitwärts aufgestellten Wachen so gut als möglich zu decken;
vielleicht liess sich ein Canal auffinden, den ausräumend man in
die Nähe der chinesischen Mine gelangen konnte. Bouillard und
Chamot wurden zu Rathe gezogen, aber auch letzterer vermochte
über die Existenz und den Lauf eines Canals gerade an dem be-
drohten Punkte keinen bestimmten Aufschluss zu geben. — In der
That ein böses Gefühl, nun auch den so zähe vertheidigten Boden
nicht mehr sicher zu wissen.
Zur Abwechslung circulirte am Abend ein Gerücht, dass uns
in der kommenden Nacht endlich der Garaus gemacht werden
solle ; gestern Befreiung, heute allgemeines Massacre — eines wie
das Andere Ausgeburten einer überhitzten Phantasie!
Der ganze folgende Tag, der 11. Juli, verging bei uns ziem-
lich ruhig. Der Versuch, einen Canal zu finden, scheiterte; zwar
wurde zwischen Thor- und Hauptgebäuden ein fest verstopfter, ge-
mauerter Abzug gegen die Legation sstrasse aufgedeckt, aber keiner,
der nach der bedrohten Richtung geführt hätte. Wie immer man
über die Minen der Chinesen denken mochte, so liess sich doch
voraussetzen, dass die bisherige Vertheidigungslinie kaum mehr
lange gehalten werden könnte, und so fand der Vorschlag Bartholin's,
vom Hause Anthouard bis an die Nordmauer einen Laufgraben
ziehen zu w- ollen, volle Zustimmung; der Antragsteller übernahm
gleich die Ausführung und arbeitete mit den wenigen Kulis, die
aufgetrieben werden konnten — ständig blieben nur zwei — un-
verdrossen vom frühen Morgen bis in die späte Nacht.
Trotz des abschreckenden Beispieles setzte das von Boxern
und Soldaten protegirte Gesindel in unserer linken Flanke sein Un-
wesen fort ; morgens waren nicht weniger als 18 von ihnen nieder-
geschossen, einer gefangen und nach fruchtlosem Verhöre füsilirt
worden. Raden theilte mit, dass die Chinesen ihre Stellung gegen-
über der amerikanisch - russischen Barricade im Westth^ile der
Legationsstrasse mit Sack und Pack verlassen hatten; eine Er-
klärung hiefür liess sich nicht leicht erdenken.
Die Deutschen verloren, wiewohl nur in den Morgenstunden
lebhafter beschossen, doch wieder einen Mann todt, Engländer
und Japaner im Fu mehrere Verwundete; spät abends wurde
dort Matrose Triscoli,*) den ich erst am Morgen als Ablösung
für einen anderen dahin geschickt, durch den Kopf geschossen.
Also trotz weniger lebhafter Thätigkeit der Chinesen wieder genug
Verluste !
♦) Mit Verlust des rechten Auges invalid.
295
Abends erzählte man sich — das Gerede entstand meist in
»England« — die Truppen des Prinzen Tsching hätten sich, für die
Fremden Partei ergreifend, ausserhalb der Stadt mit anderen ge-
schlagen, wären aber geworfen und zerstreut worden; Sensations-
lustige hatten also keinen Grund, über Einförmigkeit zu klagen.
Den 12. Juli leiteten unsere Gegner mit einer erneuerten,
heftigen Beschiessung des Nordosttheiles der französischen Legation
ein, gegen die es kaum mehr Deckung gab. Die Ostmauer bröckelte
immer weiter ab, ein trostloser Anblick. Auch das Manöver, mit
Stangen Feuer hereinzureichen, wiederholte sich, glücklicherweise
auch diesmal ohne Erfolg; wieder wurde ein Plünderer bei der
Nordbarricade niedergemacht, einer gefangen. Man fragte sich un-
willkürlich, welcher Magnet für die Raubgier des Volkes dort
eigentlich verborgen sein müsse.
Unser Gefangener wurde auf Ersuchen von Sir Robert Hart
zum Verhör in die englische Gesandtschaft geschickt; letzterer
hoffte doch etwas aus ihm herauszubringen.
Auf der Stadtmauer hatten die Chinesen indessen ihr Geschütz
schon bis auf die Höhe der Ostmauer der deutschen Legation
herangebracht und bombardirten von dort nun den alten und neuen
Club, die Secretärshäuser und das Hotel fast den ganzen Tag.
Soden lud mich ein, seine Position zu besichtigen. Auf seine Frage,
was ich an seiner Stelle noch unternehmen würde, konnte ich nur
antworten: »Dasselbe wie Sie, aushalten.« Von einem Vorgehen,
um mehr Luft zu bekommen, war einfach keine Rede ; im Osten
standen seine Posten nicht viel weiter von den chinesischen als
unsere im Osthof, von der Mauer herab hielten die Chinesen den
ganzen freien Platz unter plongirendem Feuer, es blieb nur die
Frage, ob sie sich getrauen würden, über letzteren her anzulaufen.
Aus der deutschen Gesandtschaft zurückgekehrt, kam ich eben
dazu, wie unser Blockhaus mit Granaten beschossen wurde. Die
Chinesen hatten in der italienischen Gesandtschaft in der bei-
läufigen Höhe eines Stockwerkes ein Geschütz zu postiren ver-
mocht und eben demaskirt. Die ersten drei auf weniger als
150 Meter Distanz abgegebenen Schüsse trafen wieder das Dach des
Portals, nach einem Kurzschuss auf die Strasse schlugen drei Ge-
schosse in den schwachen Ziegelbau des Reduits, einige weitere waren
gegen die Barricade Chamot gerichtet. Zu unserer grössten Freude
und Ueberraschung widerstanden die nur zwei Ziegellängen dicken
Wände des Blockhauses im Ganzen, die Sprengwirkung war rein
örtlich, weit schwächer als befürchtet und verursachte keine
grösseren Schäden, als dass wir sie nachts mit einigen Erdsäcken
296
ausbessern konnten. Sowie die Reihe des Beschossenwerdens an die
in unserem Rücken liegende Barricade gekommen war, hatten
unsere Leute gleich wieder ihre Posten im Reduit eingenommen
und getrachtet, die in der finsteren Bresche unsichtbar bleibende
Geschützbemannung mit Gewehrfeuer zu vertreiben ; nach dreizehn
Schüssen verschwand die Kanone hinter einigen rasch von innen
vorgeschobenen Balken, um nie wieder vom selben Punkte aus
in Action zu kommen. Wären noch drei bis vier Schüsse gegen
das Blockhaus abgegeben worden, so hätte dieses, unser wichtigster
Posten in der Legationsstrasse, doch zweifellos in Trümmer zer-
fallen müssen, aber so weit reichte die Beurtheilungsgabe der
Chinesen glücklicherweise nicht.
Gegen die Ostmauer war inzwischen wieder ein lebhaftes
Gewehrfeuer unterhalten worden; an der Nordostecke im Keller
scharrten unsere Gegner wie Maulwürfe und bauten sich dort eine
Holzbarricade. Um 1 Uhr nachmittags setzte Pelliot letztere in
Brand und riss, von zwei französischen Matrosen unterstützt, ein
dort angelehntes Banner herein; die laute Freude darüber wurde
aber nur zu bald ernstlich getrübt, denn an derselben Stelle er-
hob sich ein wüthendes Feuer der ergrimmten Chinesen. Nun sah
man deutlich, wie bedeutend die Anzahl von Zufallstreffern sein
konnte; binnen einer Stunde kamen dort fünf Verwundungen,
darunter zwei schwere und eine tödtliche vor. Freiwilliger Gruintgens
erhielt eine Kugel in die Kehle und wäre, wenn nicht Dr. Matig-
non unmittelbar darauf Hilfe geleivStet hätte, durch den Bluterguss
erstickt ; unvergesslich bleibt uns Allen seine heroische Anstrengung,
sich zu einem Lächeln zu zwingen und den Herbeigeeilten die
Hand reichen zu wollen ! Während man ihn nach dem Hospital
in der englischen Gesandtschaft transportirte, wurden Benvenuti
und zwei chinesische Blessirtenträger noch leicht verwundet.
Die Inschrift des Banners wurde abgelesen: »General Lih,
rechter Flügel der Truppen Yunglu's«; scheinbar war es eines
jener Feldzeichen, deren Verlust für die betreffende Truppe die
Sistirung ihres Soldes nach sich zieht, denn sonst Hesse sich die
Wuth der Chinesen kaum erklären.
So aneifernd auch sonst die Worte: »Eroberung einer feindlichen
Fahne € klingen mochten, so durfte in unserem Falle, wo jeder dienst-
fähige Mann solange als möglich erhalten werden musste, doch
für derartige Unternehmungen nichts aufs Spiel gesetzt werden
und konnte ich Darcy hierin nur beistimmen; demgemäss erging
von uns Beiden an unsere Leute das Verbot, ohne unser Vorwissen
wieder etwas Aehnliches zu unternehmen, im Uebrigen wurden aiudi
die Chinesen vorsichtiger und vermieden es, ihre Abzeichen in so
L verlockender Nähe aufzustellen. Fast zur selben Zeit hatten im
■ Hanlin ein Amerikaner und mehrere Engländer ebenfalls ein chine-
I sisches Artillerie-Banner, das auf einer Barricade dicht neben der
P Alauer aufgepflanzt worden war, erbeutet.
Gegen das Fu hörte, wie überhaupt bei uns im Osten, das
I Feuer auch diesen Tag nicht auf; auf der Stadtmauer versuchten
die Amerikaner eine Zeit lang mit Erfolg die Chinesen am Bom-
bardement der deutschen Gesandtschaft zu verhindern : um 5 Uhr
nachmittags hatten letztere sich aber gegen die Salven von Westen
her gedeckt und warfen nun schon Granaten ins Ministerhaus.
Abends wurde es ruhiger, einige durch die Bresche beim franzö-
sischen Flaggenmaste hereingeschleuderte Brander versagten.
Letzterer stand, wiewohl von Projectilen aller Art zerhackt, noch
immer aufrecht, die Tricolore wehte halb zerfetzt noch immer
herab — ein Zufall hatte es wollen, dass eine durchschossene Leine
sich in der zweiten verfangen und scheinbar verbleit hatte, die
Flagge sass fest wie angenagelt!
Die ganze Nacht über liess das Gewehrfeuer an der Nordost-
ecke nicht nach und kostete, als der Morgen des 13. Juli anbrach,
noch dem Matrosen Lenne das Leben — die erbeutete Fahne kam
den F'ranzosen fürwahr theuer zu stehen. Statt der Plünderer fielen
an diesem Tage drei chinesische Soldaten bei der Nordbarricade ;
auffälligerweise wurde die franzosische Legation gar nicht mit
Geschütz angegriffen, dagegen litten die deutsche, das Hotel und
das Fu sehr unter dem fortgesetzten Bombardement, im letzteren
mussten die Japaner wieder um eine weitere Linie zurück. Die
»Deutschen hatten wieder zwei Falle von Verwundungen, darunter
eine schwere, zu beklagen.
Gegen Mittag trat allmählich Stille ein; Bartholin arbeitete,
glücklich sein Werk der Vollendung nahe zu sehen, rüstig an der
Tranchöe weiter, die seinen Namen tragen sollte. Wir erhielten
wie am Vortage den Besuch einiger Engländer, die sich das Bild
ansehen gekommen waren, und gewiss war es der Mühe werth,
den Weg herüber zu machen. Von der ehedem so schönen Gesandt-
schaft standen eigentlich nur mehr Ruinen da. Die Ostmauer,
praktisch genommen ein rauchgeschwärzter Trümmerhaufen, bot
fast .schon mehr Durchblick als sie ihn verwehrte; die Dächer der
Hauptgebäude und der grossen Halle total zerschossen und ihr
nrg zersplittertes Gebälk nahezu ganz freigelegt, die Mauern bis auf
.circa ii'l» Meter vom Boden durch die vielen Granaten zerrissen
Wd durch die Tausende von Gewehrprojectilen zerbröckelt; das
298
Thorgebäude und sein östlicher Annex zur Hälfte abgedeckt, die
Wände vielfach durchlöchert und Alles dem Einsturz nahe; die
schmalen Hofräume mit zerschlagenen Ziegeln, zerfallenem Mauer-
anwurf und halbverkohlten Holzstücken bedeckt; der ehedem so
gut gepflegte Park mit abgeschossenen Aesten und Zweigen über-
säet, nur mehr die in seinem westlichen Theile befindlichen Baulich-
keiten waren in bewohnbarem Zustande, auf dem Tennisplatze ein
paar arg mitgenommene Rickshaws mit Ziegeln beladen und sonst
die Spuren vom Schlachten und Zerlegen unserer schon bedenklich
zusammenschmelzenden Maulthierherde — so präsentirte sich die
Legation von aussen. Die vormals bekannt schönen Interieurs
devastirt, wo die feindlichen Geschosse nicht hingetroffen, dort
hatte ein Durchschlag gemacht werden müssen und auf dem Boden
manche dunkle Stelle, wo er das Blut eines Verwundeten eingesogen;
Officiere, Freiwillige und Matrosen in zerrissenen, angebrannten
Kleidern, seit dem 29. Juni fast stets auf ihren Gefechtsposten,
wer nicht auf Wache stand, suchte Gewehr im Arm in der nächsten
Nähe ein Plätzchen, wo er auf einem alten wackeligen Stuhl oder
auch nur auf ein paar Sandsäcken oder auf Schutt ruhen wollte —
wollte, denn die Millionen von Fliegen Hessen das nicht zu. Der An-
blick konnte melancholisch stimmen, aber wir waren stolz, dort noch
auszuhalten ; unsere Besucher verhehlten nicht, wie tiefen Eindruck
ihnen das Gesehene bereitete, und einer*) von ihnen sprach sich, die
Verheerungen durch Geschützfeuer musternd, unumwunden aus: »Ja
hier haben Sie wohl zehnmal mehr bekommen als die englischt
Legation.«
Nach 1 Uhr wurde es unheimlich still, nur vom Westen hei
klangen noch einige Schüsse ; Lenne's Begräbniss verlief ganz un —
gestört.
Um 4 Uhr hatte Bartholin seinen letzten Spatenstich gethai
und meldete Darcy schweisstriefend, aber glücklich über den
die Vollendung seines Werkes, das er trotz einer glühenden, durcl— ^^ ^
keinen Hauch gekühlten Hitze unermüdlich fortgesetzt hatte, allere <
Warnungen, sich nicht zu übermüden, immer nur das eine Wer — "^nri
entgegensetzend: »Gleich, gleich ist's fertig.«
Gegen 4Vs Uhr erschien in der Customsstrasse wieder eir —An
Banner und war dort einige Unruhe zu bemerken ; da jedoch ala«cr r-
*) Dr. Morrison selbst. Er und sein Begleiter Captain Poole besuchten
das deutsche Ministerhaus, das allerdings noch unvergleichlich besser erhalten
eine eben den Plafond durchschlagende Granate kürzte ihren Besuch ab. I^der cxist_ mit
keine einzige photographische Aufnahme der französischen Legation in ihrem Zustand sm.w
12. oder 13. Juli, das Project einer solchen wurde hinausgeschoben, bu es xu 9^ W"^«r.
mirt wurde, zopeii sich die Chinesen wieder zurück. — Wenn uns I
die Chinesen Ruhe Hessen, sollte morgen das französische National- 1
fest solenn begangen werden: der alte Pesqueur, ein in allen I
Oceanen und unter allen Sonnen grau gewordener Seebär mit dem 1
einfachen, leicht zu befriedigenden Herzen eines Kindes, bereitete I
eine Flagg^^ngala vor. ohne die nach seinem seemännischen Gefühl I
ja ein 14. Juli nicht gefeiert werden konnte. Eine lange Stange I
■und Leinen hatte er aufgetrieben und damit wollte er vor dem I
»Hauptquartier«, d, i. dem Fremdenpavillon einen neuen Flaggen- I
stock errichten, von dem Tricolore und Roth-Weiss-Roth zusammen I
stolz in die gegnerischen Lager hinübersehen würden; wie er sich 1
freute, einmal wieder etwas auftakeln zu können! Das rausste er 1
,ganz allein besorgen, die Dienstfertigen von vier Nationen hatten I
nur zuzusehen und zuzuhören, wie er seine flinke Arbeit mit Be- I
merkungen über das Jetzt inmitten des gelben Hundepacks und I
das glücklichere, gewiss noch folgende Einst auf dem «D'Entre- I
casteauX' kürzte. Braver Pesqueur, das war dein letzter Traum! I
Oegen 5 Uhr theilte uns M. Pichon folgende Aussagen des tags- I
vorher gefangenen Plünderers mit, die Sir Robert Hart's Fragekunst I
entlockt hatte: I
"Kaiser und Kaiserin- Witwe befinden sich im Winterpalast; I
die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten liegt in den Händen |
des Prinzen Tuan, der Generale Yunglu und Tung-Fuhsiang, Prinz (
Tsching nimmt keinen Theil daran. Es sind noch zahlreiche Boxer ]
in der Stadt; im Hause ihres Hauptbeschützers Tuan werden sie J
immatriculirt, mit Geld und Lebensmitteln versehen. Die Soldaten 1
machen sie lächerlich, weil sie trotz ihrer angeblichen Unverw^und- j
barkeit nicht wagen, in den ersten Reihen ins Feuer zu gehen. I
300(J Tung-Fuhsiang-Soldaien sind in der Stadt, sie stehen I
den Amerikanern auf der Stadtmauer und im Süden gegenüber. J
■Die französische Legation wird von Yunglu's Leuten umgeben. I
Täglich fallen einige oder werden verwundet; die Munition kommt ]
aus Nanhaitse. Die Kaiserin -Witwe hat sich der Anwendung von I
grobem Geschütz gegen die Fremden mit Rücksicht auf den I
Schaden, der daraus für ihre Untcrthanen und deren Behausungen i
entstehen könnte, widersetzt. Nachdem die directen Angriffe erfolg- I
los geblieben und die Gewehre der Fremden die besseren sind. I
hat man sich entschlossen, letztere auszuhungern; auch glauben I
die Soldaten, dass die Fremden einige Tausend stark sind.") 1
Heien Fremden auf 2000; er sei »on Jen 1
• Heller) läglich engagitt gevoen. Ueber I
nur Erzähltes, kann dahet für die Richlig- I
*) Der GeTangene schallte d
* Todlengtäber filr zwei
C Schicksal diese» Mannes ^
300
Die kaiserlichen Decrete werden wie gewöhnlich publicirt,
die Geschäfte gehen weiter, der Markt wird wie immer versorgt,
nur die Banken sind geschlossen.«
In dieser Aussage fehlte vor Allem die erhoffte Andeutung
über das Nahen eines Entsatzes, aber hierüber wusste ein ehe-
maliger Diener Rosthorn's etwas zu erzählen. Nach seiner Angabe
sei im Volke das Gerücht verbreitet, fremde Truppen rückten von
Ost, Süd und West vor, stünden auch nicht mehr weit, aber von
chinesischen Soldaten aufgehalten, könnten sie vor zwei bis drei
Tagen nicht eintreff^en. Das klang allerdings ermuthigender, aber
dass der Entsatz von drei Seiten gleichzeitig anmarschiren sollte,
konnte doch nicht ohneweiters geglaubt werden; immerhin durfte
man aber doch hoffen, dass er eintreffen werde, bevor sich die
neue Taktik des Aushungems erfolgreich bewiesen haben würde.
Noch mit der Discussion über den Werth oder Unwerth dieser
Nachrichten beschäftigt, wurden wir gegen 6V4*) Uhr durch einen
von Ost und Süd kommenden, plötzlich entstandenen Angriffslärm
aufgescheucht; die gewöhnlichen Instrumente setzten mit ihrem
Fortissimo ein, es musste Besonderes im Zuge sein.
Auf beiden Fronten überschütteten uns unsere Gegner mit
einem Schnellfeuer von kaum dagewesener Heftigkeit, die Trom-
peter bliesen mit aller Macht, das »Scha-scha«-Gebrüll suchte beides
zu übertönen und sechs Banner näherten sich; noch hatte aber
kein Chinese sich frei gezeigt und so wurde das Feuer gegen die
Schiesslöcher gerichtet.
Da mit einemmale eine dumpfe Detonation, gleich darauf eine
zweite — das Gewehrfeuer schwieg wie abgeschnitten, und schon
sauste aus Südosten eine Granate dicht über uns hinweg, im
Thorgebäude crepirend, gleich darauf eine zweite aus Osten in
den östlichen Stall — Steine und Erde fielen in dichtem, die Aus-
sicht benehmendem Regen — die Minen hatten gespielt.
Die Leute aus Reduit und Thorgebäude, in dem man vor
Pulverdampf und Staub kaum mehr sehen konnte, zurückzietend,
um sie ausser Bereich der Granaten zu bringen, gewärtigt€si^^%;|^
den Ansturm ; wirklich stürzten auch einige zwanzig Chinesen bei
keit nicht einstehen. Er hatte sich als zwangsweise angeworbener Boxer bekfumt und
den Vorschlag, sein Leben durch Beförderung einer Depesche nach Tientsin zu etlcaufen,
gerne acceptirt, doch kehrte er von seinem Botengange nicht wieder zurück.
*) Genaue Stundenangaben sind fast unmöglich, denn mangels eines einwand-
freien Mittels zum Uhrvergleich waren gar bald Differenzen von 30 bis 40 Minuten
eingetreten. Die vorliegende Zeitangabe halte ich nicht im Vertrauen auf meine ra«"^
behandelte Taschenuhr, sondern im Zusammenhalte mit anderen mir deutlich erinnerUi
Einzelnheiten für richtiger als jene anderer Quellen.
den Südbresclien herein, wendeten sich aber gleich, durch unsere
Salven empfangen, theils zurück, theils nach rechts hinter die Ge-
bäude, während noch weitere Granaten in das eben geräumte Thor-
gebäude und seinen Annex schlugen. In dem Aug-enblick erschien
von Rosthom. über und über mit Staub und Erde bedeckt, und
tbeilte mit, das Haus Saussine sei aufgeflogen, am linken Hügel
hielten noch die Franzosen. Das Kanonenfeuer schwieg und allso'
gleich eilten wir ins halbverschüttete Thorgebäude zurück, ver-
jagten von dort die Eindringlinge mit Schnellfeuer in ihre Flanke,
aber zu spät, in der Mitte der Ostfront züngelten schon die Flammen,
mit unaufhaltsamer Gier das freie Gebälk verzehrend, empor. Nach
einer Minute war kein lebender Chinese mehr innerhalb des Hofes,
viele lagen hingestreckt, aber von draussen her verkündete er-
neuert heftiges Geschrei, dass sich wieder eine Horde heranwälze,
Vom Stalle aus konnte man nur den Einsturz des grössten Theiles
der Umfassungsmauer und zwei mächtige Trichter an Stelle der
verschwundenen Häuser Morisse und Saussine unterscheiden, drüber
hinaus benahm hochloderndes Feuer und dicker Rauch die Aus-
sicht; das Gewehrfeuer rasselte mit verdoppelter Schnelligkeit
gegen die Mauertrümmer, wir dachten den entscheidenden Augen-
blick gekommen — aber offenbar durch den Anblick der Brand-
garben befriedigt, unterliessen unsere feigen Gegner das Wagniss,
die zehn Schritte herüberzulaufen und uns, die doch kaum mehr
Zeit gehabt hätten, als die geladenen Gewehre ausz uschiessen, mit
der blanken Waffe, ja mit den Fäusten niederzumachen — dies
schien den Hunderten und Hunderten da draussen doch zu be-
denklich.
Mayer, den ich zur Einholung von Nachrichten auf den linken
Flügel ausgesendet, meldete, dass die Franzosen, dem Gewehrfeuer
trotzend, erst durch den Brand in ihrer Flanke gezwungen, den
linken I-lügel geräumt und sich in die Tranchee zurückgezogen
hätten. Dadurch war auch unser Flügel unhaltbar geworden und
ich musste meine Leute und die aus eigenem Antrieb zum letzten
Kampf herbeigeeilten, mit Messern und Piken bewaffneten Kulis
in den Capellentract und den Fremdenpavillon zurücknehmen.
Raschka und Basljan schlössen die schweren Thore und die
Matrosen rissen noch in aller Eile die Verb in dungsbar ricade zum
Hauptgebäude ein, um für die neue Linie freien .Schuss zu be-
kommen. Erst jetit erfuhr ich Näheres; Darcy kam, aus einer Kopf-
wunde und am Arme blutend, zu mir, schwarz von Rauch und
Erde wie ein Mohr. Er hatte mit von Rosthorn, Destelan, dem alten
Pesqueur und vier Matrosen bei dem heftigen Gewehrfeuer, einen
Anlauf gewärtigend, das Haus Saussine besetzt, um die vorlie)
Hauptbreschen zu vertheidigen ; die erste Mine flog unter
auf, von Rosthorn wurde durch den Choc in eine Ecke geschl
und durch Schutt eingekeilt, Darcy entfiel das Gewehr, u
instinctiv den Kopf mit den Armen bedeckend, entging <
Schicksal, erschlagen zu werden. Die zweite Explosion t
von Rosthorn aus seiner Lage, begrub aber Destelan bis zui
unter Trümmern; als nun Darcy das Haus räumen Hess,
Pesqueur und der Matrose Bougeard, sie waren jedenfalls g
begraben, Destelan wurde mit Mühe und Noth gerettet
Gewehrfeuer waren auffalligerweise nur einer unserer Leute,
und der französische Freiwillige Feit, beide bloss leicht ven
worden.
Noch standen wir auf dem Boden der Gesandtschaft, a
eine Dämpfung des sich vor unseren Augen mit jeder
rascher ausbreitenden Brandes war nicht zu denken.
Die Deutschen waren ebenso heftig wie wir ange
worden, ja bei ihnen waren die Chinesen über den freiei
bereits eingedrungen, um die Vertheidiger in Flanke und I
zu fassen, als Soden, mit dem Gewehr in der Hand, die nl
zwei bis drei Leute zusammenraffend, Sturm blasen Hess ui
ihnen mit Hurrah ! entgegenwarf; das half, und als seine
Schäften aus ihren Barricaden herbei eilten, verjagten sie in
Bajon nett an lauf die Eindringlinge, welche, mehrere Todte u
Banner preisgebend, in wilder Flucht davonliefen. Eine Versti
von zwölf Russen, die Herr von Below herbeigeholt, kam e
der Sturm abgeschlagen worden war; die erste Phase des Ai
hatte wieder drei Verwundete gekostet, beim Bajonnettaalaui
alle Stürmenden unverletzt g-eblieben. Gleichzeitig mit den
Legationen hatten die Chinesen auch das Fu heftig ange
und Sir Claude mich um eine Bemannung für unsere Mitr:
ersucht, mit der er vom ersten Stockwerk einer der nör
Häuser seiner Gesandtschaft die Angreifer beschiessen lassen
der Bote, M. Fliehe, erschien während des heftigsten Feuers
und nahm die zwei Leute gleich mit. Bald aber kehrten sie ;
das Stiegenhaus war nicht breit genug, um das Maschinen)
hinauftransportiren zu können. Ich schickte die Leute nochn
rück mit dem Antrag, die Lafette und den Schirm zu zerleget
die Waffe absolut nöthig- sei, und theilte bei dieser Getegenhe
mit, was das Resultat des Angriffes auf uns gewesen, doch
auch dort schon ruhiger geworden und der englische G(
benöthigte die MitraiUeuse nicht.
^^^Bzwischen war die Nachl hereingebrochen, wir hatten aller- 1
ffl^^roti dem colossalen Brande g'enug Helle vor uns und konnten 1
gleich an die Arbeit gehen; das Haus Philippini störte uns sehr und
liess ich es mit Darcy's Zustimmung nun ebenso wie den an der
Westseite des Thorgebäudes angebauten Stall durch Chamot's er-
probten »Petroleur« anstecken ; leider griff das Feuer am zweiten
Punkt nicht genügend, so dass die Chinesen es noch zu dämpfen ver-
mochten. Letztere feuerten, durch die brennenden Häuser gedeckt,
unablässig, doch wirkungslos die ganze Kachi gegen uns herüber.
Capellentract und Fremdenpavillon Hessen Kollaf und ich i
durch unsere Leute in aller Eile in vertheidigungsfahigen Zustand j
versetzen, d. h. dort Schiesslöcher einschneiden, die Fenster mit |
Erdsäcken verlegen, die vorliegende, den Ausschuss beeinträch- j
tigende Anpflanzung etwas lichten u. s. w.. für die \acht selbst 1
wurde unter Bartholin's Leitung von Kulis eine kleine Barricade I
von der Capelle zum brennenden Hause Philippini gezogen, 1
Durch dsts Aufspringen nordöstlicher Brise rasch verbreitet,
zerstörte der Brand auch den westlichen Tract der Hauptgebäude :
um 1 Uhr stürzte die Säulenhalle mit einem weithin veniehmbaren '
Getöse ein, was die Chinesen mit lautem Beifallsgeschrei begrüssten; J
dichte. Sehen und Alhmen erschwerende Rauchschwaden und ]
F im kenschwärme trieben auf uns zu, doch kümmerte sich Niemand J
darum, solange unsere Häuser verschont blieben; hiess es doch i
wenigstens so weit fertig werden, dass ein neuerlicher Angriff uns |
gerüstet finden würde. 1
Darcy musste sich, nachdem ihn Dr. Matignon verbündet!, 1
einige Stunden Ruhe gönnen und begab sich mit dem Ehepaar |
von Rosthorn in die deutsche Gesandtschaft ; glücklicherweise I
batte der Choc der F.xplosion bei keinem der Betroffenen weitere I
Folgen. I
Da das Haus Anthouard für die Unterkunft des französischen |
Detachements benÖthigt wurde, nahm Frau von Rosthorn die ihr I
in der deutschen Gesandtschaft angebotene Wohnung an; aber I
gleichwie ihr Gatte auch fernerhin in der französischen Legalion I
mitkämpfte, kam auch sie immer wieder herüber, um nach den I
Venvundeten und Kranken zu sehen und zu helfen, wo sie konnte.
Uns vergingen die langen Stunden dieser unvergesslichen
Nacht rascher als erwartet; Arbeit gab's in Fülle. Kaum dass die
Schiesstände nothdürftig beendet waren, hiess es sich ans Lichten
der Bosquets und Slräucher machen, was mangels Werkzeugen
recht langsame Fortschritte erzielte, diese Gewächse kamen uns I
^ürdig zähe vor. und dann musste vom brennenden Hause 1
304
Philippine umgelegt werden, was möglich; kurzum von Ruhe keine
Spur. Ein Glücklicher war unter uns: Bartholin! Mit Fug und
Recht konnte er auf seine so a tempo beendete Tranch^e stolz
sein, und als er noch den letzten Ziegel und Erdsack auf die Barri-
cade gelegt, da gönnte er sich eine Flasche Wein und erklärte,
auch für die Herren Boxer nicht vor 8 Uhr zu sprechen zu sein.
Minder zufrieden war Bouillard, dem während des Ausrodens ein
ausschnellender Zweig das unentbehrliche Augenglas von der Nase
weggeschlagen hatte; alles Suchen blieb umsonst, die gekränkte
Gartennymphe gab ihr Opfer nicht wieder heraus und mein Helfer
im Waldfrevel musste auf die Suche nach der letzten Reserve
gehen.
Gegen 2 Uhr fielen wieder einige Granaten in die deutsche
Legation, auch wurden auf dem Westflügel und in der Richtung
des Fu wieder häufigere Gewehrsalven hörbar ; bei uns knatterte
und pfiff es nach wie vor, bis sich etwa zwei Stunden später ein
tüchtiges Gewitter entlud und damit noch mehr Lebhaftigkeit in
das zweck- und ziellose Geschiesse der Chinesen kam.
Der schwere Regen löschte sehr zur Unzeit den Brand, denn
je mehr von den Ruinen erhalten blieb, desto leichter konnten sich
unsere Gegner darin festsetzen und uns molestiren; gegen 5 Uhr
morgens rückten sie scheinbar auch vor, doch wagte sich keiner
über die schützende Westmauer des Ministerhauses vor. Endlich
trat bei beginnender Tageshelle Ruhe ein, die Kerle mussten sich
ja nach aller Berechnung total verschossen haben.
Der Angriff am Abend war mit grossem Aufgebot an Kräften
und sehr geschickt eingeleitet worden, das liess sich nicht leugnen;
die zweite Mine war eine völlige Ueberraschung für uns gew^esen,
wir hatten absolut kein Anzeichen ihres Baues bemerkt gehabt.
Minen- und Geschützwirkung hätten einander nicht besser ergänzen
können und nur diesem fatalen Umstände hatten wir es zuzu-
schreiben, dass die Chinesen Feuer legen konnten und uns durch
dieses unwiderstehliche Element zum Preisgeben der trotz Breschen
und auf nächste Distanz abgegebenem Feuer so zähe behaupteten
Linie zwangen. Genau 14 Tage waren seit dem Entstehen der
ersten Bresche verstrichen. Nun standen wir allerdings nur mehr
auf dem letzten Drittel des ganzen Complexes; aber hatten die
Angreifer nicht auch wieder die günstigste Gelegenheit, uns den
Garaus zu machen, nur aus jämmerlicher Feigheit verstreichen
lassen ? Wie wir an dem Arbeitslärm hinter den rauchenden Trümmern
erkennen konnten, fingen sie eben wieder den bekannten lang*
samen Vorgang an, sich mit Deckungen heranzuarbeiten, also
305
inser Rückzug doch nicht davS einzig zu Fürchtende veranlasst,
j. i. dass die Bande wirklichen Muth bekommen hätte. Ein un-
3estimmtes Gefühl, dass wir die entscheidende Kraftprobe unserer
Widersacher bereits erfolgreich überdauert hätten, hatte sich schon
n der Nacht bei uns geltend gemacht, als die Bataillone Yunglu's
lichts Anderes zur Störung unserer Arbeit gethan hatten, als ihre
Patronen unnütz gegen die Mauern und in die Luft zu verschiessen ;
dieses Gefühl festigte sich allgemach, wenn man die gesammten
3isherigen Vorgänge mit dem nunmehrigen Stand der Dinge ver-
glich, zur vollen Ueberzeugung.
Nach 24 Tagen hatten die Chinesen noch immer nicht ver-
nocht, einen der drei Punkte: deutsche, französische Legation
ind Fu in ihren Besitz zu bringen. Gegen den erstgenannten hatte
hnen der 13. Juli nur so weit einen Vortheil gebracht, dass der
ilte Club völlig niedergebrannt war, dafür war den deutschen
Wachen aber freierer Einblick geworden; in der französischen
Gesandtschaft standen sie nur dem rechten, etw^as vorgeschobenen
Flügel, d. i. der von uns Oesterreicher-Ungarn besetzten Capelle
und dem Fremdenpavillon auf 25 Meter nahe, während sie von der
/on den Franzosen gehaltenen Tranch^e Bartholin durch 60 bis
100 Meter nur theilweise mit Gesträuch bestandenen, im Ueb-
rigen aber fast völlig freien Raumes getrennt waren, den zu über-
schreiten sie sich gewiss lange überlegen würden; im Fu endlich
war durch das nur schrittweise Zurückgehen der Japaner eine
Phase eingetreten, in der sich das Verhältniss zwischen Zahl der
Vertheidiger und Ausdehnung der zu haltenden Linien entschieden
IM Gunsten der Fremden verschoben hatte.
Bei uns sah es allerdings wüst genug aus und es bedurfte
noch mannigfacher Arbeit, um unsere Position einigermassen zu be-
festigen; die aufrecht gebliebenen Baulichkeiten bestanden durch-
wegs aus leichtem Mauerwerk, nur die Capelle war zum Theil in
massivem Stein ausgeführt. Küche und Keller des Hauses Anthou-
ird wurden ebenfalls besetzt und die Wände von innen verstärkt,
so dass der Raum zwischen Fremdenpavillon und Capelle von drei
Seiten bestrichen wurde; vom Capellentract aus konnte der schmale
Hof zwischen den abgebrannten Häusern und der Umfassungs-
mauer unter Feuer gehalten und aus den Schiesständen des
Fremdenpavillons ein Vorgehen der Chinesen gegen die Tranch^e
verhindert werden. Wichtig war vor Allem, dass sie sich nicht
in der Ruine Philippini festzusetzen vermöchten, und deshalb
rissen wir trotz dem Feuer der bereits im Ministerhaus verborgenen
Schützen die uns zugekehrte Wand bis auf etwa einen Meter vom
Winterhaider: Kämpfe in China. 20
306
Boden ein ; die französische Tranch^e liess sich unschwer
ständigen und der Erdaufwurf so verstärken, dass ihm
Geschützfeuer nicht viel anhaben würde. Gegen letzterei
freilich der Fremdenpavillon und der Capellentract mi
Riegelwänden nicht haltbar gewesen und deshalb war unse
sächliches Augenmerk während des ganzen folgenden
darauf gerichtet, uns nicht durch Auffahren einer Kanon
raschen zu lassen. Für diesen allerdings desperaten Fall
uns am meisten exponirten Leuten von der 'Zenta* übrige
immer zwei gegen directes Feuer gedeckte Rückzugsliniei
Tranchöe offen, die im Laufe der Zeiten noch besser g<
wurden. Dies Alles bezog sich auf Angriffe, die vom Raum
halb der Legation ausgingen; gegen Süden deckte uns d
Umfassungsmauer, ausserdem enfilirte ja die Barricade Cha
Legationsstrasse ; im Norden hatten wir noch die Barricade
halb der Mauer, deren Wichtigkeit bisher den chinesischen 1
entgangen war und daher voraussichtlich auch fernerhin ni
fallen würde.
Von den vier Brunnen der Gesandtschaft konnten '
mehr jenen beim Hause Matignon benützen, zwei lagen z
uns und Chinesen ; grosse Sorge bereitete der Gedank
letztere von den Ruinen des Mi n ister hau ses aus vielle
Dunkelheit die Gräber unserer Gefallenen zu schänden ve
würden, und deshalb wurde in dieser Richtung scharfer
gehalten. Das gesamnite, von der Demolirung der Fens
Fremdenpavillons herrührende Glas und zerbrochene Flascl
streuten wir vor der Westfront des Min ister hauses als
tischen Melder für den Fall, dass die Chinesen Lust ve
sollten sich anzuschleichen.
'.ji. Der Tag des französischen Nationalfestes war trübi
i ■ ' brochen, noch trüber gemacht durch die Nachricht, dass Gti
Ij'ij . nach iI6stündigem Leiden in der Nacht seiner Wunde
war, aber schliesslich durften sich M. Pichon und Darcy d
Recht freuen, dass allen Anstrengungen der Chinesen zui
wenigstens ein Theil französischen Bodens erhalten geblii
gerade ihre Legation es gewesen sei, an der sich das Um !
der Kriegskunst unserer Feinde gebrochen hatte. Dies 1
die jederzeit so aufmerksamen Nachbarn, die Herren der dt
Gesandtschaft, auch in ihren Glückwünschen.
''■■ IJie Lebensverhältnisse in der Legation erfuhren freilü
.. die Beschränkung auf einen so kleinen Raum eine bed
H''., j Verschlimmerung, welche die österreichisch-ungarische Ma
rielleichi in noch höherem Masse verspürte als ihre fratizösischen
l^ameraden. Auf dem vorgeschobensten Posten war natürlich er-
höhte Wachsamkeit, ja conti nuirliche strenge Bereitschaft geboten,
und so kam sie aus den dumpfig-en, bloss durch Schiesslöcher er-
hellten engen Räumen eigentlich nicht mehr heraus, dafür stand
sie aber wenigstens bei Regen im Trockenen.
Die Messe der Officiere und Freiwilligen hatte aufgehört zu
bestehen und nun nahmen wir unsere Mahlzeiten im grossen Saal
des Hotel de Pekin. der aber z. B. gleich am ersten Morgen einem
Aquarium glich, denn der Regen war durch die zwei oberen zer-
schossenen Stockwerke unbehindert eingedrungen; überall standen
Pfützen und von oben sickerte das braune Nass unablässig weiter —
Zimperlichkeit war unter uns aber schon lange nicht mehr bekannt
Und der Thee wurde dabei in der Farbe ohnedies nicht lichter!
Die Tafelrunde entbehrte denn auch trotz der täglich auffälligeren
Aehnlichkeit des ersten und zweiten Ganges untereinander, an der
das Haus Chamot gewiss kein Verschulden traf, nicht der Leb-
laftigkeit, wenngleich in der Conversation Vocabeln, wie : Barricade,
Schiessloch, Erdsack. Entsatz, Mine. Tuan, Boxer — so häufig
ibwechselten wie im Menü Maulthier und Ponny, nur mit dem
Unterschied, dass Tuan und Boxer zumeist mit einer kräftiger
gewürzten Zuthat in den Mund genommen wurden, als dies bei .der
Vierfussler-Ambrosia möglich war.
Der Tag blieb beiderseits fast ausschliesslich den Arbeiten
ui den Stellungen gewidmet, nur die russische Position wurde
lebhafter beschossen und trat dort wieder die italienische Schnell-
fcuerkanone in Action; nachmittags wurde unser braver Gruitgens
in englischer Erde zur letzten Ruhe bestattet, in der französischen
Legation gab's kein Plätzchen mehr. Um 5 Uhr erschien die «Inter-
Bätionalea in der Barricade Chamot. um eine von den Chinesen
twgonnene, von dem Hauptthor der französischen Gesandtschaft
Sber die Legation sstrasse führende Barricade in ihren Anfangen zu
vernichten; obwohl die Distanz nur 160 Meter betrug, waren doch
Srei Schüsse nothwendig, bis nach Augenmass die richtige Elevation
gefunden wurde, und dann gab's drei glatte Durchschlage, viel Staub
lad Geschrei beiden Chinesen, auch einiges Gewehrgepuffe — bei
Bonnen unter gang wurde die brave Kanone wieder ausruhen geschickt.
Darcy berief in Anbetracht der bisherigen empfindlichen Ver-
Hste des französischen Detachements seine Leute aus dem Fu
nirück; ich liess die vier Unserigen, obwohl ihre Dienste unter den
rerscbärften Anforderungen der neuen Stellung sehr willkommen
wären, auch weiter dort, weil ich Werth darauf legte,
dass das k. und k. Detachement auch auf jenem heissumstrittenen
Punkte vertreten sei.
Das Hauptereig'niss trat abends ein und überraschte aller-
dings nicht wenig-. Ein am 10. Juli ausgesendeter Chinese, ehe-
maliger Thürsteher im Nantang, kam mit einem an den englischen
Gesandten gerichteten, mit »Prinz Tsching und Änderet gefertigten
Briefe zurück. Der Mann war Soldaten und Boxern in die Hände
gefallen, zuerst misshandelt und seiner für Tientsin bestimmten
Depesche beraubt, dann aber vor Yunglu geführt und nach drei-
tägiger Internirung mit einem Schriftstück an Sir Claude zurück-
geschickt worden, das als Beginn einer hinsichtlich ihres Inhaltes
und der begleitenden Umstände ganz einzig dastehenden Corre-
spondenz werth ist, in seinem Wortlaut angeführt zu werden.
»Während der letzten zehn Tage haben Soldaten und Miliz
gekämpft und es gab zu unserer grossen Betrübniss keinen Ver-
kehr zwischen uns (Tsching und Genossen und fremden Ministem).
Vor einiger Zeit hängten wir ein unsere Absichten aus-
drückendes Placat auf, aber keine Antwort kam darauf und ent-
gegen der Erwartung erneuerten die fremden Soldaten ihre Angriffe,
was beim Volke und bei den Soldaten Beunruhigrmg und Verdacht
hervorrief.
Gestern fingen die Truppen einen Convertiten, namens Tschin-
Hu-Hsi und hörten von ihm, dass sich alle fremden Minister woh^
befänden, was uns grosse Befriedigung verschaffte. Aber das Un^
erwartete tritt ein. Die Verstärkungen der fremden Truppen wurde
längst durch Boxer aufgehalten und zur Umkehr gezwungen, un
wenn wir in Uebereinstimmung mit einer früheren Abmachun
Euere Excellenz aus der Stadt escortiren sollten, so würden wi
sehr einen Misserfolg fürchten, denn auf dem Wege nach Tientsii
und Taku stehen noch viele Boxer. — Wir ersuchen gegenwärtij
lauere Excelleiizen zuerst mit ihren Familien und den verschiedene
Mitgliedern ihrer Stäbe die Legationen zu verlassen. Wir würde;
vertrauenswürdige Officiere auswählen, um stricten Schutz zu g
währen und Sie würden einige Zeit im Tsungli-Yamen wohnen, bi
weitere Verfügungen betreffs Ihrer Rückkehr in die Heimat ge
troffen werden, um so von Anfang bis zu Ende freundliche Be
Ziehungen zu erhalten.
Aber zur Zeit, wo die Legationen verlassen werden, darf unte
keiner Bedingung auch nur ein einziger bewaffneter fremder Solda
mitgenommen werden, um Zweifel und Furcht bei den Truppe
und dem Volke zu vermeiden, was zu misslichen Ereignissen führe
könnte. Wenn Euer Excellenz Ihr Vertrauen hierein bezeige
309
wollen, bitten wir Sie, sich mit allen fremden Gesandten in Peking
in Verbindung zu setzen ; morgen mittags ist der letzte Termin,
und lassen Sie denselben Boten Ihre Antwort bringen, damit
wir im Voraus den Tag zu ihrer Escortirung aus den Legationen
festsetzen können.
Dies ist der einzige Weg zur Aufrechterhaltung von Be-
ziehungen, den wir angesichts unzähliger Schwierigkeiten ausfindig
machen konnten. Wenn zur bestimmten Zeit keine Antwort ein-
läuft, wird uns selbst unsere Zuneigung nicht mehr erlauben, Ihnen
zu helfen.«
Das masslose Erstaunen über diesen ebenso naiven wie imperti-
nenten Brief, mit dem man die Gesandten in eine doch zu lächer-
lich plump gestellte Falle zu locken versuchte, lässt sich kaum
schildern; die eindringliche Befragung des Ueberbringers, der zum
Beweise der Wahrheit seiner Angaben nur die deutlich sichtbaren
Spuren erlittener Misshandlung zu zeigen brauchte, zerstreute wohl
die erste Annahme, dass man es mit einer Mystification zu thun
haben könnte, an welcher dieser einfache Mann durch irgend ein
Interesse betheiligt sein würde. Nun war aber, ganz abgesehen
von dem Mangel jeder officiellen Form — die seitens des Tsungli-
Yamens eingehenden Noten waren stets von den Karten sämmtlicher
oder der gefertigten Minister des Yamens begleitet — und der
unbeholfenen (in der Uebersetzung möglichst getreu wiederge-
gebenen) Stilisirung, doch schon der einzige Umstand auffallend
genug, dass »Prinz Tsching und Genossen« durch Yunglu's, des
Vertreters einer antipoden Anschauung, Beihilfe mit den Fremden
in Verbindung treten wollten; hierin allein erblickte Herr von
Rosthorn die sicherste Gewähr, dass Prinz Tsching thatsächlich
nicht mit dem Verfasser des drolligen Schriftstückes identisch sein
konnte, und lehnte es daher ab, in eine Berathung über die Ant-
wort darauf einzutreten. Don Bernardo de Cologan stimmte der
Anschauung des österreichisch-ungarischen Geschäftsträgers voll-
kommen bei, dass die Schreiber des Briefes einer Antwort des ge-
sammten diplomatischen Corps nicht würdig seien, und machte nur
das eine Zugeständniss, dass es nicht unopportun sei, wenn der
englische Gesandte, an dessen Adresse ja das Ganze gerichtet war,
in unverbindlicher Form antworte. Dieser Weg wurde auch be-
treten und der Doyen der fremden Minister setzte seinen Namen
erst dann unter ein Schriftstück, als das Yamen — am 4. August —
in ganz officieller Form mit einer Enunciation hervorgetreten war.
Von meinem bescheidenen Standpunkte aus möchte ich die
Meinung aussprechen, dass der Werth der ganzen Correspondenz,
810
die fortan bis zum Entsatz mit Unbekannten gepflog-en wurde,
darin bestand, dass die Fremden aus dem, was seitens der Chinesen
nicht gesagt oder sichtlich verdreht vorgebracht wurde, und aus
den mehrfachen, auf das Phrasenbedürfniss der Gegenpartei
zurückzuführenden Widersprüchen doch mancherlei Combinationen
ziehen konnten; die erfolgreiche Fortsetzung der Vertheidigung
hingegen ist durch das halbe Parlamentiren gewiss nicht beein-
flusst worden, denn das zeitweilige Nachlassen der Chinesen in
ihren Bestrebungen, sich der Eingeschlossenen mit Gewalt zu ent-
ledigen, war eine Folge ihrer Niederlage in Tientsin und die
Wahrung des Standpunktes der Fremden an sich hätte gewiss
weniger Mühe gekostet, wenn man die Stilübungen von »Prinz
Tsching und Genossen« einfach ignorirt hätte, anstatt sich der
Sisyphusarbeit zu unterziehen, ihnen brieflichen Unterricht in den
Rudimenten des Völkerrechtes ertheilen zu wollen.
Damit im Zusammenhange will ich auch gleich an dieser
Stelle — unbeschadet der Eindrücke, die der Leser aus den an-
geführten und noch zur Sprache kommenden Thatsachen selbst
ziehen soll und wird — der in Europa nicht vereinzelt gehörten
Ansicht entgegentreten, dass die Gewalthaber in Peking es nicht
auf unsere Vernichtung, sondern bloss Einschüchterung abgesehen
hätten. Wenn noch das kaiserliche Beeret vom 21. Juni,*) welches
offen den Volkskrieg gegen die Fremden erklärt, ferners kaiser-
liche Verordnungen aus der Zeit vom 22. bis 27. Juni, mit welchen
Organisation der Boxer und Belohnung dieser wie der Soldaten für »be-
sondere in Peking geleistete Dienste« anbefohlen und die Functionäre^
und Truppen aufgefordert wurden, ihre ganze Kraft gegen den-
gemeinsamen Feind aufzubieten und keinen Augenblick zu er-
schlaffen, wenn noch diese aus chinesischer, also massgebendste^
Quelle stammenden Documente einen Zweifel über die Intention^
der Regierung offen lassen sollten, dann ist es schwer zu erkennen
was unsere Gegner Anderes hätten thun sollen, um uns zu ver
nichten, als uns mit Geschützen, Gewehren und Brandraketen
beschiessen, Feuer an unsere Stellungen zu legen, unter un^ -^
Minen zu graben und schliesslich zu versuchen uns auszuhungern ^^
Dass dies Alles fehlschlug, ist nur der inferioren Qualität chinesi m:
scher Soldateska in der Hauptstadt zuzuschreiben, und gerade de^: -
Vergleich mit Tientsin, wo die europäisch gedrillten Trapper^
Nieh's die Fremdenbesatzung — z. B. am 19. Juni — so energiscl
angriffen, obgleich letztere fünfmal so stark wie jene Pekings war
*) Den Wortlaut dieses Documcntes findet der Leser an späterer Stelle.
liefert den schlagendsten Beweis, daas die Gesandtschaften ihre
Erhaltung nur dem Ungenügen des wider sie angewendeten In-
strumentes, nicht aber vielleicht dem versteckten Wohlwollen der
massgebenden Kreise oder auch nur einer Partei verdanken. — In
diesem ersten Brief war ja auch von einem Wohlwollen, ja einer
Zuneigung die Rede, aber das Wort stand doch nur darin, um
als effeclvoller stilistischer Gegensatz die schrecklichen Folgen
erst recht hervorzuheben, die die Gesandten sich zuzuschreiben
haben würden, wenn sie auf den sinnlosen Vorschlag nicht ein-
gingen. Sir Claude redigirte eine Antwort des Inhalts, was die
Pflichten civilisirter Völker gegen Gesandte seien, und flocht darin
die Bemerkung ein, dass die Mächte dereinst gegen die pflicht-
vergessenen Träger verantwortlicher Rollen persönliche Repressalien
üben würden; die Fremden hätten sich stets nur auf die Ver-
theidigung beschränkt und würden es auch fetner so halten, die
Minister sähen jedoch gar nicht ein, warum sie im Yamen sicherer
sein sollten als in ihren Legationen, und zum Schlüsse wurde an-
geführt, daas, falls eine fernere Mittheilung erwünscht wäre, man
nur eine vertrauenswürdige Person unter weisser Flagge senden
möge. Diese Erwiderung wurde erst am 15, Juli abends, nachdem
der gestellte Termin um einen halben Tag überschritten war,
durch denselben Chinesen abgeschickt, der den ersten Brief ge-
bracht hatte und jetzt wieder seinen Weg durch das Canalgitter
nahm.
Die Mittheilüng, dass die Entsatz truppen längst von den Boxern
zur Umkehr gezwungen worden seien, konnte sich offenbar nur
auf die SeymourColonne beziehen; denn dass die himmlischen
Soldaten ein grosseres, gut gerüstetes Corps, welches die Mächte
nun doch endlich zu unserer Hilfe ausgesendet haben mussten,
aufzuhalten im Stande gewesen wären, das schien uns nach den
eigenen Erfahrungen doch ganz unglaublich. Bei der Unkenntniss
aller Vorgänge in der Aussenwelt bemächtigte sich der Ein-
geschlossenen eine ärgerliche Stimmung gegen die gewiss wieder
durch diplomatische Bedenken verschuldete Saumseligkeit und
den Mangel an Einigkeit der engagirten Staaten in einer so eminent
gemeinsamen Angelegenheit; unter solchen Umständen konnte
sich Shiba's Berechnung über die Ankunft des Entsatzes allerdings
nicht bewähren!
Glücklicherweise verhinderten die noch zu leistende Arbeit
und die Nothwendigkeit, unsere Gegner aufmerksamer denn je zu
beobachten, zu weitgehende, höchstens zu nutzloser Selbstquälerei
führende .Speculation über die Weltpolitik: wenngleich relativ
iia.iii|ri I I
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312
wenig Feuer gegen uns abgegeben wurde, so waren die Cl
doch ungemein thätig und gruben, scharrten und hämmerten
ihren Deckungen, dass es eine Art hatte.
Nach den Erfahrungen in der französischen Legation w
das allgemeine Misstrauen gegen Minenunternehmungen i
gerechtfertigt, und nachdem Mr. Wintour im Hanlin in diei
Ziehung beunruhigende Wahrnehmungen gemacht hatte, wur(
unter seiner Leitung eine Gegenmine gegen eine vom kaise
Wagenpark herkommende Mine und von Reverend Gamew<
tiefe, Ost- West laufende Tranch6e gegen eine etwa von Nord
gebaute angelegt. Als die Gegenmine nach einigen Tagen sc
zur Grenzmauer fortgeschritten war, ohne dass man auf die
liehe gestossen wäre, wurde die Arbeit unterbrochen und vor
spottlustigen Witzbold ungerechterw^eise »Wintour's FoUy« g
sie war aber durchaus kein närrischer Einfall, wie sich ns
Befreiung zeigte.*)
Die Nacht auf den 15. Juli ging ohne besondere Vo
heiten vorüber, das häufigere Schiessen der Chinesen a
Ruinen uns gegenüber kam nicht überraschend und mach
Eindruck, als suchten sie sich gegen ein Vorgehen unsei
zu sichern. Den ganzen Tag über wurde Geschützfeuer ii
westlicher Richtung gehört, das nur dem Pcitang gelten '.
also hielten sich unsere Gefährten drüben noch. Vormittags n
die Russen einen Ausfall gegen den Mongolenmarkt und zer
zwei dem Ausschusse hinderliche Häuser durch Feuer, w
den Chinesen auch die Fortsetzung eines begonnenen Laufg
unmöglich gemacht wurde.
Im Allgemeinen blieb das Feuer gegen das Legationi
ziemlich spärlich, nur bei der deutschen Gesandtschaft entw
sich vormittags ein etwas lebhafteres Gefecht, um die .
einer chinesischen An griff sbarricade zu verhindern; in u
massigen Intervallen erhielten die Häuser der französiscl:
gation und das Hotel wieder Granatfeuer.
Erst mittags wurde das Fu wieder stärker beschösse
um IV2 Uhr erfolgte auf allen Linien ein kurzer, hitziger
*) Die Chinesen hatten thatsächlich an der vermutheten SteUe eine ]
zutreiben versucht. Der Gang wurde gefunden; anstatt aber gegen Osten unter c
weiterzugraben, zogen es die angeworbenen Arbeiter, offenbar durch das Geräu
Graben der Gegenmine furchtsam gemacht, vor, gegen Südwest — also von c
sehen Gesandtschaft weg — abzubiegen. Dadurch konnten sie, ohne sich zu |
als Beweis ihres Fleisses täglich eine Menge Erde an die Oberfläche ford
beaufsichtigenden chinesischen Officier genügte das jedenfalls vollkommen. So
Wintour's Arbeit — wenn auch indirect — ihren Zweck.
313
angriff, der aber ebenso wie ein bei Sonnenuntergang gegen unsere
Stellung gerichteter resultatlos verlief. Spät abends gelang es uns mit
Hilfe einiger durch Chamot verschaffter Kulis, die Anpflanzungen um
Capelle und Fremdenpavillon so weit als nothwendig zu lichten ; natür-
lich schössen die Chinesen auf den Lärm hin äusserst lebhaft, glück-
licherweise aber wieder Alles zu hoch, und als die Sache zu bunt
wurde, commandirte KoUaf zu unserer Erleichterung einige prompt
wirkende Salven. Nun war der Ausblick wenigstens genügend
frei, aber unsere Gegner konnten den Verdacht, dass sich Jemand
anschleiche, nicht los werden und warfen in der Folge häufig
Steine gegen uns, um zu sondiren.
Nachdem die Chinesen im Fu so viel Terrain gewonnen,
hatten die dort untergebrachten Christen ausquartirt werden müssen;
sie vertheilten sich in die leer stehenden Häuser zwischen Fu
und Hotel und hinter der amerikanischen Gesandtschaft. Einige
Familien siedelten sich in der Nähe unserer Nordbarricade an und
die Männer Hessen sich von Veroudart gerne als Aushilfswachen
organisiren. Das Elend unter ihnen machte immer grössere Fort-
schritte, die wenige regelmässige, aus minderwerthigem Reis,
etwas Hirse und Kleie bestehende Nahrung, die ihnen Chamot zu-
kommen lassen konnte, suchten sie durch das Fleisch getodteter
Hunde und Katzen und — gekochtes Laub aufzubessern, bald waren
erstere aber überhaupt nicht mehr zu sehen und das Los der
Arbeitsunfähigen gestaltete sich erbarmungswürdig, da ja, dem
harten Gebot der Nothwendigkeit entsprechend, in erster Linie die
Kräfte der Arbeitenden durch verhältnissmässig reichlichere
Speisung erhalten werden mussten. Trotzdem kamen nur wenige
Diebstähle an unseren Vorräthen vor und hörten bald ganz auf,
nachdem die Uebelthäter gehörig gezüchtigt und ihnen zum Zeichen
der Entehrung die Zöpfe abgeschnitten worden waren. Das Schicksal
der Chinesenchristen war so eng mit dem der Fremden verbunden,
dass man Verrath nicht zu fürchten brauchte, und um das Ein-
schleichen von Spionen zu verhindern, konnten wir gewiss keine
besseren Wächter als solche aus ihren Reihen finden.
Die Nacht verlief, die üblichen kleinen Störungen abgerechnet,
ruhig, so auch der grösste Theil des 16. Juli; vormittags fiel
Captain Strouts auf einem Rundgange im Fu durch einen wSchuss
in die Lenden tödtlich getroffen, seine Begleiter Dr. Morrison und
Oberstlieutenant Shiba kamen ersterer mit einer Fleischwunde im
Schenkel, letzterer mit einem Loch im Rock davon. »Wie grit,
dass ich so abgemagert bin,« scherzte der unverletzt Gebliebene
später. Strouts erlag dem Blutverlust binnen zwei Stunden, sein
td^
314
Tod bedeutete nicht nur für das englische, seines Führers beraubte
Detachement einen schweren Schlag, sondern wurde von den ge-
sammten Fremden tief betrauert, denn Jedermann hatte ihn ge-
kannt und gleich als vorzüglichen Officier wie stets dienstwilligen
Gefährten hochgeschätzt. Eben als man ihn gemeinsam mit dem
tagsvorher auch im Fu verwundeten und bald darauf verschiedenen
Freiwilligen Mr. Warren zur Ruhe bestattete, überbrachte der
schon bekannte Bote unter der Parlamentärsflagge einen weiteren
Brief von »Tsching und Genossen« — gleichzeitig sausten aber auch
einige Granaten über den Trauerzug hinweg! Dieses Zusammen-
treffen war so recht charakteristisch für die nun anbrechende Zeit
— heuchlerisch süsse Worte und Feindseligkeiten in einem und
demselben Augenblick!
Dieses zweite, ebenfalls an Sir Claude Macdonald gerichtete
Schreiben stach in seiner Stilisirung wesentlich günstig gegen
das erste ab und gab nebst den schon gewohnten Betheuerungen,
dass man bestrebt sein werde geordnete Zustände zu sichern, als
Erklärung für die Zumuthung an die Gesandten, sich ins Tsungli-
Yamen zurückzuziehen, den Grund an, dass es dort leichter sein
werde, den Ministern Schutz angedeihen zu lassen als in den doch
ziemlich weit auseinander liegenden Legationen. Nachdem die
Minister das Anbot zurückwiesen, sei man genöthigt, noch mehr
Truppen zum Schutze der Gesandtschaften aufzubieten, um zu
verhindern, dass sie von der »Miliz« beschossen würden ; anderer-
seits möge man aber auch aus den Legationen zu schiessen auf-
hören, damit die allgemeine Erregung nicht ins Unbezwingbare
wachse. Weitere Briefe könnten in der im Schreiben des englischen
Gesandten angegebenen Weise ausgetauscht werden.
Diese Auslassungen unserer räthselhaften Gönner Hessen vor
Allem erkennen, dass ihr Wohlwollen doch nicht so engherzig
gewesen war, um mit dem Schlag 12 Uhr mittags des 15. Juli
und durch die Ablehnung der Einladung ins Yamen zu enden, und
dann war eine gewisse Sehnsucht nach dem Aufhören des
Schiessens von unserer Seite unverkennbar. Die am 17. Juli ab-
geschickte Antwort betonte, dass man sehr erfreut sei, dass die
chinesische Regierung um den Schutz der Legationen besorgt
sei; man möge jedoch bedenken, wie schwer es falle, unter den
Leuten, welche in der Nähe der Gesandtschaften Barricaden und
Geschützstände erbauten, die freundlich Gesinnten herauszufinden,
und deshalb diese Arbeiten ebenso wie das Schiessen verbieten,
dann erst werde gewiss auch seitens der Fremden vollige Ruhe
bewahrt werden. Zum Schlüsse geschah dann auch der Kanooeiir
Schüsse Erwähnung, welche die U eberreich ung- des Schreibens be-
gleitet hatten.
Noch in der Nacht war auf uns wie gewöhnlich geschossen
worden, am 17. Juli morgens störte jedoch kein einziger Knall
mehr die Ruhe und bald erfuhren wir, dass die Soldaten Befehl
erhalten hatten, das Feuer überhaupt einzustellen.
Trotz der schönen Briefe hätten wir das nicht für möglich
gehalten — aber bei den Deutschen waren zwei chinesische Sol-
daten ohne Gewehr, mit weissen Tüchern winkend, an die Barri-
caden gekommen und erzählten die Wundermär! Der Anlass zu
ihrer Mittheilsamkeit war freilich ein egoistischer: beide hätten
gerne ihre Wunden von europäischen Aerzten verbinden lassen
und der Eine, seinerzeit der Musikcapelle Sir Robert Hart's an-
gehörig Und dann zum Dienste in den Reihen unserer Angreifer
gepresst, zögerte keinen Augenblick, den kürzesten Weg zur Er-
füllung seines Wunsches einzuschlagen, war er doch sicher, dass
man ihm für eine so gute Neuigkeit Dank wissen würde. Beide
wurden mit verbundenen Augen in die englische Gesandtschaft
geführt, wo Dr. Velde sie verband und eine Corona von Experten
sie ausfragte; das war ihnen nicht ganz bequem und besonders
dem Ex-Mitglied des Orchesters die Begegnung mit seinem ehe-
maligen Brotherrn nicht übermässig angenehm, aber schliesslich
behandelte ihn dieser doch auch jetzt noch viel besser als der
chinesische Officier. der ihm, weil er nicht ausdauernd genug ge-
blasen, ein Ohr halb abgehauen hatte. Die beiden Gäste aus Feindes-
reihen gaben nur recht lebhaft ihre Freude über das endliche
Aufhören der so lästigen Feindseligkeiten Ausdruck, schilderten,
was für ein Hundeleben sie für 2 Taöls*) monatlich führen mussten
und dass schon viele Fing und I'ping (Soldaten und Boxer) ge-
fallen seien. Verbunden und gelabt traten sie höflichst dankend
wieder den Rückweg an, die Fremden waren doch brauchbare
Leute!
Bevor dieser kleine Zwischenfall noch bei uns bekannt ge-
worden war, hatten unsere Leute bei der Nordbarricade wieder
einen Plünderer zu fassen bekommen und Sir Robert entwand
Ihm denn auch durch geschickte Fragen einiges Neue. Nach seiner
-■Vngabe herrsche in China die reine Anarchie, kein Mensch wisse
mehr, was thun. Zwischen Taku und Tientsin. nahe letzterer Stadt,
seien die Chinesen aufs Haupt geschlagen worden und hätten
rieh nach Süden zurückgezogen, General Nieh habe Selbstmord
*) Uoeefiihr 7'2 Kronen.
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316
begangen. Unter der englischen Gesandtschaft sei eine M
graben, gegen die französische jedoch keine weitere proje
Diese Aussage hatte allerdings einige Wahrscheinlich
sich und bestärkte unsere im Stillen gehegte Annahme, (
Chinesen irgendwo eine tüchtige Schlappe erlitten hätten \
halb wieder anfingen, die Friedensschalmeien zu stimmen
sächlich trat mit diesem Tage eine Art Waffenstillstand e
ohne dass directe Abmachungen getroffen worden wären,
der Chinesen einige Tage ziemlich gewissenhaft eingehaltei
und sich erst anfangs August wieder auf dieselbe unverb
Art langsam in offene Feindseligkeiten verwandelte. Sc
aufrichtig er gemeint war und so verschieden ihn unsere
an den einzelnen Punkten auch auslegten, so brachte er u
eine nicht hoch genug zu schätzende Erleichterung, ja gan
sehen von der Erhaltung so vieler Streiter, von denen
Fortdauer der Kämpfe gewiss wieder so Mancher gefall
dienstunfähig geworden wäre, haben wir es nur dieser
der Waffenruhe zu danken, dass einige Contingente ihre B
nicht vorzeitig gänzlich erschöpften, und das blieb de
Wichtigste! Nebenher konnten wir noch unsere Positioneii
lieh ausgestalten und befestigen, auch den überanstrengte!
etwas Erholung gönnen.
Trotz der Angabe des (befangenen, welcher die Fr
gegen uns Minen gegraben werden, ausdrücklich verneii
glaubte ich doch den Capellentract gegen eine derartige
von der Strasse her, wo die Chinesen entweder im Hai
vordringen konnten oder nur die relativ kurze Distanz
Südseite der Legationsstrasse herüber zu überwinden
sichern zu sollen und ersuchte die Herren Bouillard und ]
beide Ingenieure, den Hauptcanal vom Hofe aus anstec
lassen, was sofort in Angriff genommen wurde.
Bei uns in der französischen Gesandtschaft äusserte ;
Vertrauen unserer Angreifer, dass auch wir das Feuer e:
würden, erst gegen Mittag, dann aber hatten wir alle Mü
Massenwanderung der zerlumpten Gesellen aus ihren Ba;
zu uns herüber zu verhindern ; zuerst steckten sie ihre
heraus, winkten und riefen, dann kamen sie ganz herai]
Waffen, suchten unsere Hände zu schütteln und boten ihre
einer sogar einen Pfirsich an — kurzum, sie konnten i
nicht genug thun, uns ihre Zufriedenheit mit der Wendi
Dinge zu beweisen. Die Zahl der des Chinesischen k
Herren hätte sich verzehnfachen müssen, um alle Fragei
Iriedij^eii und ihnen i^leichzeitig die Btidingunfjen einzuscliärfeii,
unter denen wir ihnen erlaubten, mit uns zu verkehren. Letzleres
einzuschränken war wohl ein Gebot der ff e wohnlichsten Vorsicht,
denn vor allem sollten sie iu ihrer für uns so glücklichen lieber-
»ehätzung' unserer Zahl nicht enttäuscht werden und die Schwäche
einzelner Punkte nicht kennen lernen, wenn sie vielleicht auch im
Augenblick gar nicht darauf ausgingen, uns auszuspähen.
Der allzeit ungestüme Pelliot bereitete uns bei diesem An-
lasse einige schwere Stunden: ehe Darcy und ich ihn daran hindern
konnten, hatte er der Einladung einiger über seine Sprachkennl-
nisse entzückter Soldaten Folge geleistet, war trotz unserer sehr
kategorischen Zurufe mit einem Satz auf der nächsten Barrlcade
und auch schon unter dem Gewühl der Chinesen verschwunden!
Eine nette Bescherung — jetzt hatten die Kerle drüben einen
lebenden Europäer unter ihren Händen und konnten nach Belieben
mit ihm ihren grausamen Spass treiben, ohne dass wir es zu ver-
hindern vermocht hätten! Fürwahr eine kritische Situation, in der
man sich rein auf die Ehrlichkeit unserer Gegner verlassen mussie.
denn jeder Versuch, mit Gewalt zu Hilfe zu kommen, hätte nur
gewisses Unheil heraufbeschworen. Einer unserer Besucher erbot
sich, dem weissen Herrn einen Zettel Darcy's mit dem stricten
Befehl zur sofortigen Rückkehr zu übergeben. Nach längerer
Zelt brachte er auch einen kleinen, chinesisch geschriebenen Brief
unsere» schon verloren Geglaubten herüber, er könne sich äugen-
318
blicklich der Höflichkeit seiner neuen Freunde nicht entziehen,
die ihm versprochen hätten, ihn binnen einer Stunde zurück-
kehren zu lassen. Man habe ihn zu General Ma geleitet und dieser
zeige sich sehr artig, wir möchten doch beruhigt sein. Wieder ging
ein Chinese mit der noch peremptorischer gehaltenen schriftlichen
Ordre an Pelliot ab, doch vergingen anderthalb Stunden, bis eine
neuerliche Mittheilung, diesmal in französischer Sprache, einlief, der
zufolge Pelliot vom General Ma in Person über den Hatamen-
Boulevard ins Tsungli-Yamen geführt worden sei, wo er eben mit
einigen »Gros ponts«*) bei Thee und Melonen über unser vor-
zügliches Befinden, die Stärke unserer Besatzung etc. das Schönste
erzähle. — Sehr gespannt wurde die Situation, als vom Westen
her Geschützfeuer ertönte und die bei uns weilenden Chinesen
misstrauisch nach dessen Bedeutung fragten. Glücklicherweise
gab der eben zu Besuch erschienene holländische Minister Herr
Knobel beruhigende Aufschlüsse; die Chinesen hätten gegenüber
der russischen Barricade eine neue aufzuwerfen begonnen und sich
auch durch Warnungen darin nicht stören lassen, so dass Raden
endlich die »Internationale« holen und hineinbrummen Hess. Diese
Auseinandersetzung genügte, um unsere Nachbarn zu beruhigen,
sie waren froh, dass die Schüsse nicht ihnen galten, mochten die
Leute drüben im Westen nur die Suppe auslöffeln, warum mussten
sie auch an einem solchen Tag der Freude Anlass zur Unzu-
friedenheit geben!
Einstweilen hatten wir Zeit genug, die chinesische Besatzung
in der französischen Legation mit unseren Bedingungen vertraut
zu machen; nie sollten mehr als zwei gleichzeitig herüberkommen,
selbstverständlich ohne Gewehre und ein weisses Tuch schwingend:
hätten sie Briefe zu übergeben, so sollten sie ebenfalls ein weisses
Tuch, bei Nacht ein Licht zeigen und Veroudart's Namen rufen
— sollte einer von ihnen schiessen oder sie sich einfallen lassen,
neue Barricaden gegen uns zu bauen, so wären wir auch nicht
mehr gebunden und würden gleich zurückschiessen. Wenn sich
mehr als zwei auf einmal zeigten, würde zur Warnung zuerst ein
Schuss über sie w^eg abgegeben, im Falle die Betreffenden nicht
umkehrten, jedoch nach diesem Aviso gleich gezieltes Feuer er-
öffnet werden. Ein Placat mit dem Wortlaut dieses Abkommens
in chinesischen Zeichen wurde dicht vor der Barricade zwischen
Ministerhaus und dem Haus Philippini aufgestellt, das die Soldaten
drüben eifrig discutirten. Leider mussten wir, durch Pelliot s
Abwesenheit gezwungen, gleich in den ersten Stunden von der
*) Familiärer Ausdruck für höhere Persönlichkeiten.
trciigen Auslegung- der ausgegebenen Regeln absehen und stilU
chweigend dulden, dass die Gegenpartei in der Mitte der nächsten
iarricadc mit der Aushebung eines Schützengrabens begann.
Endlich gegen 6'/» Uhr abends erschien Pelliot, von einer
urch einen Officier geführten Hscorte begleitet, an der neuen
hinesischen Barricade in der Legations Strasse — wir athmeten
irleichlert aufl Seine Erzählung fand, wie man sich denken kann,
tein kleines Auditorium, das ihn von Herzen zu seiner Rückkehr
)eglückwünschte. die Vorwürfe Darcy's erstarben von selbst.
'Unwillkürlich einem momentanen Impulse folgend, stieg ich
tinüber und wurde sehr freundlich aufgenommen; mein Er.stes
Ifar, nach den Leichen der zwei Verschütteten zu fragen und ein
lohes Entgelt für deren Zustandebringnng anzubieten. In der
ranzösischen Legation liegen 400 — 500 Mann, die sich ganz häuslich
angerichtet haben; von da führte man mich mit sanfter Gewalt zu
jeneral Ma und dieser brachte mich selbst nach dem Tsungli-Yamen.
Jis zum Hatamen sind alle Häuser gepfropft voll mit Soldaten,
lie sich darin verbarricadirt haben, ich schätze ihre Zahl auf
lieser Strecke allein auf 3000. Im Yamen war man sehr freundlich
aid erzählte mir, dass die Kaiserin-Witwe sich noch in der Stadt
«finde und das Tsungli-Yamen seine Geschäfte erledige. Die
'ragen nach uns habe ich dahin beantwortet, dass es uns gut
[ehe, wir auf Monate mit allem Nöthigen versorgt und in unserer
[.egation allein etliche hundert Franzosen und Oesterreicher stark
leien. In der Nordstadt herrscht das gewöhnliche Leben; ich glaube.
lass man mich absichtlich zurückhielt, um erst Yunglu's Befehle
Iber meine Person einzuholen. Die Soldaten meiner Escorte haben
Dir erklärt, dass zwischen ihnen und den Boxern Zwistigkeiten
Bisgebrochen sind,« Soweit Pelliot's Erzählungen über sein Aben-
euer, das noch am selben Abend den Gesprächsstoff der ganzen
Freradengemeinde bildete und ihm selbst wohl Zeit seines Lebens
b unauslöschlicher Erinnerung bleiben wird.
Nachmittags war wieder ein Brief von «Prinz Tsching und
Jenossen« an den englischen Gesandten eingelaufen, aus dem wir
mdlich! den richtigen Sachverhalt, wie es zu Feindseligkeiten hatte
Eommen können, erfahren sollten. Man lese und staune:
Der Zweck des Einzuges von Truppen der verschiedenen Länder in
Peking war der Schutz der Gesandtschaften, aber später strolchten
ie in den Strassen herum und schössen aus ihren Gewehren, wie
Is ihnen behagte, so dass Fälle eintraten, dass Leute verwundet
Inirden, und die Umgebung der Tschangan-Strasse wurde für den
to^^ir fast gänzlich abgesperrt. Ja noch mehr, am 2b. Tage des
320
5. Monats (21. Juni) ging zufallig ein Mandschu-Edelmann, namens
Yun, zu Hofe und hatte eben die Strasse ausserhalb des Ostthores des
Palastes erreicht, als er plötzlich einen Gewehrschuss horte und
das Geschoss das Dach seines Wagens durchbohrte. Dies er-
regte den Unwillen sowohl des Volkes als auch der Sol-
daten und führte zu gegenseitigen Angriffen.
Nun, seitdem man gegenseitig übereingekommen ist, dass
künftighin auf beiden Seiten das Feuer schweigen soll, möge
Friede und Ruhe sein, aber jetzt stehen östlich vom Tschien-men
auf der Stadtmauer fremde Soldaten, die von Zeit zu Zeit feuern
und angreifen. Wenn man die Soldaten im Zaum halten und ihnen
nicht erlauben würde, auf die Mauer zu gehen, würde es höchst
wünschenswerth sein.«
Etwas Einfaltigeres als diese Erklärung für die Entstehung
der »bedauerlichen Missverständnisse« und den treuherzigen Ton
der Aufforderung, die Stadtmauer aufzugeben, lässt sich schwer
denken — wohl aber kann man sich die allgemeine Heiterkeit
vorstellen, als das Missgeschick eines so hochedlen Herrn, wie
des Mandschu Yun, bekannt wurde ; immerhin schienen die Schreiber
sehr zu wünschen, dass Ruhe eintrete, nahmen sie doch die
Existenz eines Uebereinkommens vorweg an, das bisher noch gar
nicht näher definirt war.
Sir Claude widerlegte in einem Schreiben den Mythus durch
eine summarische Darstellung der Begebenheiten am Fu seit
19. Juni, des verrätherischen Placates vom 25. gedenkend, lehnte
die Räumung der Mauer ab, verlangte aber, Eis und Obst durch
Händler zuzulassen.
Dass die Stadtmauer den Chinesen recht begehrlich erschien,
nahm gewiss Niemanden Wunder; der dort conmiandirende chine-
sische Officier, ein Oberst vom Corps Tung-Fuhsiang's, Hess dem
englischen Gesandten am 18. morgens durch einen ehemaligen
Bahnpolizisten sagen, dass er gerne schriftliche Mittheilungen an
den Generalissimus Yunglu befördern werde, worauf Sir Claude
mit ihm bei der russisch-amerikanischen Barricade eine Zusammen-
kunft hatte. Im Verlaufe der Unterredung, welche sich um die
Bedingungen des Waffenstillstandes drehte, befestigte sich die
Ueberzeugung, dass Yunglu im Augenblick die allmächtige Persön-
lichkeit sei und um endlich zu etwas Concreterem als den halben
Versprechungen zu kommen, verlangte der englische Miiiister,
man möge doch eine officielle. verantwortliche Persönlichkeit ent-
senden, um zu verhandeln. Daraufhin erschien nadmüttags öo j
Secretär des Tsungli-Yamens, namens Wen Hsien, mit
321
führungsschreiben Yunglu's, der ausserhalb des Thores der eng-
lischen Legation von mehreren der dort versammelten Minister in
Erwartung neuer Mittheilungen und wichtiger Vorschläge sehr höflich
empfangen wurde. Thatsächlich brachte er aber gar nichts von
Wichtigkeit und hatte auch gar keine anderen Vollmachten, als
eben nur ein paar Phrasen auszutauschen. Das von ihm erneuerte
Verlangen um Räumung der Stadtmauer wurde selbstredend ab-
geschlagen, die Frage nach dem Peitang beantwortete er aus-
weichend, »er glaube nicht, dass sich dort etwas ereignet hätte«.
Eine chifFrirte Depesche des russischen Ministers übernahm er nach
einigem Zögern, doch wurde sie am folgenden Tage wieder zurück-
gestellt.
Als die Sprache auf die Lebensmittel der Fremden kam,
wurde auch ihm erklärt, dass wir genügend versehen wären, doch
gleichzeitig der Wunsch ausgesprochen, man möge Verkäufern von
Gemüse und Eis den Zutritt gestatten, w^elche Artikel wir für
Frauen, Kinder und Kranke benöthigten ; Wen Hsien getraute sich
über diesen Punkt und die gleichfalls verlangte Zusendung der
»Pekinger Zeitung« keine Zusage zu machen, sondern verschanzte
sich hinter dem gönnerhaften Gemeinplatz, er w^erde sehen, was
sich thun Hesse. »
Augenzeugen der ganzen Verhandlung berichten, dass das
Benehmen des chinesischen Emissärs sehr aufgeregt war, was man
allgemein seiner Furcht, als Geisel zurückbehalten zu werden, zu-
schrieb; späterhin erst erfuhr man, dass sein Gewissen durchaus
nicht rein gewesen und er als ernannter Chef einer Abtheilung
Boxer erhöhten Grund gehabt habe sich unsicher zu fühlen.
Alles in Allem war der Empfang des von Yunglu empfohlenen
Secretärs ein Schlag ins Wasser gewesen und Höflichkeit an einen
wenig Würdigen vergeudet worden. — Dafür brachte aber ein
anderes Ereigniss Entschädigung; am 18. Juli kam der erste Bote
von Tientsin an !
Seit fünf Wochen das allererste Lebenszeichen von aussen!
Die Nachrichten waren für den japanischen und den deutschen
Minister, sowie für Oberstlieutenant Shiba bestimmt und stammten,
am 14. Juli geschrieben, von General Fukuschima, Oberstlieutenant
Mori und den Consuln Japans und Deutschlands. Ausführlicher
wurden nur die japanischen bekannt:
»Admiral Seymour musste, von Truppen Tung - Fuhsiang's
angegriffen, umkehren, erhielt internationale Unterstützungen, rückte
^m 26. Juni in Tientsin ein. Taku-Forts am 17. Juni genommen.
20.000 Japaner sollen am 20. Juli in Taku ankommen.
Winterhaider: Kämpfe in China. 21
322
In Tientsin: 4000 Japaner, 4000 Russen, 2000 Engländer,
1500 Franzosen, 500 Deutsche, 1500 Amerikaner. Totale 13.500 Mann.«
Ein Brief des japanischen Consuls ergänzte die Angabe be-
züglich Eintreffens der Japaner dahin, dass die 20.000 Mann
zwischen 15. und 20. Juli staffelweise in Tientsin einrücken
sollten.
Herr von Below theilte aus der für ihn bestimmten Depesche
nur mit, dass am 14. Juli Tientsin von den Fremden endgiltig
genommen wurde; über bevorstehende Operationen des Entsatz-
Corps fehlte jede Andeutung.
Nun war allerdings der Umschwung in dem Gehaben unserer
Gegner vollständig erklärt, aber auch das Ausbleiben des Ent-
satzes hatte seine richtige Deutung gefunden; kein Mensch in
Peking hätte es für möglich gehalten, dass die Schicksale Tientsins
so lange unentschieden bleiben könnten, und was musste dort vor-
gegangen sein, wenn man mit 13Vt Tausend Mann noch nicht an
einen Vormarsch dachte!
Die Lage nahm, von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet,
doch wieder einen ernsteren Charakter an; wenn Tientsin uns
nichts Anderes mittheilen konnte, als dass die Chinesen erst vor
vier Tagen von dort vertrieben worden, so mussten wir uns aller-
dings noch einige Zeit in Geduld fassen. Letzteres waren wir aber
schon gewohnt und so überwog doch im Allgemeinen die Zu-
friedenheit, endlich etwas Positives zu wissen, ein Umstand, der
namentlich bei den Verhandlungen in Peking mit Yunglu oder der
nichtprotokoUirten Firma »Tsching und Genossen« einen Rückhalt
bot, wenn man sich auch wohl hütete merken zu lassen, was unsere
Nachrichten seien, bevor die Chinesen selbst vom Fall Tientsins
sprachen.
Bei uns in der französischen Legation verhielten sich die
Chinesen ruhig, blieben aber hinter den Barricaden und Hessen
uns sagen, dass sie die Leichen Pesqueur's und Bougeard's ge-
funden hätten und am folgenden Tage übergeben würden; über
das Peitang wollten sie lange nichts mittheilen, behaupteten viel-
mehr, es sei unmöglich hinzugelangen, bis sich endlich einer ver-
plapperte und verrieth, dass dort noch immer geschossen werde,
weil »die dortigen Fremden nicht um Frieden gebeten hätten«. So
also halten die Führer ihren Soldaten den unerwarteten Befehl,
die Feindseligkeiten einzustellen, mundgerecht zu machen gewussti
Nun, auf ein paar Lügen kam's ja weiter nicht an und wir wareOf
auch ohne um Gnade gefleht zu haben, ganz zufrieden, Ruhe W
geniessen. Den Dolmetschen gelang es, für schweres Geld •
Eier und Pfirsiche hereingeschrauggfelt zu erhalten, ein Neben-
erwerb, den die chinesischen Krieger namentlich an der japani-
schen Linie in ausgedehnterem Masse betrieben, bis sie strenge
Gegenbefehle erhielten; ich muss jedoch ^ur Steuer der Wahrheit
anführen, dass unter den Soldaten Yunglu's wenigstens Einer Ideen
von ritterlicher Galanterie bewies.
Mme- Pichon war mit ihrem Gemahl und einigen anderen
Damen der französischen Gesandtschaft herübergekommen, um zu
sehen, was aus ihren Häusern geworden sei. und als sie mit
ehmüthigen Blicken die Ruinen musterte, in denen nun Chinesen
lagerten, kam einer der Soldaten herübergelaufen, drückte ihr
einen kleinen Kürbis und einen Pfirsich in die Hand und lief —
jeden Dank und klingenden Lohn heftig abwehrend — eiligst wieder
hinter seine Barricade zurück! Mme. Pichen hatte den Mann nie
zuvor gesehen, seine Handlung war also gewiss ganz spontan und
eder durch Gewinnsucht noch einen Anlass zu Dankbarkeit zu
erklären.
Der deutsche Militär- Attache. Lieutenant von Loesch, hatte an
diesem Tage die Wache auf der Stadtmauer und berichtete von
dort, dass in der Chinesen-
stadt Soldaten auf Boxer
schössen — wohl bekomm's,
wenn sich unsere Wider-
sacher nun gegenseitig in den
Haaren lagen, so konnte uns
das nur freuen.
Am lÖ. Juli erfuhr un-
sere Situation eine neue,
sehr bedeutsame Aenderung
durch directe, ganz officielle,
von den Visitkarten der Mi-
nister begleitete Mitthei-
lungen des Tsungli-Yamens
an die diplomatischen Ver-
treter von Deutschland. Eng-
land, Frankreich. Russland
und den Vereinigten Staaten.
ihr Inhalt konnte aller-
dings zu denken geben; den
chinesischen Gesandten in
dtm genannten Staaten war
telegraphisch der Auftrag
W^*s»
324
ertheilt*) worden, eine Botschaft des Kaisers von China an das
betreffende Staatsoberhaupt zu übergeben, in dem Kaiser Kuangsü
um die Mithilfe zur Wiederherstellung geordneter Zustande bat.
Der Text aller dieser Depeschen an die einzelnen Vertreter
Chinas im Auslande war im Meritorischen so ziemlich identisch
und berührte specielle Fragen nur in der Absicht, die versöhn-
liche" Tendenz hervorzuheben. M. Pichon theilte uns damals nur
einen Auszug des für den Präsidenten der Republik bestimmten
Telegrammes mit, während ich hier den vollen Wortlaut nach
einer später zugänglich gewordenen officiellen Quelle folgen lasse:
»Complimente des Kaisers von China an den Präsidenten der
Republik Frankreich etc. etc.
China ist seit mehreren Jahren durch Freundschaft mit Ihrem
ehrenwerthen Lande verbunden. Alle Angelegenheiten, die sich
auf Unsere Beziehungen an der Grenze von Kwangsi und Yünnan
bezogen, sind auf dem Wege der Versöhnlichkeit besprochen und
ausgetragen worden. Zwischen Uns herrscht keine Streitigkeit.
Neuerlich, als zwischen der Bevölkerung und den Christen Feind-
seligkeiten ausbrachen, haben Rebellen aus dem Volke die Ge-
legenheit ergriffen, um sich in Plünderungen zu ergehen; das
Ergebniss davon ist gewesen, dass die fremden Nationen den Hof
verdächtigt haben, dass er seine Parteilichkeit für das Volk und
dessen Eifersucht gegen die Christen erwiesen habe. Seither fanden
der Angriff und die Einnahme der Taku-Forts statt; hierauf folgten
militärische Actionen und Unglücksfalle, w^elche die Situation umso
complicirter und gefährlicher gestalteten. Da nach Unserer Ansicht
Ihr ehrenwerthes Land unter allen den internationalen Verbindungen
Chinas die herzlichsten Beziehungen zu China hat und China heute
durch die Umstände so arg bedrängt worden ist» dass es sich den
allgemeinen Zorn zugezogen hat, ist es nicht möglich, dass Wir he\
der Ordnung dieser Schwierigkeit und Lösung dieser Complicatio"^
nicht einzig auf Ihr ehrenwerthes Land zählen.
Deshalb eröffnen Wir Uns Ihnen in aller Aufrichtigkeit, desha-T^^
legen Wir Ihnen Unsere innersten Gefühle dar und deshalb rieht
Wir mit voller Freimüthigkeit diesen Brief an Sie in der einzig-
Hoffnung, dass Sie, Herr Präsident der Republik, ein Mittel
Ordnung der Dinge finden werden und dass Sie die Initiati
zur Umgestaltung der gegenwärtigen Lage ergreifen werden.
*) Das Datum, wann diese Depeschen thatsächlich den einzelnen chinesisc'
Gesandten übergeben wurden, variirt, fallt jedoch nach den officiellen Docamenten,
der Verfasser einsehen konnte, unbedingt nach dem 14. Juli, dem Tage, wo die
von Tientsin erstürmt worden ist.
325
Wir bitten Sie zugleich die Güte zu haben, Uns eine wohl-
wollende Antwort zukommen zu lassen, die Wir nur mit äusserster
Spannung erwarten können.« *)
Die Mittheilung des Yamens an den deutschen Geschäftsträger
sprach das tiefe Bedauern über den Tod Baron Ketteler's aus,
der ungeahnterweise das Opfer von Rebellen ge-
worden sei.
Nebst diesen zweifellos aus dem Tsungli-Yamen stammenden
Briefen wurde aber gleichzeitig ein anderer, von Prinz Tsching
und Genossen an Sir Claude Macdonald gerichteter abgegeben,
der den »lebhaften Wunsch des Hofes, den Gesandtschaften zur
gegenwärtigen Gelegenheit Schutz zu gewähren«, auf eine höchst
seltsame Art zu verdeutlichen suchte. Unter Berufung auf die
hochgehende Erregung des Volkes gegen die Chinesen Christen,
welche der Thron vergebens einzudämmen versucht und die nun-
mehr einen solchen Grad erreicht hätte, dass sie nur mehr
durch die Zerstörung der Legationen in Peking besänftigt
werden könnte, wurden die Minister aufgefordert, unter
chinesischer Escorte sich zeitweilig nach Tientsin zu be-
geben; dieser Forderung hatten die Schreiber des Briefes jedoch
eine Einleitung vorangeschickt, dass in Tientsin heftig ge-
kämpft werde und es höchst rathsam wäre, dass die
Excellenz und die anderen so lange als möglich in der
Stadt verbleiben.**)
Den Schluss dieses unfasslichen, der üblichen Höflichkeits-
formel auffallenderweise ganz entbehrenden Documentes bildete
eine emphatische Erklärung, dass Prinz Tsching und Genossen an
allem weiteren Unglück nicht schuldig sein würden, sollten die
Gesandten sich entschliessen, in Peking zu bleiben.
Die crassen Widersprüche und das Fehlen der Schlusscompli-
mente machten einen recht ungünstigen Eindruck; irgendwo lauerten
also doch tückische Absichten. Man mochte die Enunciationen des
Thronesund andererseits die von Prinz Tsching und Genossen kommen-
den Worte drehen und wenden wie man wollte, so konnte doch ange-
sichts der Unentschiedenheit der Chinesen an ernste Verhandlungen
erst dann gedacht werden, wenn die Gesandten durch eigene
Truppen befreit und im Stande waren, ihren Worten Nachdruck
Zu verleihen.
•) Der Minister des Aeusseren in Paris antwortete dem chinesischen Gesandten
'V'ukeng, das Tsungli-Yamen möge sich die Antwort bei der französischen Gesandtschaft
id. Peking abholen.
**) Der zweite Passus wörtlich wiedergegeben.
326
Das Gaukelspiel — beruhigende süsse Nachrichten für die
Aussenwelt und plumpe Zweideutigkeit gegenüber den Einge-
schlossenen, die von den chinesischen Politikern wahrschemlich
noch immer wie Geiseln betrachtet wurden — äusserte sich in der
Correspondenz des 19. Juli so recht deutlich. Der Courier mit der
Nachricht von der endlichen Befreiung Tientsins war wohl recht-
zeitig gekommen, um schon an dem Detail — Tsching und Genossen
gaben vor, dass dort noch heiss gekämpft werde — die Verlogen-
heit der uns gemachten Mittheilungen zu erkennen und sich durch
sie nicht irreführen zu lassen.
Der französische Gesandte hatte ebenfalls durch das Yamen ein
chiffrirtes Telegramm aus Frankreich erhalten, dass zwei Kreuzer-
Divisionen ä drei Schiffe und vier Kanonenboote, ferners 15.000 Mann
theils schon unterwegs seien, theils unmittelbar vor dem Abgang
ständen; auch persönlich Erfreuliches war ihm vom Minister des
Auswärtigen darin mitgetheilt worden, seine Ernennung zum
Commandeur der Ehrenlegion und Nachrichten über das Wohlbefinden
seiner betagten Mutter — M. Pichon konnte also in vielfacher
Richtung Glückwünsche entgegennehmen.
Auf unserer Linie hatten wir ausser dem reichen Stoff, den
das Bekanntwerden des Inhaltes der verschiedenen Schreiben der
Unterhaltung bot,*) noch ein besonderes, allerdings nicht gerade
vertrauenerweckendes Sondererlebniss.
Nachdem die Chinesen ihr Versprechen, die Leichen der zwei
verschütteten Franzosen auszuliefern, bisher nicht gehalten hatten,
wurde ein christlicher Boy, namens Wong, der letzte aus der
österreichisch-ungarischen Gesandtschaft mitgekommene, um 4 Uhr
nachmittags mit einem Briefe an General Ma abgeschickt, um die
Herausgabe zu betreiben; unser Vertrauen in die Redlichkeit der
Chinesen, die doch zwei Tage vorher Pelliot wieder zurückge-
bracht hatten, erlitt aber einen unheilbaren Bruch, denn Wong
kehrte weder an diesem, noch an einem späteren Tage zurück und
*) Ein Gerücht circulirte, dass die amerikanische Regierung ihre von China cf"
betene Vermittlung von einer Depesche ihres Vertreters in Peking, Mr. Conger, abhängig
gemacht und das Yamen ein chiffrirtes Telegramm des amerikanischen Gesandten »'"'
Beförderung übernommen habe ; sogar dessen "Wortlaut wurde hemmenählt und b«-
gefügt, dass die Chinesen den amerikanischen ChifFreschlüssel besässen. Mr. Conger soll
telegraphirt haben: »Seit einem Monat von kaiserlichen Truppen eingeschlossen, oit
Geschütz und Gewehren beschossen ; vor Allem ausgiebige Truppenmacht »um EntsatJ
nöthig.« Ich kann leider nicht mit Bestimmtheit angeben, ob diese Depesche, wie be*
hauptet, thatsächlich am 20. Juli abgesendet worden ist; ähnliche, die Sitaation richtig
schildernde Telegramme der Gesandten gingen erst am 3. und 5. August, durch «•
Chinesen befördert, an die verschiedenen Regierungen ab.
327
schriftliche Reclamationen des französischen Ministers bei Yunglu
über den schnöden Verrath fanden keine andere Erwiderung als
die Erklärung, weder ein Bote, noch ein Brief seien im Lager
Ma's erschienen — kein Zweifel, Wong war schon früher als Christ
erkannt und umgebracht worden.
Sir Claude hielt es für gerathen, allgemein aufmerksam zu
machen, dass in der kommenden Nacht nach chinesischem Ge-
brauche das Fest der Kriegsgöttin gefeiert zu werden hätte; im
Legationsviertel wurde aber nichts Anderes bemerkbar, als eine
ferne, von 10 Uhr bis Mitternacht dauernde Kanonade, die dem
Peitang galt, und das Abfeuern blinder Patronen seitens einiger
chinesischer Wachposten.
Die Ruhe hielt weiter an und so beantworteten die Minister
am 20. Juli die die Friedensabsichten mittheilende Note mit einer
kurzen, hinhaltenden Bemerkung, dass sie über die Intentionen
der Regierung nur erfreut sein könnten, und forderten die Ab-
sendung beigeschlossener Telegramme, die jedoch diesmal noch
nicht zugestanden wurde. Der englische Gesandte verlangte in
einem neuerlichen Briefe an Prinz Tsching und Genossen Auf-
klärungen betreffs des letzten unverständlichen Schreibens und
legte nochmals Gewicht darauf, zu erklären, dass die Machthaber
sich doch nicht der Verantwortung entziehen könnten, wenn sie
das Völkerrecht so gänzlich missachteten.
Am Nachmittage erschienen, von einigen kleinen Mandarinen
geleitet, ein paar Karren mit Wassermelonen, Gurken und Eier-
pflanzen, die auf kaiserlichen Befehl »in Anbetracht des heissen
Wetters und dass die Fremden derlei Gemüse wahrscheinlich
entbehren dürften«, übergeben wurden; wir waren durch die voran-
gegangene Hungercur in unseren stolzen Principien genügend er-
schüttert, um diese Gabe anzunehmen und die edlere Regung mit
der Betrachtung zu beschwichtigen, die Politik gebiete diese Con-
cession. Dass sich eine Gegenstimme vernehmbar machte, als eine
restitutio in integrum schon unmöglich geworden, wird man auch
nicht schärfer verurtheilen. Nur jammerschade, dass nach Aussage
der Mandarine die Boxer das Eis absolut nicht hatten passiren
lassen wollen!
Die ganze Bescherung kam eben recht, um den Tag von
Lissa doch auch durch eine bescheidene Abwechslung im Menü
feiern zu können ; Chamot trieb sogar noch etwas Wein für unsere
und die französischen Matrosen auf, und da Professor Gi^^ter und
unsere zwei ersten Verwundeten, Petrovac und Bemardis, geheilt
zu uns zurückkamen, herrschte frohe Stimmung.
328
Der Göttin zu Ehren brannten unsere Gegenüber in der
Nacht wieder Schwärmer ab, gegen die Barricade Chamot auch
ein paar scharfe Patronen, da sie in dem ausgeschnittenen, von
innen beleuchteten Kürbis, den eine muntere Gesellschaft zum
Schabernack dort aufgestellt hatte, ein neues schreckliches Kriegs-
instrument vermutheten.
Der nächste Tag war ein Fest für Zeitungsleser, denn es war
gelungen, eine Menge Exemplare der »Pekinger Zeitung« herein-
zuschmuggeln, und diesmal lohnte sich die Mühe, einen Gang zum
Glockenthurm in »England« zu unternehmen, wo alle wahren und
bloss conibinirten Neuigkeiten, Alarmvorschriften, Kauf- und Ver-
kaufsanträge, Avisos über stattfindende Waschefeste, verlorene —
seltener gefundene — Gegenstände etc. durch Anschlag zur allge-
meinen Kenntniss gelangten. Die Sprach- und Schriftkundigen
konnten kaum den überreichen Stoff aufarbeiten und dann um-
lagerten dichte Schaaren Neugieriger, Tagebuch in der Hand, die
wichtige Stätte.
Wie gesagt, diesmal kam Jeder auf seine Rechnung, vielleicht
wendet sich auch der Leser nicht ganz enttäuscht einem weiteren
Abschnitt zu, wenn ich einige von den damals heiss verschlun-
genen Neuigkeiten ausführlich wiedergebe.
Vor Allem die kaiserlichen Edicte; die Nebeneinanderstellung
spricht in dem Falle wohl Bände.
21. Juni. Kriegserklärung.
»Seit der Begründung Unserer Dynastie sind die Fremden,
welche nach China kamen, mit Güte behandelt worden. In den
Regierungszeiten Tao-kuang's und Hsienfeng's wurde ihnen ge-
stattet, Handel zu treiben, und sie baten um Erlaubniss, ihre Religion
verkünden zu dürfen. Diese Bitte wurde ihnen wider Willen ge-
währt. Anfangs fügten sie sich der chinesischen Controle, aber in
den letzten 30 Jahren haben sie die Nachsicht Chinas missbraucht,
chinesisches Land besetzt, das chinesische Volk bedrückt und
China's Geld und Gut begehrt. Jedes von China gemachte
Zugeständniss steigerte ihr Vertrauen auf die Gewalt. Sie bedrängten
friedliche Bürger und insultirten die Götter und die Heiligen, wo-
durch sie den heftigsten Unwillen beim Volke hervorriefen. Davon
rührt das Niederbrennen von Capellen und Tödten von Convertiten
seitens der tapferen Patrioten her. Der Thron war eifrigst bemüht,
einen Krieg zu vermeiden, und erliess Edicte, mit denen der
Schutz der Gesandtschaften und Erbarmen mit den chinesischen
Christen anbefohlen wurde. Die Decrete, welche kundthaten, dass
die Boxer und Convertiten gleiche Kinder des Staates
wurden in der Hoffnung erlassen, den alten Zwist zwischen dem
Volke und den (^ur christlichen Religion} Bekehrten zu besfcitigen,
und die Fremden aus der weiten Ferne \\'urden mit äusserster
Liebenswürdigkeit behandelt. Aber diese Leute kannten keine
Dankbarkeit und vermehrten ihren Druck. Gestern kam Uns eine
Depesche von Du Chaylard zu, mit welcher Wir angegangen
wurden, ihnen die Taku-Forts zu übergeben, sonst würden die-
selben mit Gewalt genommen werden. Diese Drohung zeigte ihre
Aggression. In allen Sachen des internationalen Verkehres haben
Wir es ihnen gegenüber nie an Höflichkeit fehlen lassen; aber
sie, die sich selbst die civilisirten Staaten nennen, haben ohne
Rücksicht auf Recht, nur auf ihre militärische Kraft bauend, ge-
handelt. Wir haben nunmehr fast 30 Jahre regiert und das Volk
wie Unsere Kinder behandelt: das Volk verehrte Uns als seine
Gottheit. Und inmitten Unserer Regierung waren Wir die Em-
pfanger der gnädigen Gunst der Kaiserin-Witwe. Femer sind Uns
Unsere Vorfahren zu Hilfe gekommen, dieGötter haben auf Unseren
Ruf geantwortet und nie hat eine Bekundung von Loyalität und
Patriotismus so allgemein bestanden.
Mit Thränen in den Augen haben Wir an den Altären Unserer
Vorfahren den Krieg angekündigt. Es ist besser. Unser Acusserstes
zu thun und den Kampf aufzunehmen, als Uns nach Mitteln zur
Selbsterhaltung umzusehen, was ewige Ungnade nach sich ziehen
würde. Alle Unsere Beamten, hoch und niedrig, sind von einem
Gedanken beseelt und haben ohne officielle Aufforderung mehrere
hunderttausend patriotische Soldaten (Iping-Boxer) zusammen-
berufen. Sogar Kinder tragen Speere im Dienste des Vaterlandes.
Die Anderen verlassen sich auf listige Kniffe, Wir vertrauen auf
die Gerechtigkeit des Himmels. Diese hängen von Gewalt, Wir
von Humanität ab- Ganz abgesehen von der Berechtigung Unserer
, Ursache, zählen Wir 20 Provinzen mit mehr als 400,OIX).000 Be-
\vohnern und es wird nicht schwer halten, die Würde Unseres
Xandes zu rächen.« Das Edict schliesst mit der Verheissung grosser
-Belohnungen für diejenigen, welche sich in den Schlachten aus-
ÄDichnen oder Geldmittel beisteuern, und der Androhung von Be-
strafungen derjenigen, welche sich feig zeigen oderVerrath üben.
Hier war in den deutlichsten Worten das Zusammengehen
' <ier Regierung mit den Boxern und die formelle Kriegserklärung
Ausgesprochen, was gewisse sinophile Schwärmer beherzigen sollten.
Das EdicC vom 2. Juli wendete sich gegen die Convertiten,
"\iVelche gegen ihr eigenes Vaterland an Seite der Fremden kämpften
Und deshalb zu tÖdten wären: die Missionäre sollten vertrieben.
3ao
während der Reise aber beschützt werden. Hinsichtlich der
Chinesenchristen wurde verfügt, dass jene, welche abschwören
und zum alten Glauben zurückkehren wollten, mit Nachsicht
wieder aufgenommen werden könnten; man solle sie be-
strafen, brauche sie aber nicht ganz »todt zu machen«.
Das Edict vom 6. Juli schärfte den Prinzen und den Ministern,
welche Truppen commandirten und den Prinzen wie Ministern,
welche Boxer anführen, ein, das überhandnehmende Räuber-
unwesen energisch zu bekämpfen und jeden in flagranti Ertappten
sofort hinrichten zu lassen.
Das Edict vom 9. Juli brachte die Ernennung Lihung-Tschang's
zum Vicekönig von Tschili und zum Superintendenten des Handels
im Norden — das erste Zeichen, dass man anfing, an der Weis-
heit der Rathschläge Tuan's und seines Anhanges leise zu zweifeln.
Das Edict vom 12. Juli enthielt den Tadel für General Nieh-
Schih-Tscheng, der trotz seiner Bestrebungen, Gutes zu leisten,
viele Irrthümer begangen hätte, deswegen seines Ranges ent-
kleidet, jedoch im Commando belassen wurde.
Das Edict vom 15. Juli musste besonders den Beamten des
Yamens in diesem heissen Hochsommer unangenehm fallen, denn es
enthielt die Drohung, dass diejenigen, welche in solchen Zeiten, wie
leider mehrmals vorgekommen, ohne genügenden Grund Urlaub ver-
langten, zu degradiren wären ; ansonst verordnete es, bei aller Aner-
kennung des Patriotismus der echten Boxer, die Bekämpfung aller
unter diesem Namen auftretenden Räuber und Bedränger des Volkes.
Einen vollen Einblick in den Umschwung der Ideen, welchen
das Scheitern des ganzen Complotes gegen die Fremden ver-
ursacht hatte, gewährte das Edict vom 18. Juli, dessen Wortlaut
zu dem des vor kaum vier Wochen erlassenen wohl im schärfsten
Gegensatz steht und gleichzeitig erkennen lässt, wie bewandert
die chinesischen Staatsmänner in der Kunst des Vergessens und
des leichten Weggehens über fatale Thatsachen sind.
»Die gegenwärtigen Feindseligkeiten zwischen Chinesen und
Fremden sind ursprünglich aus einer Differenz zwischen dem Volke
und den Christen entstanden. Als die Taku-Forts genommen wurden,
konnten Wir nur in den Krieg eintreten. Nichtsdestoweniger ist die
Regierung nicht willens, leichtsinnig die freundlichen Beziehungen
abzubrechen, die vordem bestanden haben.
Wir haben zu wiederholtenmalen Edicte zum Schutze der
Minister der verschiedenen Länder ausgegeben und verlangt, dass
der Schutz auf die Missionäre der verschiedenen Länder au*"
gedehnt werde.
Der Kampf ist noch nicht allgemein geworden.
Esexistireii in Unseren Reichen viele Kauf leute verschiedener
Länder; sie Alle sollten gleicherweise beschützt werden.
Es wird hiemit anbefohlen, dass alle Generale und Gouverneure
sorgfaltig erheben, wo Kaufleute und Missionäre leben, und sie in
Gemässheit der früheren Verträge, ohne sich eine Sorglosigkeit zu
Schulden kommen zu lassen, beschützen. Im letzten Monat wurde
der Kanzler der japanischen Gesandtschaft getÖdtet; dies kam in
der That ganz unerxvartet. Bevor diese Angelegenheit noch er-
ledigt war. wurde der deutsche Minister getÖdtet. Der plötzliche
Eintritt dieser .AfFaire' verursachte Uns tiefen Kummer. Wir
sollten nachdrücklich nach dem Morder suchen und ihn bestrafen.
Abgesehen von den Kämpfen in Tientsin, sollten das Departe-
ment der Hauptstadt und der Generalgouverneur dieser Provinz
ihren unterstehenden Functionären befehlen, dass sie erheben,
welche Fremden ohne Ursache getÖdtet und welches Eigenthum
zer.stört worden, und dies anzeigen, damit Alles zusammen erledigt
(gutgemacht) werden möge.
Die Vagabunden, welche in diesen vielen Tagen Häuser ver-
brannten, das Volk beraubten und tödteten, haben einen chaoti-
schen Zustand herbeigeführt. Es wird hiemit anbefohlen, dass die
Generalgouverneure. Statthalter und hohen Miütärfunctionäre sich
Klarheit von den Umständen verschaEFen und vereinigen, um aus
der Verwirrung wieder zu Ordnung und Ruhe zurückzuführen
und die Ursache der Störung ausrotten.
Man veranlasse, dass alle Stellen dieses allgemeine Edict
kennen lernen!-
Nebst diesen Edicten veröfTentlichle die »Pekinger Zeitung*
auch Berichte des Vicekönigs Yülü über die Kämpfe in Tientsin.
die aber nur bis zum 26. Juni reichten und Wahrheit mit Dichtung
öfters verwechselten, wie wir später ersahen; in einem solchen
Rapporte führte der VicekÖnig auch an, dass ihm ein körperlich
und auch geistig recht fähiger Häuptling 5000 Boxer zugeführt
und er Waffen, Munition und Lebensmittel an sie vertheilt habe.
Sehr interessant las sich ein Memorandum Yuanschikkai's. um
2U motiviren, warum er keine Streitkräfte für die gute Sache nach
Tschili sendete; er habe nur 7000 Mann, die kaum zur Bewachung
der Grenzen und der Seehäfen seiner Provinz (Schantung) aus-
reichten, und solange man ihm nicht Gelegenheit gebe, mehr
Truppen anzuwerben, vermöge er weder nach Tientsin noch nach
Peking Contingente zu schicken. Ob diese Begründung seitens der
■ttHiiilillilÜii
332
wohl gleichgiltig sein, aber dass Yuanschikkai nach diesem Berichte
gewiss sich enthalten werde, activ einzugreifen, stand fest.
Der ausgesendete Chinese, welcher die Zeitungen gebracht
hatte, ergänzte das Gedruckte durch Mittheilungen über das Stadt-
gespräch. Danach hätte Tung-Fuhsiang mit der Hälfte seiner
Truppen den Fremden entgegengehen sollen, sei aber nach Süd-
westen geflohen (!); die Verluste der Chinesen in Peking betrügen
schon 3000 — 4000 Mann und den ganzen Tag nach dem g^rossen
Angriff auf die französische Legation habe man 20 Karren mit
der WegschaflFung der bei dieser Gelegenheit Gefallenen beschäftigt
Mochten die zuletzt angeführten Daten auch durch Klatsch
übertrieben worden sein, so passten sie doch recht gut in das
Gesammtbild, welches man sich aus den übrigen Informationen
zusammenstellen konnte. Dieses sah denn auch viel lichter aus
als jenes, welches einige Pessimisten in der englischen Gesandt-
schaft nach dem Eintreffen des widerspruchsvollen und unhöf-
lichen Briefes von Prinz Tsching und Genossen entwerfen zu müssen
geglaubt hatten.
Gewiss stand trotz des kaiserlichen Edictes vom 18. Juli noch
einige Zeit der Prüfung bevor, ehe der von der chinesischen
Regierung ersehnte Zustand der Ruhe und Ordnung wiederkehren
würde, aber die Sache verhielt sich doch ganz anders, seitdem
der Hof für gut befunden hatte, an eine Gutmachung des ent-
standenen Schadens zu denken; von diesem Augenblicke an hatten
die klügeren, zumeist auf ihren eigenen Vortheil bedachten Elemente
der Bevölkerung einen guten Grund, sich nicht mehr in dem, was
ein Monat vorher als Patriotismus gegolten, hervorzuthun und
ohne Aussicht auf Belohnung zu exponiren.
Was Peking anbelangte, bedurfte es keines hervorragenden
Seherblickes, um in grossen Zügen die nächste Zukunft zu er-
gründen: die Mächte würden Alles aufbieten, um in der Haupt-
stadt einzuziehen und erst dort den Frieden zu dictiren — die
(Chinesen hinwieder würden eine Besetzung Pekings durch mehr
oder weniger energischen Widerstand auf der einzigen prakti-
kablen Anmarschlinie zu verhindern trachten, doch konnte der
endliche Ausgang nicht zweifelhaft sein. Die einzige Frage betraf
den Schlussact, die Einnahme der Hauptstadt selbst; würden die
im Felde geschlagenen chinesischen Truppen sich nicht in die
Hauptstadt zurückziehen, vereint mit deren Garnison und dem
Pöbel in wilder Verzweiflung darüber, dass Alles verloren, wenig-
stens an uns Eingeschlossenen ihre Wuth auslassen und endlich
das schon mehreremalc angekündigte Massacre verüben? Klein-
müthige warfen diese Frage zuerst auf und maskirten sie mit der
steten, jedoch überflüssigen Betonung, dass man den Waffanstitl-
stand nicht intensiv genug zur Verstärkung der Stellungen
nützen könne, um den 'Coup de chien« zu pariren; aber wer die
Geschichte Chinas in den letzten 40 Jahren nur oberSächltcIi
kannte und das Verhalten unserer Angreifer in dem ersieii
Monat der Belagerung nur halbwegs aufmerksam verfolgt hatte,
der rausste sich dach sagen, dass für chinesische Truppen der
Augenblick des vollen Rückzuges nicht derjenige sein könne, wo
sie eine Energie auftreiben würden, die sie eu den ihrer Sache
günstigsten Zeiten nie zu entwickeln im Stande gewesen waren.
Dass es trotz Wassermelonen, Gurken und schönen Briefen noch
zu ernsten Angriffen kommen werde, sahen wir freilich vontus.
für alle jene, welche über Schanzen bauen, Feuerlöschen und -Scbürcai
Schiessen, Maulthierfleisch und schlaflosen Nächten doch nicht die
Gelegenheit versäumt hatten, sich ein eigenes Unheil über Taktik
und Volkscharakter der Chinesen zu bilden, für diese Autodidakten
und die sich abseits hallenden wirklichen Kenner Chinas war es
eine ausgemachte Sache, dass uns nicht ein gewaltsamer, zu eigenen
Opfern bereiter offener Angriff der Chinesen mit der blanken
Waffe erwartete, sondern höchstens die Verpflegs-, also Zeitfragb
Gefahr bringen könnte. Darin hingen wir nun froilicli ganz voß
den Entschlüssen ab, die die Führer des Entsatz-Corps zu fattü'
für gut finden und alle dringenden Ersuchen der Belagerten
Beschleunigung der Action nicht wesentlich ändern würden — •
dass das ungeduldige Warten gerade nicht zu Aeusserungen düK
Bewunderung der Schnelligkeit von unseren Befreiem hlnrial^
darf man wohl nicht weiter übelnehmen.
Den Chinesen uns gegenüber schien indessen, trotzdem aifi
nach den vielen, auf rege Arbeit hindeutenden Anzeichen dodl
genügend beschäftigt waren, sich so bequem als möglich einza-
richten, die Zeit etwas lang geworden zu sein und i^choa an
21. Juli nachmittags fielen wieder die ersten scharfen Scbüase,
glücklicherweise ohne Harm zu thun ; am folgenden Morgen sclios»
ein Posten — zu unserer grössten Freude ohne zu treffen — auf
Veroudart. der unter der weissen Flagge nach den versprochenW'
Leichen der beiden Verschütteten gefragt hatte. Trotz wiedBP-
hoher Abmahnung gruben sie an dem Laufgraben westlich dtil'
Ministerhauses und Darcy streckte mit einem Meisterschuss uioSB'
arbeitenden Mann nieder, dessen Kopf allein ab und zu »icbttu^
wurde. Die Chinesen nahmen hievon gar keine weitere Noüz, ol
war es nur ein gedungener Kuli gewesen und deren konnten
336
noch ungezählte opfern, thatens ferner auch ohne Rücksicht auf
Waffenstillstand.
Unsere Arbeit, den Canal in der Legationsstrasse anzustechen
und als Horchgrube zu benützen, war vollendet, doch war nichts
zu hören; die Gräberei drüben kam uns allen nicht geheuer vor.
aber Bouillard, Bartholin und Mathieu waren als Sachverständige
einig, dass die Entfernung von 35 Metern doch etwas zu gross sei,
als dass man auf einen Minengang rechnen müsste. Nach ihrer
Ansicht wären in diesem Falle schon Vorrichtungen für künstliche
Ventilation und ziemlich umfangreiche Verzimmerungen nothwendig
gewesen ; nun ich nahm mir vor, die Sache weiter zu überlegen und
einstweilen unsere bezopften Nachbarn schärfer zu beobachten.
Nach längerer Zeit hatte den Chinesen scheinbar doch etwas
gedämmert, dass das Canalgitter als Ausgang benützt werden
könnte, und sie errichteten in der Chinesenstadt jenseits des die
Stadtmauer umgebenden Grabens eine starke Deckung, von der
aus sie den Durchschlupf bewachten und beschossen. Ein Bote,
den der japanische Gesandte Baron Nischi am Morgen ausge-
sendet hatte, kam aber trotzdem durch; Baron Nischi besuchte
uns nachmittags und theilte uns mit, dass einer der soldatischen
Eierhändler, mit denen Shiba schon öfters gesprochen, heute end-
lich sein Versprechen, Nachrichten zu liefern, eingelöst und gegen
25 Dollars Entlohnung erzählt habe, dass die Entsatztruppen schon
am 20. Juli in Yangtsun gewesen seien. »Trotzdem habe ich an
unseren General die Aufforderung gerichtet, den Vormarsch zu
beschleunigen«, schloss unser Besuch seine Rede; das war doch
eine frohe Botschaft — die Befreiungscolonne nicht einmal mehr
100 Kilometer von uns!
Während des Waffenstillstandes fand ich Zeit, fast täglich
nach »England« zu gehen, um nach unseren Verwundeten zu sehen,
am Glockenthurm Neuigkeiten zu lesen und — einen Trunk frischen
Wassers zu thun, denn der dortige Brunnen war einer der wenigen,
wo man solches ohne Schaden für die Gesundheit riskiren konnte.
Die nächste Umgebung der Gesandtschaft an der Canalseite durch-
lief jeder, so schnell ihn seine Beine trugen, denn sie diente als
Ablagerungsstätte für Kehricht und Abfalle, wo es trotz mehr-
maliger Reinigung des Platzes durch Verbrennen all des Zeuges
doch immer widerlicher roch; innerhalb der Mauern hingegen
herrschte dank den Bemühungen der verschiedenen Comit^s ein
(xrad systematischer Ordnung und ' Nettigkeit, der bei dem von
einem vorgeschobenen Posten Kommenden immer den Eindruck
hervorrief, wie der Uebergang von unwirthlichem Gebirge in öt**
irg^griWnrr uiil*>irdiKl»r Cinil
338
Stadt. Eine solche war's ja auch im Kleinen, die Eintheilung in
Viertel ersetzt durch eine solche nach Nationen, deren jede aller-
dings nur ein Haus zugewiesen hatte, Tafeln und Aufschriften
überall, alle Stände und Berufsarten vertreten, gemischt und doch
wieder gesondert, wie es ja in jeder Stadt zu gehen pflegt; hier
concentrirte sich Alles oder wenigstens suchten die Einwohner so
zu thun. Bei der Uebervölkerung waren manche Familienbande zer-
schnitten, Frauen und Kinder von den in anderen Stuben zusammen-
gedrängten Gatten und Vätern getrennt worden ; natürlich strebte
dann Alles, sich im Freien zusammenzufinden ; die Zimmer, deren
Fenster mit Erdsäcken verrammelt waren, hielten Niemanden länger
als unumgänglich nothwendig zurück, war die Zahl ihrer Be-
wohner doch schon mindestens auf das Fünf- bis Sechsfache des
Normalen gestiegen. Und welcher Luxus wurde dort getrieben;
fast alle diese glücklichen Besitzenden verfügten über mehrere
Anzüge, Wäsche und Schuhe, mehr als ausreichend für regel-
mässigen Wechsel und Sonntagsstaat; da gab's Bücher, bequeme
Stühle, Fächer und so viel Anderes, das uns als Inbegriff des
Comforts erschien — freilich auch schon abgenützt, abgegriffen
und mehrfach nachgebessert, aber trotzdem ein Ueberfluss! —
Der erste Gang galt stets den Verwundeten ; in Boyneburg's blasse
Wangen begannen, nachdem er eine schwere Operation überstanden,
Jugendkraft und die kräftigen Gerichte, mit denen Mrs. Squiers
die Insassen der Officiersabtheilung zu überraschen pflegte, wieder
einen Schimmer von Röthe zu treiben, der einäugige Triscoli ver-
fehlte nie, mir für seine Kameraden Grüsse und die Empfehlung
aufzutragen, sie möchten nur ja gut schiessen, und vergass darüber
die Sorge um eine Zukunft als Invalide. Der baumlange Baöic ver-
mochte bald wieder, wenn auch noch auf einen Stock gebückt,
herumzukriechen und freute sich wie ein Kind, wenn ich ihm nach
Rücksprache mit Dr. Velde sagen durfte, dass er gewiss noch
öfter Kolo tanzen werde ! Dr. Velde, der meistbeschäftigte, auf-
opferndste Arzt, war aber auch ein Hort der Zuversicht für alle
seine Patienten, denen er wie ein alter Freund in allen Dingen
an die Hand ging ; trotz aufreibender Thätigkeit in seinem Beruf
fand er doch noch Zeit, sich über Alles auf dem Laufenden 2^
erhalten, und seine gleichmässig heitere, ruhige Art Hess ihn ttiit
wenigen Worten die Ereignisse stets so richtig und treffend be-
urtheilen, als stünde seine eigene Person dabei nicht im Geringsten
mit auf dem Spiele.
Sein Geist durchzog das ganze, dem Samariterthum geweihte
Haus, die Krankenschwestern, Missionärinnen und die 1
welche ohne anderen Anreiz, als das Bedürfniss mitzuhelfen, das
I schwere Amt zu pflegen und zu trösten auf sich genommen hatten,
I waren seinem Vorbild gefolgt und leisteten still wie er die segens-
I reichsten Dienste; viel Leid und Elend gab's zu lindern und wenn
auch so mancher Todwunde trotz aller Pflege dahinschied, so er-
lahmten diese gütigen Hände doch keinen Augenblick, so viele
Andere verdanken ihnen wiedererlangte Kraft und Gesundheit.
' Frau und Fräulein von Giers, Miss Myer, Miss Brazier und einige
' japanische Damen waren wie Mrs. Squiers fast beständig im und
um das Hospital, das, glücklicherweise durch seine Lage und einige
mächtige Bäume geschützt, von feindlichen Geschossen fast ganz
unberührt blieb.*)
Draussen herrschte reges Leben. Kinder spielten an den ge-
schützten Plätzen, unbekümmert um die Sorgen der Erwachsenen,
aber ihren bleichen, eingefallenen Wangen sah man nur zu deutlich
die Einengung, den Mangel an frischer Nahrung und schliesslich,
I wie die von Mosquitostichen herrührenden Beulen andeuteten,
auch den Mangel an ungestörtem Schlaf an, das Opfer der Fliegen-
netze zu Gunsten der Verwundeten war ihr thätiger Beitrag zum
allgemeinen Werke; die Erwachsenen gingen ihren Pflichten oder
I solche, welche keine besonderen hatten, ihren kleinen, selbstge-
I wählten Beschäftigungen nach. Skizzen- und Tagebücher blühten
I bei der nun eingetretenen Stille und ein reger Meinungsaustausch
leg^e den Grundstein zu dem mitunter phantastischen Gebäude
mündlicher Ueberlieferung, dessen ungreifbare Grundlagen gleich-
wohl manchem späteren Ansturm mit dem Widder erwiesener
Thatsachen so zähe standhielten.
Dort, zwischen dem Glockenthurm und der von Junggesellen
bewohnten Tingah,**) dem Vorhof zum eigentlichen Ministerhaus,
' War für Beobachter der lohnendste Platz, dort wurde Alles zum
Heiligthum Sir Claude's Gehende oder von ihm Kommende über-
hört und commentirt, dort gaben trotz der Nähe des censurirenden,
Unter Vorsitz des Reverend Tewksbury tagenden »general com-
I mittee« die aus eigener Machtvollkommenheit emporgewachsenen
s^Vortführer die Parole aus, nicht wie das oder jenes werden sollte,
|sondern wie jenes und dieses sich zugetragen haben musste. Die
; im Thurra, die son.'^t nur bei Feuersgefahr oder um alle
Reserven auf den Kampfplatz zu berufen ertönt halte, schwieg
Btzt längere Zeit; dafür war man auf den wahrlich guten Ge-
♦) So »icl mir bekanul, schlugen nur swei Gewehrprojoctile in der Nacht vom
''«f den 13. August in etu glücklicher weise eben leet steheades Zimmer eiu-
> deit Seilen olTenE ^uleahalle.
22«
340
danken gekommen, in der Abendkühle internationale Vocalconcerte
zu improvisiren, in denen Mme. Pokotilow als unerreichbarer Star
brillirte, doch wiederholten sich diese aufheiternden Vereinigungen
nur wenigemale und kenne ich sie nur aus den Erzählungen meiner
Freunde. Erst zu jener Zeit lernten wir eine weitere Landsmännin,
Fräulein Bergauer, kennen, die, ursprünglich dem Hauswesen der
Baronin Anthouard vorstehend, sich ebenfalls in die englische Ge-
sandtschaft hatte zurückziehen müssen und nun in dem kleinen
Hause, das den französischen Familien eingeräumt w^orden war,
ihre stille, fürsorgliche Thätigkeit fortsetzte.
Zu welcher Stunde immer man kommen wollte, war man doch
sicher, den Reverend Gamewell, der sich bei den Befestigungs-
arbeiten als Genie erwiesen hatte, alsbald auf seinem Rad einher-
sausen zu sehen, gleich darauf verschwand er wieder, von einigen
mit Werkzeugen beladenen Kulis gefolgt; die spätere Nachmit-
tagsstunde gehörte dem »Commissariat«, d. i. Captain Wray und
Mr. Brazier, die in einem Zelte Rationen vertheilten, wobei es
trotz besten Willens natürlich nicht ohne unberücksichtigte Wünsche
und Beschwerden abging.
Der grosse Tennisplatz in der Mitte des ganzen Complexes
wurde auch in diesen stilleren Tagen nicht mehr betreten, denn
dorthin hatten sich früher mehr Chinesenkugeln verirrt, als gerade
wünschenswerth — er blieb gemieden und verödet, hingegen ent-
wickelte sich an der Westseite ein ganz regelrechter Corso, wo
neben ernsten Discussionen über Chinesen, Entsatz und Politik im
Allgemeinen auch unschuldiger Flirt der jungen Leute nicht
fehlte ; wie hätten denn auch die langen Tage und Wochen sonst
verbracht werden sollen !
Sobald die Feuerschlünde zu schweigen begonnen, hatte der
Wunsch, die denkwürdige Episode in Erz zu verewigen, einige
künstlerisch veranlagte Personen veranlasst, mehrere Entwürfe zu
einer internationalen Erinnerungs-Medaille zu zeichnen, so dass auch
die bildende Kunst zu ihrem Rechte kam; leider konnte sich die
Jury über das Spectrum des Bandes nicht einigen!
Aber auch unverbesserliche Geschäftsleute gab's da drüben,
die nicht umsonst vorsichtig gewesen sein wollten; ein Schwein
wurde um 150 Taöls und eine Schachtel Cigaretten um 22 Dollars
verhandelt und um Wetten einzugehen, boten diese 2^iten doch
die schönste Gelegenheit.
Stets traf man dort wieder Jemanden, den man in der Nacht
auf einer Barricade oder bei einer sonstigen Unternehmung Uö
weit zurückliegenden Juni vielleicht kennen gelernt, aber v*
341
dieser gerne wiedergefundenen Bekannten trugen einen Arm in
der Binde oder, was noch häufiger, einen Verband um den Kopf,
aus dem ein Paar tiefliegender Augen von eben überstandenem
Leiden sprach, noch immer besser, als seinen Namen von einem
der unscheinbaren Kreuze auf dem kleinen Friedhof im südlichsten
Hofe ablesen zu müssen!
Baronin Ketteier sah ich einigemale dort, begleitet von
Mrs. Squiers suchte sie den einsamen Winkel gerne auf; für sie war
die um den 20. Juli erfolgte Mittheilung, dass das Yamen den
Leichnam des deutschen Gesandten in einem Sarge an einem sicheren
Ort habe verwahren lassen, nur die grausame Zerstörung der mit
einem Wunderglauben festgehaltenen Hofi"nung gewesen, ihr Ge-
mahl sei nur schwer verwundet, doch noch am Leben. Solcher
treuer Zuversicht ist doch nur das Herz eines Weibes fähig —
beugen wir uns bewundernd vor ihr!
Einige Tage hindurch war man um das Schicksal des geistes-
gestörten, norwegischen Missionärs Noestigaard sehr besorgt ge-
wesen, der sich über die Linien der Fremden hinausgeschlichen
hatte ; über schriftliche Anfrage bei Yunglu wurde er am 29. Juli
von den Chinesen wieder heil ausgeliefert. Diese, wie die meisten
Orientalen, sind gewohnt, einen Irrsinnigen als ein von Geistern
beeinflusstes Wesen zu respectiren, mochten es aber mit der Zeit
nicht ganz bequem gefunden haben, den Unglücklichen in ihrer
Mitte zu erhalten, da seine Krankheit sich in Streitsucht äusserte;
ob sie durch Noestigaard, der chinesisch vollkommen sprach, irgend
welche Aufschlüsse über unsere Situation bekommen haben, steht
dahin, doch spricht einige Wahrscheinlichkeit dafür. Seine spätere
Ueberwachung, um ihn von einem neuerlichen Fluchtversuch ab-
zuhalten, war keine kleine Aufgabe.
Mehr Erholung als die Gänge in die englische Gesandtschaft,
wo sich trotz äusserer Ordnung und bunteren Lebens doch fühlbar
im »Räume hart die Gegensätze stiessen«, ja vielmehr die einzige
wirkliche Erholung gewährten die Besuche bei unseren liebens-
würdigen Nachbarn in »Deutschland«. Die meiste Dienerschaft war
dort treu geblieben und so konnten die Herren, vor Allem Bergen
als sorgsame Hausmutter, das einzige halbwegs von Geschützfeuer
verschont gebliebene Ministerhaus und ein kleines Stück Garten
tadellos wohnlich und in gutem Stande erhalten. Der herzlich ge-
botenen Gastfreundschaft verdankten wir so manche in sympathi-
schem Gedankenaustausch verflogene fröhliche Stunde und auf
dem kleinen Rasenplatz im Schatten eines mächtigen Baumes
fühlte man sich trotz des Ausblickes auf die nahe Stadtmauer bei-
342
nahe so frisch wie in einem heimatlichen Walde. Die Wohlthat
dieses klimatischen Curortes en miniature äusserte sich am besten
in der Genesung des der Erschöpfung nahe gewesenen Kindes
eines französischen Eisenbahn-Ingenieurs, der mit seiner Familie
bei Chamot einen Unterschlupf gefunden hatte; Herr von Below
hatte der verzweifelnden Mutter die Benützung des Gartens an-
getragen und seither erholte sich die blasse Kleine zusehends.
Auch die Boten von Prinz Tsching und Genossen, alias Yunglu
oder Yamen fühlten sich jedesmal erleichtert, wenn sie glücklich
bei den deutschen Posten hereingelassen worden waren, und er-
zählten dann gerne Dr. Merklinghans kleine Neuigkeiten, die uns
dieser wieder frisch zum Besten gab; viel Abwechslung brachten
sie zwar nicht, diese Sendlinge der Häupter Chinas, denn meistens
wussten sie nur zu sagen, wie gefährlich ihr Weg aus dem Yamen
her gewesen und wie rohe, ungebildete Gesellen die Boxer und
der grösste Theil der Truppen doch wären, die nicht einmal ihr
Amtskleid respectiren und sogar vom Yamen selber nichts wissen
wollten.
In diesen ruhigeren Zeiten hatten auch wir in der franzosi-
schen Gesandtschaft vielerlei Besuch; man kam sich die Ver-
wüstungen, die nirgends so arg wie bei uns waren, anzusehen und
von den vielen bewundernden und unsere Lage bedauernden
Stimmen könnte ich manche charakteristische Aussprüche von
Personen aller Stände, darunter auch gerade englischen Officieren
anführen, will mich aber nur auf den Ausruf einiger amerikani-
scher Soldaten beschränken, die rundweg erklärten: »Dachten
bisher immer, unser Platz sei bös genug, aber der hier ist die
Hölle» — die zugehörige Würze von »verdammt« und »blutig« ab-
gezogen. Einer unserer häufigsten Besucher war der spanische
Minister, dessen persönliche Würde unter den Entbehrungen erst
recht zur Geltung kam; stets zuversichtlich und energisch konnte
er die Aengstlichkeit mancher Leute nicht begreifen und benützte
die vielen Mussestunden, um eine »valse de boxeurs« zu componiren,
deren Erstaufführung vor dem musikalischen RichtercoUegium
Frau von Rosthorn, Below und Bergen in der deutschen Gesandt-
schaft einen vollen Erfolg erzielte. Dass M. Pichon nun noch öfter
auf seinen Boden herüberkam, als zur Zeit, wo er jedesmal dem
Kugelregen trotzte, versteht sich von selbst; dankbar gedenken
wir seiner stets gleichen Liebenswürdigkeit und Bemühungen, uns
diese oder jene kleine Ueberraschung zu bereiten. Einmal entgifl?
er, in der Barricade Chamot stehend, nur um ein Haar dem Schicksal»
von einem' der Sniper getroffen zu werden.
Mit dem officiellen Chinesenthum gab's bis zum 25. Juli nur
feinen belanglosen, sehr kurzen Schriftwechsel über den seit Abgang
mit einem Brief an Tsching und Genossen ganz verschwundenen
Ex-Thürsteher des Nantang, der aber von ihnen als »noch am
Leben* gemeldet wurde.
Den 23. Juli tagsüber bauten die Chinesen vom Thorgebäude
BUS eine neueBamcade zu den Ministerhausem. sowie eine weitere
Im Inneren des Hauses Philippini und liesspn sich darin auch durch
die Schüsse unserer Posten, welche ein paar der drüben Arbeitenden
tödteten, nicht weiter stören, hinderten auch uns nicht, eine neue
Barricade vom Hause Anthouard zur Capelle hinüber zu errichten
und den Musikpavillon mit einer Brustwehr zu versehen, welche
Stellung die Franzosen besetzten. An Tagesneuigkeiten war das
Gespräch eines chinesischen Soldaten mit einem der russischen
Dolmetsche auf der Stadtmauer und ein Brief Yunglu's an M. Pichon
zu verzeichnen. Aus dem ersteren ging hervor, dass viel Militär
nach Süden abgezogen sei, was mit unserer Beobachtung nächt-
licher Troropetensignale ausserhalb der Stadtmauer ziemlich gut
stimmte; weniger Glauben fand die Angabe desselben Gewährs-
mannes, dass die chinesische Besatzung des Tschien-men auf 4Ü Mann
reducirt sei. Der Brief an den französischen Gesandten behandelte
das Verschwinden unseres Boten und zeigte an, dass die Leichen
Pesqueurs und Bougeards nicht gefunden worden seien; auch war
daraus zu entnehmen, dass Tung-Fuhsiang noch immer in der Stadt
weilte, da sich Yunglu auf ihn berief.
In der Nacht gaben die chinesischen Posten, ob aus Furcht
vor Gespenstern oder Ueberfällen unsererseits oder aus beiden
Ursachen, wieder einige zwecklose Schüsse ab, auch blieben sie
ihrer Gewohnheit, mit Steinwürfen gegen uns zu sondiren, treu;
vor Mittemacht konnte man .wieder deutlich Geschütz- und Gewehr-
feuer gegen das Peitang hören, das beste Zeichen, dass die von
pna getrennten Leidensgefährten noch aushtelten.
Gegen Morgen mussten unsere ehrenwerthen Gegner grosses
Schlachtfest abgehalten haben, denn das Geschrei und Grunzen
in Todesnöthen schwebender Schweine drang durch die Stille
herüber und wir Barbaren hätten nur zu gerne einen Theil von
den Opfern gehabt, die dort verbluteten; es hat aber den Anschein,
dass der Massenmord nur deshalb stattfand, um den nach dem
Bericht unserer Spione eben aus dem Schansi eingerückten Truppen
Li-Ping-Hengs einen Willkommenschmaus zu bieten.
Sir Claude versandte am 24. Juli morgens an die Detache-
S-Commandanten ein Circular, dass die Garnison Pekings be-
trächtlich verstärkt worden und daher voraussichtlich noch am
selben oder am nächsten Tage ein Angriff zu gewärtigen sei.
Der freigebige Volksmund Hess diesen Zuwachs aus 10.000 Mann
und 20 Geschützen bestehen, gegen Abend waren es nur l
beiläufig die Hälfte. Grosses Aufsehen erregte ein Brief SliiJ*'
an den englischen Gesandten:
■Heute nachmittags kam ein chinesischer Soldat lur Barricw'
■ und thcUle mit, dass Yangtsun am 17. Juli von den
345
Truppen besetzt wurde und am 19. nächst diesem Orte eine Schlacht
stattfand. Circa 150 verwundete Soldaten Tung-Fuhsiang's sind
eben heute nach Peking gebracht worden und die fremden Truppen
befanden sich 40 Li (20 Kilometer) herwärts von Yangtsun, als
jene Verwundeten aufbrachen. Ich hoffe, diese Nachricht ist wahr.
Ein anderer Mann sagt, ungefähr 4800 chinesische Soldaten
mit 9 Geschützen sind heute früh beim Tschang*Y-men angekommen,
man nimmt an, dass sie uns heute nachts überfallen.«
Beruhten die Nachrichten Shiba's auf Wahrheit, so kamen
überhaupt nur mehr die zwei Punkte Tschang-tschia-wan und
Tung-tschau auf der ganzen Route nach Peking in Betracht, wo
die Chinesen ernsteren Widerstand leisten konnten, und durfte
man den Entsatz binnen vier Tagen vor den Thoren anlangen zu
sehen hoffen. Gegenüber dieser Perspective bedeutete die Ver-
stärkung der Reihen unserer Angreifer wohl nichts, schlechtesten-
falls waren letztere dadurch ebenso stark als vor dem 17. Juli,
denn dass seither Truppen aus der Stadt gegen Süden dirigirt
worden waren, unterlag keinem Zweifel; also wieder ein froher
Tag, für uns noch umsomehr, als es Herrn Wihlfahrt endlich doch
gelang, definitiv als Freiwilliger zu uns zu kommen, bei denen er
bisher den weitaus grössten Theil seiner freien Stunden zugebracht
hatte. Sir Claude hatte von mir für alle Fälle einen Geschütz-
führer für unsere in »England« stehende Mitrailleuse gegen Ersatz
verlangt und da fügte sich's ganz gut, dass unser braver Lands-
mann, auf dessen Dienste man in der englischen Gesandtschaft
nur ungern verzichtete, den erwünschten Platz in unseren Reihen
erhielt. Nun hatten wir doch auch einen mit chinesischen Dingen
vertrauten Oesterreicher mehr und einen kaltblütigen, ausge-
zeichneten Schützen dazu!
Bei der deutschen Gesandtschaft, wo sich die Chinesen seit
dem 17. absolut ruhig verhielten, wurde durch die Boten des
Yamens bekannt, dass die von aussen angekommenen Truppen that-
sächlich von Li-Ping-Heng*) hereingeführt worden sind ; die Person
des letzteren passte allerdings nicht zu den neueren friedlichen
Absichten der Regierung.
Die Nacht zum 25. Juli brachte zum erstenmale wieder
einiges lebhaftes Gewehrfeuer von kurzer Dauer, das, im Norden
begfinnend, sich bald auf alle Punkte, ausgenommen die deutsche
Gesandtschaft, ausdehnte und bei uns hauptsächlich gegen die
französische Tranchee gerichtet war; wenn es auf Rechnung der
*) Ehemaliger Gouverneur von Setschuen, durch seinen fanatischen Fremdenhass
^^ekannt.
346
Neuankömmlinge gesetzt zu werden hatte, so machte es deren
kriegerischer Geschicklichkeit nicht allzu viel Ehre, denn an Ziel-
und Regellosigkeit unterschied es sich in gar nichts von den
Leistungen dei Vorgänger und wurde auch keiner Erwiderung
gewürdigt — der befürchtete Ueberfall war somit wieder aus-
geblieben.
Sir Claude verfehlte natürlich nicht, über diesen Bruch des
Waffenstillstandes bei Yunglu schriftliche Beschwerde zu führen.
— Der Tag verging ziemlich still, bis Shiba's Spion die Stunde zur
Ausgabe seines Bulletins gekommen hielt: »Am 23. bei Tsai-Tsun
circa 15 Kilometer nördlich von Yangtsun Gefecht, Rückzug der
Chinesen.« Die Sache klappte, verglichen mit der Nachricht des
Vortages, zwar um 5 Kilometer nicht, aber wie konnte man von
einem einfachen Manne auch eine so haarscharfe Unterscheidung
verlangen!
Nachmittags erschienen wieder drei rothe Briefe von Prinz
Tsching und Genossen für Sir Claude. Der erste enthielt eine
telegraphische Anfrage des englischen Generalconsuls in Shanghai
an das Tsungli-Yamen nach dem Befinden des Gesandten, der
zweite die unverschämte Aufforderung, die Minister möchten ohne
Chiflfreschlüssel ihr und ihrer Familien Wohlbefinden nach Hause
telegraphiren, und der dritte die- erneuerte Einladung, sich nach
Tientsin zu begeben.
Aus allen dreien, die zur Beruhigung susceptibler Leser
diesmal mit den üblichen Complimenten schlössen, ging hervor,
dass Tsungli-Yamen und Prinz Tsching und Genossen, wenn nicht
identisch, so doch gerne gegenseitig die Masken tauschten, jeden-
falls aber kein Geheimniss vor einander kannten. Ich glaube auch
den Wortlaut der zwei letzteren dem Leser nicht vorenthalten
zu sollen, denn die Mühe, sie zu lesen, dürfte sich von selbst
belohnen.
»Während des letzten Monats und länger waren mili-
tärische Angelegenheiten sehr dringend (standen im Vorder-
grund). Euer Excellenz und die anderen fremden Minister
müssten doch nach Hause telegraphiren, dass ihre
Familien wohlauf sind, um Besorgnisse zu zerstreuen,
•
aber im gegenwärtigen Augenblick sind die kriegef^'
sehen Operationen noch nicht zu Ende und die Tele-
gramme der Gesandtschaften müssen ganz in claris g^'
halten sein, feststellen, dass Alles wohl ist, ohne xnih*
tärische Angelegenheiten zu erwähnen. Unter diesen
Bedingungen kann das Yamen sie befördern.
347
Die Schreiber bitten Euer Excellenz, dies den verschiedenen
fremden Ministern mitzutheilen.«
Der Leser dürfte bei diesem Absatz denselben kräftigen
Ausruf — vielleicht um eine Nuance milder — thun wie Don
Bernardo de Cologan, als er uns diese neueste Ueberraschung
mittheilte. Der dritte Brief war ein Meisterstück chinesischer
Reim- und Leimkunst; er bezog sich auf die Antwort Sir Claude's
auf den famosen Brief ohne Complimente, der in einem Athem die
Abreise nach Tientsin an- und abrieth.
»Wir haben Ihre Antwort erhalten, die feststellt, dass in unserem
Briefe einige Punkte durchaus nicht klar waren. Wir schlagen
jetzt vor, unsere Meinung in allen Einzelnheiten zu erklären.
Vom Ersten bis zum Letzten haben wir den Schutz der Le-
gationen niemals vernachlässigt, aber zufolge der Thatsache, dass
die Zahl ordnungsfeindlicher Charaktere (Individuen) täglich zu-
nahm, waren wir sehr besorgt, dass sich irgend etwas zu plötzlich,
als dass man sich dagegen verwahren könnte, ereignen und ein
grosses Unglück (Calamität) hervorrufen würde. Dies der Grund,
warum -wir den Rath erneuerten, sich zeitweilig zurückzuziehen.
Was die Nachfrage danach betrifft, welcher Unterschied be-
steht zwischen der Gewährung von Schutz in der Stadt und unter-
wegs und warum es nicht möglich ist, ihn im ersteren Falle zu
gew^ähren, während er im letzteren gegeben werden kann, so be-
steht hierin nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn der Aufent-
halt in der Stadt ist beständig, der Aufenthalt unterwegs (auf der
Route) ist vorübergehend. Wenn alle fremden Minister willens
sind, sich zeitweilig zurückzuziehen, so würden wir die Route nach
Tung-tschau und von dort flussabwärts per Boot nach Tientsin
vorschlagen, welch letzteres in nur zwei Tagen erreicht werden
könnte. Ohne Rücksicht, welche Schwierigkeiten existiren könnten,
würde eine angemessene Macht entsendet werden, die Hälfte zu
Wasser al's Escorte im engeren Sinne, die Hälfte auf der Strasse,
um so auf eine Entfernung von beiden Ufern Alles sicher zu er-
halten. Nachdem dies bloss eine beschränkte Zeit dauern würde,
ist es möglich zu garantiren, dass ein Misserfolg nicht eintritt.
Anders verhält sich's mit einem ständigen Aufenthalt in Peking,
denn in diesem Falle ist es unmöglich vorherzusagen, wann ein
Unglück (Disaster) eintreten mag. Gleichgiltig, ob bei Tag oder
bei Nacht, mag eine einzige Stunde oder ein einziger Augenblick
des Nachlassens in der Wachsamkeit keine Zeit mehr übrig lassen,
um eine plötzliche Gefahr zu verhüten. Dies kann leicht ver-
standen werden und dadurch ist keine Ungereimtheit bedingt.
348
Der Brief, dessen Empfang wir bestätigen, stellt fest, dass der
ununterbrochene Aufenthalt der fremden Minister in Peking die
Wiederherstellung des Friedens erleichtert, was dem allgemeinen
Wunsche entspricht, und dass, wenn sie (die Minister) die Hauptstadt
verlassen würden, es viel länger dauern würde, die freundlichen
Beziehungen wieder aufzurichten. Diese Bemerkung zeigt, dass Euer
Excellenz sich nicht ungerne der Freundschaft erinnern, die bisher
existirte. China hat sicherlich keinen Wunsch, dass die Kriegs-
calamität ins Unbestimmte verlängert werde. Aber im gegenwärtigen
Augenblick haben die fremden Kriegsschiffe einen wichtigen Hafen*)
genommen und Tientsin ist besetzt worden. Derart befinden sich dort
kriegerische Operationen noch im Fortschritt und was können Euer
Excellenz vorschlagen, um ihnen ein Ende zu machen?
Nachdem Euer Excellenz und die anderen fremden Vertreter
Angelegenheiten zu besprechen haben, die mit der Wiederher-
stellung des Status quo im Zusammenhang stehen, würde es scheinen,
dass eine allgemeine Ordnung der Dinge in Tientsin eher möglich
wäre, und wir möchten daher unser Ersuchen erneuern, dass Sie
ihre Vorbereitungen bald treffen und uns von dem (zur Abreise)
bestimmten Tag in Kenntniss setzen, damit wir Boote und Lebens-
mittel vorbereiten können.«
So durchsichtig dies mit sichtlicher Anstrengung schon-
gefärbte Gewebe auch war, denn Alles machte unwillkürlich den
zutreffenden Vergleich mit Cawnpore,**) so wenig konnte sich die
überwiegende Mehrheit der in die englische Gesandtschaft zurück-
gezogenen Minister entschliessen, gleich die gebührende Antwort
zu geben, zu der ja doch die einzige directe Frage an die Minister
hinreichenden Anlass geboten hätte. Wenn man schon, um Zeit
zu gewinnen, durchaus verhandeln wollte, so eröffnete der Punkt,
was die Minister vorschlagen könnten, um die kriegerischen Opera-
tionen zu beenden, ein weites Feld, um im Rahmen des Mög-
lichen und ohne den unbekannten Absichten der heimatlichen Re-
gierungen zu präjudiciren, directe Forderungen zu stellen, die
jedenfalls auf die Chinesen einen nachhaltigeren Eindruck gemacht
haben würden, als die zwei Tage später abgesendeten, gar zu
farblosen Erwiderungen Sir Claude's.***)
*) Es war Taku gemeint, im ersten Augenblick glaubten jedoch einige Mitgüeder
der Fremdengemeinde Tschifu darunter verstehen zu sollen.
*♦) Im indischen Kriege 1857 zog die decimirte Besatzung Cawnporcs, den Ver-
sprechungen Nana Sahib's trauend, ab und wurde niedergemetzelt.
***) Hinsichtlich des Verlangens, in claris bloss das eigene Wohlbefinden **• ™**
graphiren, lautete die Antwort: Man kann nicht telegraphiren, dass die Fami
349
Die aufgezählten Briefe warfen noch auf mancherlei bisher
unklare Punkte einiges Licht, aber vielleicht trug die allzu ein-
gehende Analyse der Sätze und Worte jener Schriftstücke dazu
bei, in gewissen Kreisen ungerechtfertigte Besorgnisse zu er-
wecken, denn auffalligerweise herrschte an diesem Abend in
»England« eine viel weniger zuversichtliche Stimmung, als man
hätte erwarten dürfen.
Ein Courier sollte nach Einbruch der Dunkelheit abgehen,
es war dies deis erste- und einzigemal, dass von Rosthorn und ich
davon durch M. Pichon erfuhren. In aller Eile setzte ich eine De-
pesche*) an den englischen Consul in Tientsin auf, die der Schreib-
künstler KoUaf auf ein winziges Format reducirte und in einem
chinesischen Schreibpinsel verborgen für die Beförderung vor-
bereitete. Gerade dieser Bote, dem es nach zweimaligen vergeblichen
Versuchen erst am 27. Juli gelang, das Legationsviertel zu ver-
lassen, erreichte leider seinen Bestimmungsort nicht.
Am 26. Juli lieferte der Spion Shiba's wieder Folgendes:
»Am 24. von 10 Uhr vormittags bis Mitternacht Gefecht
zwischen Tsaitsun und Hohsiwu, Chinesen unter General Tschang
erlitten grosse Verluste, mussten sich zurückziehen; am 25. wurden
sie auch aus Hohsiwu geworfen und ungefähr 20 Li (10 Kilometer)
nördlich verfolgt; ihre Verluste wurden mit 1600 Mann angegeben. Die
4800 Mann und 9 Geschütze aus dem Schansi sind am 25. morgens
zur Verstärkung Tschang's abgegangen.« Hienach glaubte man die
Entsatztruppen am 26. abends in Matou vermuthen zu dürfen.
Da das Graben an der Westfront des ehemaligen Minister-
hauses in der französischen Legation nicht aufhörte, das Aufvverfen
sind, denn Frauen und Kinder haben durch die Einschliessung bei der Hitze und durch
den Mangel gewohnter Nahrung in ihrer Gesundheit gelitten. Die Chiffren seien für die
Regierung das einzige Criterium der Authenticität der Depeschen, über die militärische
Lage konnte man ohnedies nichts berichten, weil man nichts wüsste. — Wegen der
Abreise nach Tientsin wurden nur Details über Wagen und Sänften für die Reise
lach Tun g- tschau, deren Erwähnung Prinz Tsching und Genossen vergessen hatten,
ierners über die Escorte verlangt, bevor man weiter discutiren könne. — Dieses Hervor-
jehren von untergeordneten Dingen muss denn doch den chinesischen Politikern zu be-
gannt und mit ihrer eigenen Praxis zu verwandt vorgekommen sein und gerade deshalb
ien Glauben erweckt haben, dass die Minister nicht mehr so fest wie einst ihren ge-
neinsamen Standpunkt vertraten. Die Vertreter einer energischeren Richtung, unter
ienen von Rosthorn war, wurden überstimmt.
*} Wortlaut: »2(). Juni Geschäftsträger, Detachement auf französische Gesandtschaft
lurückgezogen, 21. Juni unsere Legation verbrannt. Täglich Kämpfe. Thomann,
J Mann todt, schwerverwundet ausser Gefahr Boyneburg, 2 Mann. Alle Chiffreschlüssel
»■erbrannt. Winterhaider.« Mehr über die allgemeine Lage anzugeben, schien mir über-
lüssig, da dies ja gleichzeitig und jedenfalls ausführlich von anderer Seite geschah.
350
von Erde jedoch in immer längeren Zeitintervallen erfolgte, so
steigerte sich mein Verdacht, dass dort doch eine Mine gegraben
werde, immer mehr und ich entschloss mich vor dem Fremden-
pavillon eine tiefe Tranch^e ausheben zu lassen, um so eine allen-
fallsige Gallerie zu schneiden. Mit Darcy, Chamot und Mathieu
wurden die Details besprochen und als Vorarbeit noch am Abend
Erdsäcke und Reisigfaschinen an den für den Einstich gewählten
Punkt vor dem Musikkiosk gebracht; da die Chinesen in der Nacht
gegen Geräusche stets sehr misstrauisch waren, wurde der Beginn
der Arbeit auf den kommenden Morgen gesetzt. Nachtsüber fielen
ziemlich viele Schüsse im Norden, Nordwesten und bei uns, auch
hörte man in der Richtung des Peitang Gewehr- und Geschütz-
feuer; einige Franzosen beobachteten das Steigen von Raketen
vom Tchien-men aus und glaubten, zwischen dieser Erscheinung
und der Intensität des Schiessens gegen uns einen merkbaren
Zusammenhang herauszufinden.
Am 27. Juli, 5 Uhr früh, erschien Chamot mit einigen Kulis,
die unter Mathieu's Anleitung mit dem Graben begannen; durch
die improvisirte Deckung gegen Sicht und Gewehrfeuer gedeckt,
erzielten die Arbeiter bald einen solchen Fortschritt, dass die
Chinesen ihnen trotz des lebhafteren Schütz enfeuers nichts mehr
anhaben konnten. Der steinharte Boden bereitete wohl einige
Schwierigkeiten, doch hoben die 5—0 halbverhungerten Kulis bis
zum Abend auf 8 Meter Länge und 1 Meter Breite einen 60 Centi-
meter tiefen Graben aus, so dass nur mehr das Ein- und Aus-
steigen gefährlich war; dabei ergab sich für unsere Schützen
wieder manche Gelegenheit einzugreifen, doch litt die Ostwand
des Fremdenpavillons sehr durch die chinesischen Projectile.
Shiba theilte mit, dass nach seinem Gewährsmann der Hof
die Abreise vorbereite und hiezu schon 200 Wagen requiriren
lasse; Tungtschau werde befestigt, die vereinigten Truppen
Tchang's und Li-Ping-Heng's hätten sich in Tschang-tschia-wan
gesammelt und sonach könnte man — immer unter der Reserve,
dass der Informant die Wahrheit spreche — den Entsatz am
30. Juli erw^arten.
Am Nachmittag erschienen wieder einige Karren mit Obst,
Gemüse, einigen Säcken Mehl und einem Briefe von Prinz Tsching
und Genossen, w^orin sich diese sehr besorgt zeigten, dass uns die
miteingeschlossenen christlichen Chinesen gewiss viele Unannehm-
lichkeiten bereiten würden; da nun Ruhe herrsche, möge man sie
entlassen und anweisen, ihrer gewohnten Beschäftigung ofcoe
»Furcht und Zweifel« nachzugehen, ihre Zahl und den T
351
Entlassung jedoch vorher anzeigen. Ueber diesen Punkt war
natürlich kein Wort zu verlieren, dass wir unsere getreuen Mit-
arbeiter schmählich preisgeben würden, der Gedanke konnte doch
nur im Gehirn nichtswürdiger, scrupelloser Sclavenhälter ent-
standen sein! Die Chinesen chVisten warnten eindringlichst vor dem
Mehl, das wahrscheinlich vergiftet sei, und so wurde es, so knapp
auch gerade dieser Artikel in den Vorräthen der Fremden noch
vertreten war, bei Seite gestellt.*)
Unsere Gegner nahmen es mit dem Einhalten des Waffen-
stillstandes immer weniger genau; ausgenommen auf der Ost- und
Südseite der deutschen Gesandtschaft ging das »Sniping« und die
Arbeit an Barricaden u. dgl. fast gerade so lebhaft her wie
vor dem 17. Juli, das Peitang hatte schon gar keinen Tag Ruhe.
Die Munition der Fremden war schon sehr knapp, den Italienern
hatte ich bereits zwei Gewehre von unseren Gefallenen übergeben
lassen und die Japaner verfügten nur mehr über 25 Patronen
per Mann.
Am 27. Juli spät abends erschien endlich der am 4. ausge-
sendete Bote mit einer vom 22. datirten Antwort Mr. Carels' aus
Tientsin, die am folgenden Morgen am Glockenthurm angeschlagen,
einen dichtgedrängten Leserkreis anzog.
»Auf Ihren Brief vom 4. Juli. Bis jetzt sind 24.000 Mann
Truppen gelandet und 19.000 hier. General Gaselee morgen
in Taku erwartet. Russische Truppen sind in Peitsang. Tientsin
steht unter Regierung der Fremden und die Macht der Boxer ist
hier ganz gebrochen. Viele Truppen sind auf dem Weg, wenn
Ihr Euch nur ,die Nahrung* erhalten könnt. Beinahe alle Damen
haben Tientsin verlassen.«**)
Es kann nicht verschwiegen bleiben, deiss diese Nachricht
allgemeine Enttäuschung verursachte ; abgesehen von der unklaren
Stilisirung der wichtigsten Stellen verschwieg sie jede Andeutung
über den Vormarsch, doch das Interessanteste für uns Empfänger.
Waren die 19.000 Mann in Tientsin in der Zahl der überhaupt
*) Es soll nach dem Entsatz ohne irgend welche schädlichen Folgen aufgezehrt
worden sein; als es ankam, gab's weder Chemikalien, noch »Versuchskaninchen«, um es
auf Gift zu untersuchen.
**) Dies die möglichst wortgetreue Uebersetzung des englischen Originals. Zur
Entschuldigung für Mr. Carels führten seine Freunde an, er habe absichtlich die Wahr-
heit' verschwiegen, dass über den Vormarsch am 22. Juli noch gar kein Beschluss gefasst
gewesen, um die Stimmung der in Peking Eingeschlossenen nicht zu drücken. Ein
schlechter Dienst und ganz aussichtsloses Unternehmen dazu, denn Mr. Carels hätte doch
voraussetzen können, dass der Bote auch über das Gesehene ausgeholt werden und nicht
stumm bleiben würde.
352
Gelandeten inbegriffen, nun so mochte nach allem bisher in Er-
fahrung Gebrachten noch einige Zeit verstreichen, bis sich die
Führer stark genug glaubten, um gegen Peking aufzubrechen;
sollte die Tientsiner Besatzung aber nicht zu den 24.000 Mann
zählen, so erschien ein weiteres Zuwarten kaum erklärlich. Wo
waren die vielen Truppen unterwegs? Zwischen der Heimat und
China oder auf der Route Tientsin — Peking? Der gute Rath, mit
unseren Vorräthen hauszuhalten, war doch recht überflüssig, denn
das war bis jetzt ohnedies beobachtet worden; das glückliche
Schicksal der Damen Tientsins endlich erweckte höchstens nei-
dische Vergleiche.
Der Unmuth machte sich unverhohlen Luft ; »nicht das Leben
eines Kulis werth« — lautete das mildeste Urtheil über die Bot-
schaft. Da wusste der jugendliche Emissär beinahe Wichtigeres,
jedenfalls aber Interessanteres zu berichten und glücklicherweise
entschädigte die Veröffentlichung seiner Erzählung einigermassen
für die mangelhafte Depesche des englischen Consuls.
Der Bote konnte nach einiger Fährlichkeit erst am 5. Juli
morgens aus der Chinesenstadt nach Tungtschau aufbrechen und
erreichte bettelnd Hohsiwu, wo er aber von Bauern volle acht
Tage zur Feldarbeit zurückgehalten wurde ; endlich gelang es
ihm, sich davonzustehlen und am 20. Juli auch eine halbe englische
Meile von Tientsin an russische Vorposten heranzukommen. Die
Schwierigkeit, sich zu verständigen, brachte es mit sich, dass er
einen weiteren Tag verlor, bis endlich ein chinesisch sprechender
Europäer ihn am 21. Juli zu Mr. Carels brachte. Letzterer übergab
ihm tagsdarauf das Schreiben, mit dem er am 26. in der Chinesen-
stadt von Peking ankam ; da das Hatamen geschlossen, musste er sich
bis 27. abends verbergen und schlüpfte dann durch das Canalgitter
herein. Ueber seine Beobachtungen befragt, theilte er mit, dass
am 22. Juli die fremden Truppen ihre Vorposten noch nicht
weiter als Vs — 1 englische Meile über Tientsin hinaus stehen gehabt
hätten. Die Bahnlinie bis Yangtsun sei völlig zerstört, die Schienen
weggeschleppt, die grosse Brücke bei Yangtsun unversehrt.*) Die
chinesischen Streitkräfte wären in Peitsang concentrirt. Im Peiho
und Tungtschau-Canal herrsche Hochwasser, auch sei der Boots-
verkehr spärlich, die meisten Dschunken aufgeholt. Er selbst habe
wenig Boxer angetroffen, jedoch seien alle Dörfer unterwegs
boxerisch organisirt.
Diese Angaben, an deren Richtigkeit vernünftigerweise kein
Zweifel erlaubt war, zerstörten allerdings die bisher nur zu gerne
*) Er hatte offenbar nur von ferne die Pfeiler und Träger gesehen.
^ 353
g-ehegten sanguinischen Hoffnungen auf eine baldige Befreiung
und stempelten den Gewährsmann Shiba's zu dem, was er war:
ein phantasievoller, in der Geschichte des 1860er Krieges recht
Bfut versirter Pensionär der Japaner! Einige um die »Stimmung
der Garnison« Besorgte versuchten zwar die Ehrenrettung unseres
bisherigen Correspondenten aus dem Feindeslager und affichirten
sogar eine recht nett anzusehende, vergleichende graphische Dar-
stellung des vom Boten zurückgelegten Weges und des angeb-
lichen Vormarsches der Alliirten, an der nur das eine nicht recht
klappte, dass der junge Schantung-Chinese zwischen Tsaitsun und
Tientsin alles Mögliche nur keine fremden Truppen gesehen hatte,
aber man wusste ihnen für diesen frommen Täuschungsversuch
keinen Dank.
Shiba hielt sich aus guten Gründen seine Quelle um den
Liebhaberpreis täglicher 25 Dollars offen, denn ab und zu konnte
doch ein Tropfen Wahrheit einsickern.
Die Lage gewann durch diese neuesten zuverlässigen Infor-
mationen nicht an Rosigkeit, aber vom Standpunkte der Magenfrage
konnten wir doch noch ein paar Wochen aushalten und schliesslich
kannten wir zu jener Zeit die Taktik unserer Widersacher — in ihren
diplomatischen Verhandlungen wie in ihrer Kriegführung — doch
schon genügend, um kein Pulver mehr unnütz zu verschiessen.
Nachmittags brachte ein Brief von Tsching und Genossen
als Antwort auf das hinhaltende Schreiben Sir Claude\s vom
27. Juli die erneuerte Aufforderung, doch nach Tientsin abzuziehen,
und die Zusage, dass Alles für die combinirte Land- und Fluss-
reise vorbereitet werden, sowie dass General Sun-Wan-Lin mit aus-
gewählten Truppen, darunter auch solche von Tsching selbst, die
Escorte bilden würde; die Einleitung hatte für das Ohr der
Pessimisten einen ganz beruhigenden Klang. »Bei der gegenwärtigen
Hitze müsse es deprimirend wirken, in der Legation ohne Be-
wegrmg zu verweilen, deshalb sei der Abzug nur mit Rücksicht
auf das bessere Befinden der Gesandten empfohlen worden, durch-
aus nicht aus einem unfreundlichen Gefühl oder dem Mangel an
Geneigtheit, sie dort zu erhalten.«*)
Auf dem Ostflügel trug sich nichts Besonderes zu ; Chamot
verstärkte in der Nacht seine Barricade durch einen Erdautwurf,
da es den Anschein hatte, als ob die Chinesen beim Portale der
französischen Gesandtschaft einen Geschützstand errichteten. Bis
gegen 11 Uhr nachts wurde ziemlich viel geschossen, dann be-
ruhigten sich unsere Gegner aber wieder.
*) OfTenbarc Anspielung auf die zweimaligen Sendungen von Lebensmitteln.
Winterhaider: Kümpfe in China. 23
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Am 29. Juli schienen die uns cernirt haltenden Truppen die
Situation schon etwas monoton zu finden und schössen allgemein
wieder viel lebhafter; leider wurde ein als Dolmetsch sehr brauch-
barer, chinesischer Angestellter Chamot's am Morgen, als er die
Kulis zur Arbeit in unsere Tranch^e brachte, schwer verwundet.
Nachmittags begannen die Chinesen auf der Nordbrücke eine Barri-
cade zu erbauen und diesmal entspann sich wieder ein ganz regel-
rechtes Scharmützel ; trotz Gewehrfeuer von der englischen Gesandt-
schaft und vom Fu aus konnte die Errichtung der chinesischen
Barricade jedoch nicht verhindert werden.
Bei uns bot sich morgens dem französischen Gesandten ein
Tung - Fuhsiang - Soldat zu einem Botengang nach Tientsin und
zurück an, erschien aber, als der Brief zur besprochenen Stunde
fertig war, nicht wieder ; statt seiner kam gegen Abend ein Ueber-
läufer, um uns vor dem Bau einer Mine zu warnen.
Se'ine Einvernahme gestaltete sich sehr schwierig, da er den
Dialect der Provinz Schansi sprach ; endlich wurde man sich klar,
dass die Mine, gegen das Haus Anthouard projectirt, etwa 2V« bis
3 Meter unter der Oberfläche angelegt und augenblicklich schon
ungefähr zehn Schritte weit vorgetrieben sei. Der Mann geberdete
sich sehr aufgeregt, nahm kein Geld und drängte entlassen zu
werden ; er kam späterhin noch einmal, um noch weitere Details
zu geben, und lehnte auch dann irgend eine Entlohnung ab. Trotz
aller Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussage beschlossen wit
doch, die Tranchee weiter nach Norden auszudehnen, so dass
Musikkiosk und das bezeichnete Haus gedeckt würden. — W3'S
die Beweggründe des Warners gewesen, darüber fehlte jed^^
Anhaltspunkt.
Die chinesischen Soldaten, mit denen Shiba trotz des wi<
aufgenommenen Schiessens weitere Beziehungen unterhielt, wide-
sprachen einander auffallig; einer von ihnen sagte aber rui
heraus, dass die fremden Truppen noch immer nicht über Tientsi
hinausgekommen seien — damals hielt man seine Worte für weni — ^
glaubwürdig, aber es w^ar doch nur die volle Wahrheit.
Von der Stadtmauer aus beobachtete man, dass auffallei
viele Karren unter Militärbedeckung beim Tschien-men hereinzogei
doch trug dies nicht zur Klärung unserer Situation bei.
Die am Tag vorher eingelaufene Note von Prinz Tschii
und Genossen w^urde vorläufig noch nicht beantwortet. Die B^
schiessung des Peitang schien wieder besonders lebhaft zu sei —
aber von der vorgeschobensten Barricade auf der Mauer sah
noch immer das Dach und die Giebelfront der Kathedra^^
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Ganzen unversehrt, deren Zustand eingehender zu beurtheilen ge-
statteten auch unsere Ferngläser nicht. Die folgende Nacht ver-
ging äusserst unruhig; entlang dem Canal, auf der Nordseite des
Fu und auf dem Mongolenmarkt hörte das Gewehrfeuer fast gar
nicht mehr auf.
In der französischen Legation, zunächst der von uns »Zenta«-
Leuten gehaltenen Partie schien etwas Besonderes vorbereitet zu
werden; man hörte hämmern, graben, Mauern fallen und dazu
flogen fortwährend Steine herüber, so dass ich endlich von der
Wache ein paar Salven hineinfeuern Hess, was einigermassen be-
ruhigte. Dafür eröffneten die Chinesen eine kurze Fusillade gegen
die französische Tranchee, womit beide Parteien die Sache für
erledigt ansahen; selbst unsere gespannteste Aufmerksamkeit, ob
nicht vielleicht doch ein Geschütz hereingerollt würde, vermochte
nichts Derartiges zu entdecken.
Die Existenz im Fremdenpavillon war gerade nicht *sehr be-
quem ; wohl hatten wir zwei Betten für drei Mann aufgetrieben,
ja zu einem sogar ein Mosquitonetz, und einige altersschwache
Stühle standen auch noch da, hauptsächlich aber nur dazu, um
sich daran die Beine wund zu stossen, denn Licht durfte natürlich
nicht gebrannt werden und ein wenig Helle kam nur durch die
offene Thür herein, alles Andere war verrammelt. Mosquitos und
Ungeziefer aller Art quälten uns entsetzlich, aus Kleidern und
Schuhen kam man übrigens ohnedies nicht heraus, wenn auch
erstere bei der drückenden Hitze auf ein Minimum beschränkt
worden waren; das fortwährende Lauschen — zu sehen gab's
nichts als die uns schon allzu gut bekannten Mauertrümmer und
Barricaden — spannte im höchsten Grade ab, gesprochen wurde
natürlich auch sehr wenig und nur mit gedämpfter Stimme und der
Tröster aller Wartenden, der Tabak, war schon sehr rar geworden.
Da Sassen wir, der wachehabende Officier und einer der
Freiwilligen, Gewehr im Arm hinter der an die Thür angebauten
Barricade, gegen Müdigkeit, Hitze und Ungeziefer kämpfend, stets
mit gespitztem Ohr, alle fünf Minuten nach dem Nachtglase
greifend, um zum tausendsten Male die Löcher in den Mauerresten
zu mustern und jedes Geräusch drüben analysirend. Jede Nacht das
Gleiche, es gehörte einige Anstrengrmg dazu, sich der Apathie zu
erwehren; die Leute bei den Schiesständen waren oft dem Um-
sinken nahe und doch durfte selbstverständlich keiner ein Auge
schliessen, von ihrer Beurtheilungsgabe hing ja Vieles ab, und die
einzige Unterbrechung in diesen langen Wachen bildete für sie
die Ankunft des visitirenden und sie ausfragenden Officiers.
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von Rosthorn hatte seinen nächtlichen Standort im luftigen Musik-
pavillon gewählt, Darcy campirte in einer Hängematte unter den
Bäumen hinter dem Hause Anthouard und in den Zimmern des
letzteren quälten sich die französischen Freiwilligen und Matrosen,
nach schwerem Dienst etwas Ruhe zu finden. Der Mensch gewohnt
sich aber an Vieles und so auch an das Schlafen mit halbem
Ohr; wie oft habe ich selbst todtmüde mit geschlossenen Augen,
ich möchte sagen mit entlastetem Verantwortungsgefühl auf dem
von meinem Ablöser schweissdurchfeuchtet verlassenen Lager
gelegen und in einem Mittelzustand zwischen Schlaf und Träumen
die Frequenz der Schüsse verfolgt — aber nie habe ich mich über
den Augenblick getäuscht, wann es galt, aufzuspringen — in der-
selben Secunde, als KoUaf oder Mayer sich entschloss, mit einem
schrillen Pfiff »alle Mann« an die Stationen zu rufen, hatte auch
mein Gefühl mir gesagt, dass es Zeit wäre!
Gewehr, Patronen und Nachtglas ergreifen war dann Eins
und ich brauchte kaum ein Wort, um mich orientiren zu lassen.
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